2. Erste Jugend

[25] Als ich beinahe zwölf Jahre zählte, wurde mir zum erstenmal das Glück zuteil, eine fast gleichaltrige Genossin zu bekommen.

Eine Schwester meiner Mutter – Tante Lotti hieß sie für mich – kam auf Besuch, begleitet von ihrer einzigen Tochter Elvira. Wir beiden Mädchen entbrannten in Freundschaft zueinander. Ich sage »entbrannten«, denn unsere gegenseitige Zuneigung war eine heftige, und namentlich war es Elvira, die eine wahre Anbetung für mich zeigte.

Tante Lotti war die Witwe eines Sachsen Namens Büschel, seines Zeichens vermögender Privatier und Bücherwurm. Elvira war sozusagen in der väterlichen Bibliothek aufgewachsen. Das Lieblingsfach Büschels war die Philosophie gewesen, und er unterhielt sich mit seiner Kleinen vornehmlich von Hegel, Fichte und Kant. Zur Erholung von so schwerer Kost reichte er ihr Shakespeare. Und als ganz besondere Näscherei Uhland, Körner, Hölderlin. Das Resultat dieser Erziehung war natürlich ein Blaustrümpfchen. Mit acht Jahren hatte Elvira zu dichten angefangen – Lieder, Balladen u. dergl., und als ich sie kennen lernte, hatte sie schon mehrere Dramen in Prosa und ein paar Tragödien in Versen verfaßt. Daß sie die größte Dichterin des Jahrhunderts werden sollte, das stand[25] bei ihr selber, bei Tante Lotti und bei mir fest. Vielleicht wäre sie es geworden, wenn nicht ein früher Tod sie ereilt hätte. Sie hat sich die Anerkennung von großen Kennern erworben – ich nenne nur Grillparzer, der ihre Sachen mit bewunderndem Staunen las und ihr eine große Zukunft prophezeite. In unserem Familienkreis war ihr Genie unbestritten. Und sie besaß jene Eigenschaft, welche die Hälfte des Genies darstellt, nämlich eisernen Fleiß. Jeden Tag verbrachte sie – das Kind – freiwillig drei oder vier Stunden hintereinander am Schreibtisch und schrieb, schrieb, schrieb. Oft hatte sie mehrere Arbeiten auf der Werkstätte – eine Novelle, ein Drama und verschiedene Gedichte dazwischen. Ich erinnere mich der Titel einiger der großen Stücke: »Karl der Sechste« hieß das eine. Ein anderes »Delascar«; dieser Name des Helden (ich glaube, er war Maure) gefiel mir ganz besonders und schien mir schon allein Gewähr des Erfolges. Ob diese Dramen zu Ende geschrieben wurden, erinnere ich mich nicht. Ich weiß, daß ich sie in Gestalt von Plänen kennen lernte – nur einzelne Szenen waren schon fertig, einzelne besonders effektvolle Monologe. Elvira war eine rastlose Feilerin. Wenn sie uns an einem Tage eine große Tirade Delascars vorgelesen hatte, so brachte sie oft am nächsten Tag eine ganz neue Auflage derselben Tirade zu Gehör. Für mich war ihr Zukunftsruhm Dogma. Und sie zweifelte nicht an dem Märchenglück, das mir das Leben bringen mußte, denn wenn sie meine geistige Inferiorität auch zugab (bei mir war ja auch vom Dichten keine Spur – die Leier war mir geradeso fremd wie etwa das Waldhorn), so hatte sie unbegrenzte Bewunderung für meine physischen Vorzüge, für meine weltlichen Talente – ich mußte eine große Dame werden und im Sturme alle Herzen erobern. Wie man sieht, ließen wir es an gegenseitiger Wertschätzung nicht fehlen, und das war der Boden, auf dem sich unsere Freundschaft so mächtig entfaltete.

Für sich hoffte Elvira auf keine gesellschaftlichen Erfolge. Sie war sich ihrer Schüchternheit und ihres Schönheitsmangels bewußt. Klein, mit einem zu großen Kopfe, einem Schillerkopfe, war sie allerdings kein hübsches Mädchen; dazu linkisch in den Bewegungen, hilflos in der Konversation – nein, als Frau würde sie sicherlich niemals gefallen – während sie überzeugt war, eine Ueberzeugung, die ich teilte, daß ich als solche alle möglichen Triumphe feiern werde; aber sie begnügte sich mit der ihr bestimmten Rolle: die Sappho des neunzehnten Jahrhunderts zu werden. Ein bescheidenes Cousinchenpaar, das muß man uns lassen!

Also wir waren Freundinnen und schwuren uns lebenslängliche[26] Treue; Gespielinnen waren wir auch. Aber wer sich dabei vorstellt, daß wir zusammen mit Puppen spielten oder durch Reifen sprangen, wie es unserem Alter geziemt hätte, der würde sich irren. Wir spielten »Puff«. Das war ein von uns erfundenes, von uns selber so benanntes Spiel, an dem wir stundenlang uns zu vergnügen pflegten.

Es bestand darin: Wir führten eine Komödie auf. Elvira übernahm die Rolle des Helden, ich der Heldin. Der Held wechselte immer ab; bald war's ein französischer Marquis, bald ein spanischer Student, oder ein reicher Lord, oder ein junger Marineoffizier, oder ein schon etwas gesetzter Staatsmann, manchmal ein inkognito auftretender König; ich aber stellte immer mich selber vor, die Heldin war immer Berta Kinsky, zumeist sechzehn- oder siebzehnjährig, bei manchen Kombinationen schon etwas ältlich: sagen wir zwei- bis dreiundzwanzig. Die Komödie endete gewöhnlich mit einer Heirat, doch kam es auch vor, daß der Held starb – dann war's eben ein Trauerspiel.

Ehe das Spiel begann, wurde Zeit und Ort der Handlung bestimmt, der Name und die Personsbeschreibung des Helden mußten festgesetzt und dazu eine Situation gegeben werden. Zum Beispiel: Im Jahre 1860 würde Berta als Gast der russischen Gesandtin auf einem Schloß bei Moskau weilen. Der Bruder der Hausfrau, Fürst Alexander Alexandrowitsch Rassumow, ein sehr finsterer und melancholischer Menschenfeind, groß, elegant, schwarz gekleidet, mit unheimlich glühenden Augen, befindet sich unter den Hausgenossen, zeigt sich aber nur selten. Er soll ein großes Unglück durchgemacht (eine dunkle Geschichte von einer falschen Frau, von einem erschossenen Duellgegner – Genaues weiß man nicht) und sich von der Welt zurückgezogen haben. Der Schauplatz stellt den Garten vor, am Rande eines Teiches, auf dem ein paar Schwäne segeln. Ich sitze mit einem Buche in der Hand auf einer Bank unter einer Trauerweide, und aus einer Seitenallee kommt, in tiefes Sinnen versunken – Alexander Alexandrowitsch daher. Jetzt, nachdem das festgesetzt war, konnte das Spiel beginnen, und wir sagten »Puff«. Mit diesem Zauberwort waren wir in die dramatis personae verwandelt – ich in die siebzehnjährige Berta, Elvira in den unheimlichen Russen. Und der Dialog hob an. Wollten wir das Spiel auf einen Augenblick unterbrechen, so sagten wir »Paff« und flugs waren wir wieder die zwei kleinen Cousinen, die sich etwas mitteilten: eine szenische Bemerkung, wie: dieser Bleistift bedeutet eine Pistole, oder auch etwas Privates, das mit dem Spiel in keiner Beziehung[27] stand. Und erst als wieder »Puff« gesprochen war, wurde der Dialog von neuem aufgenommen. Um zu markieren, daß der eine oder die andere Farbe wechselte, hatten wir besondere Zeichen: das leichte, rasche Aufblasen der Wangen bedeutete leises Erröten; das starke und ein paarmal wiederholte Aufblasen stellte vor: mit Purpurröte übergossen; ein schnelles, blitzartiges Herunterziehen des Mundwinkels, das war Erblassen; das Umkehren der ganzen Unterlippe – das war schon geisterhaftes Erbleichen. Der Verlauf des Stückes wurde nicht vorher skizziert, der war der selbsttätigen Entwicklung der Gespräche und Gefühle überlassen, denn wir fühlten wirklich dabei: erwachendes Interesse aneinander, keimende Neigung, und gewöhnlich zum Schluß erglühende Liebe, die zum Lebensbunde führte. So ein dialogisierter Roman dauerte manchmal tagelang; wir konnten ja auch nicht ununterbrochen weiterspielen, da andere Beschäftigungen: Lektionen, Spaziergänge, Mahlzeiten u.s.w. uns riefen. Die Anwesenheit unserer Mütter störte uns nicht immer; wir setzten uns in eine andere Ecke des Zimmers außer Hörweite – sagten »Puff«, und der finstere Alexander oder wie sonst der jeweilige Held hieß, war wieder da. Lieber war uns das Spiel freilich, wenn wir allein waren, denn da konnte der Dialog mit ausdrucksvollen Gesten begleitet, der Affekt durch erhöhte Stimmen ausgedrückt werden. War eine solche Komödie ausgespielt, so mußte wieder ein neuer Held und eine neue Situation ersonnen werden. Nicht immer fiel uns etwas ein; da saßen oder spazierten wir im nüchternen Paffzustande nebeneinander oder plauderten, bis plötzlich die eine oder die andere rief: »Wasatem.« (Abkürzung für: Ich weiß ein Thema.) Schien das vorgeschlagene Thema gut und interessant, dann hieß es »Puff« und die Verwandlung war geschehen.

Ich erinnere mich, daß einmal, als wir in unserer Zimmerecke spielten, die am anderen Ende mit einer Stickerei beschäftigte Tante Lotti ausrief: »Dein Hüsteln gefällt mir aber gar nicht, Elvira! So trocken und so hartnäckig – da muß der Doktor befragt werden ...« Elvira hatte aber damals gar keinen Husten, sondern wir waren seit mehreren Tagen in einem außerordentlich rührenden Puffspiel begriffen, bei welchem der Geliebte ein todgeweihter Brustkranker war.


Ich erwähnte vorhin den schönen Liedergesang meiner Mutter. Dieser Gesang hat in meiner Kindheit und späteren Leben eine große, einflußreiche Rolle gespielt. Meine Mutter betrachtete es stets als eine tragische Verfehlung ihres Lebensberufes, daß sie nicht Opernsängerin geworden war. In ihrer ersten Jugend hatte ein berühmter[28] italienischer Maestro ihre Stimme geprüft und die Versicherung abgegeben, daß seit der Grisi, Pasta und Malibran kein solcher Sopran gehört worden sei, dazu die blendende Erscheinung: kurz die höchsten Triumphe, die reichsten Goldgewinne wären da dem schönen Mädchen erschlossen gewesen, wenn sie die Theaterkarriere ergriffen hätte; dies die Meinung des Maestro, der es auch unternahm, ihr nach der altitalienischen Schule Gesangsunterricht zu erteilen und es unter anderem erreicht hatte, daß sie das Eintrittsrezitativ der Norma mit tragischer und schmetternder Kraft zum Vortrag brachte, wieder zur Beschämung aller Grisis, Pastas und Malibrans. Aber weder meine Großeltern noch »Tante Claudius«, welche meine Mutter zu sich genommen und aufgezogen hatte, wollten vom Theater, das in diesen Zeiten noch als ein Pfuhl der Sünde betrachtet wurde, etwas wissen, und es ist Mamas Normarezitativ niemals auf den Brettern erklungen, aber noch gar oft in meinem Kinderzimmer (in dem unser Klavier stand), und hat sich mir in die Seele geprägt als das Nonplusultra des Frauenheroismus und der Opernkunst. Druidenpriesterin und Mistelzweig, Leidenschaft, Erhabenheit: so stand in meiner Vorstellung das strahlende Normabild, umrauscht von süßestem Melodienzauber, von überirdischer Stimmgewalt. Daß es ihr nicht erlaubt worden war, sich für das Theater auszubilden, empfand meine Mutter bis zu ihrem späten Alter als eine Kränkung, als eine Beraubung an all den Schätzen, die ihr die Natur mit ihren Wundergaben bestimmt hatte. Ja, wenn ich etwa diese Stimme geerbt haben sollte, dann könnte sie vielleicht an der Tochter dieselben versäumten Triumphe erleben; aber für eine Komteß Kinsky wäre ja die Theaterkarriere noch weniger am Platze, als sie für das Fräulein von Körner gewesen wäre, und dem Fritzerl hätte man eine solche Idee nicht einmal erzählen dürfen. In mir selber erwachte auch kein Wunsch danach: meine Zukunft sah ich deutlich vor mir, ward sie doch in den täglichen Puffspielen verzeichnet: Erwachsensein und Einführung in die Welt, zufliegende Herzen und Heiratsanträge, eine Begegnung des Einen, Einzigen, dem auch mein Herz zufliegen würde, weil er der Vornehmste, Schönste, Gescheiteste, Reichste und Edelste von allen wäre. Was er mir bieten würde – und ich ihm auch reichlich zurückzahlen –, das wäre vollkommenes und lebenslängliches Glück.

Es zeigte sich auch bald, daß ich keine Phänomenalstimme besaß, und nur bei solcher hätte meine Mutter das Projekt einer Künstlerlaufbahn für mich ins Auge fassen können, also war weiter keine Rede von dieser Eventualität.[29]

Ob meine Mutter wirklich ein so herrliches Organ besaß, wie es ihr jener Maestro eingeredet, und nebenbei Talent, das konnte ich natürlich nicht beurteilen, aber ich nahm es als Dogma hin; ihr Gesang gefiel mir sehr gut, aber was versteht ein Kind? Wenn ich jetzt zurückdenke, so steigen mir Zweifel auf, denn ihr Repertoire war ein stark dilettantenhaftes. Außer jenem Normarezitativ und dem darauffolgenden Adagio »Casta diva« sang sie nur die allerleichtesten Lieder, deren Auswahl – in meinem heutigen Urteil – auch nicht auf künstlerischen Geschmack schließen lassen. Damals gab es freilich noch keine Wolffschen und Brahmsschen oder gar Richard Straußsche Lieder; aber Stücke, wie: »Du hast Diamanten und Perlen«, »Spanisches Ständchen«, »Blau Aeugelein«, »Gute Nacht du mein herziges Kind«, »Ob sie wohl kommen wird, zu beten auf mein Grab« u. dergl. gehörten doch damals schon in die Gassenhauer- und »Schmachtfetzen«-Kategorie. Sie war keine Pianistin, konnte sich also nicht selber begleiten. Dreimal wöchentlich sang sie eine Stunde lang zur Begleitung meines Klavierlehrers. Brachte dieser ein neues Lied, so ließ sie ihn die Singstimme mitspielen, und das Einstudieren bereitete ihr lange Mühe. Aus alldem schließe ich nachträglich, daß sie keinesfalls ein musikalisches Genie war, und das gehört doch auch dazu, abgesehen von Kraft, Umfang und Wohllaut der Stimme, um eine Pasta, Grisi und Malibran oder Henriette Sontag zu sein. Von den Schicksalen und Siegen dieser gefeierten Sterne erzählte meine Mutter viel; als Unterton klang dann mit, daß sie um die gleichen Erfolge gebracht worden sei, und in meinem Gemüt prägte sich die Vorstellung ein, daß eine große Sängerin eine Art Wunderwesen sei, dem die Mitwelt in Anbetung zu Füßen liegt. Meine liebe Mutter war überhaupt eine etwas schwärmerische, überspannte Natur. Oft gab sie ihren Gefühlen in Gedichten Ausdruck; doch mit diesem Zweig ihrer Talente verband sie keinerlei Ehrgeiz noch Eitelkeit. Sie hielt sich nicht für eine begnadete Dichterin; aber daß sie ein Gesangsstern erster Größe hätte werden können, diese Ueberzeugung verließ sie nie.


Bald konnten wir unsere Puffspiele mit noch mehr Muße führen, Elvira und ich. Unsere beiden Mütter unternahmen im Sommer des Jahres 1855 eine Badereise, und wir beide blieben unter der Obhut einer Gouvernante zurück. Das Ziel der Reise war Wiesbaden gewesen. Dort hatte es den zwei Frauen so gut gefallen, daß sie im Frühsommer des nächsten Jahres wieder dahin gingen, und diesmal – o unbeschreiblicher Jubel – nahmen sie uns mit.[30] Die erste größere Reise im Leben. Bisher war ich nur einige Male auf zwei oder drei Tage nach Wien mitgenommen worden, und das war mir jedesmal ein Fest gewesen; aber jetzt eine wirkliche Reise ins Ausland, ein bevorstehender wochenlanger oder vielleicht monatelanger Aufenthalt in einem berühmten Badeort – es war zu beglückend!

Das Angenehme sollte da übrigens mit dem Nützlichen verbunden werden. Es war nämlich nichts Geringeres beabsichtigt, als der Spielbank eine oder zwei Millionen zu entführen. Tante Lotti hielt sich für eine Hellseherin. Sie hatte stets mit Ahnungen, Träumen, magnetischem Schlaf und ähnlichen Dingen zu tun. Während der Tischrückepidemie war sie auch ein außerordentliches Medium gewesen. Unter ihren Fingern tanzten und sprangen die Tische, dann sogar zentnerschwere Schränke u.s.w. Ich habe es oft selber gesehen, und da ich mit Kette gebildet hatte, so war in meinen Fingerspitzen auch ein so sprühendes »Fluidum« gekommen, daß alles, was ich berührte: Tisch, Zylinderhut des Klavierlehrers und das Klavier selber herumzulaufen begannen. Ich erinnere mich dessen deutlich und könnte daher als Kronzeugin für Tischrücken auftreten, wenn ich nicht gegen die Zeugenschaft eines Kindersinnes mißtrauisch wäre. Es kann ja Einbildung gewesen sein. Doch Tante Lotti ließ über das ganze mystische Gebiet überhaupt keinen Zweifel aufkommen. Nichts konnte sie mehr beleidigen, als wenn man ihre Sehergabe nicht anerkannte. Im übrigen war sie ja eine sehr gescheite, und als Witwe eines Gelehrten, der sie an seinen geistigen Interessen teilnehmen ließ, auch vielseitig gebildete und freidenkende Frau, also konnten ihre mystischen Anwandlungen nicht als kindischer Aberglaube aufgefaßt werden. Es war auch etwas anderes. Sie litt häufig an Krämpfen, sie verfiel leicht in hypnotischen Schlaf, der zu jener Zeit noch nicht so, sondern magnetischer Schlaf hieß, und dessen Visionen als Hellsehen galten. Und so kam es, daß sie jene Erscheinungen, die jenseits ihres normalen Wachens lagen, als eine ihre eigne, besonders mystische Kraft betrachtete, eine in die Zukunft reichende Sehkraft. Während des vorjährigen Aufenthaltes in Wiesbaden hatte sie die Erfahrung gemacht, daß sie, wenn sie die Roulettespielsäle betrat, eine Nummer ahnte und diese Nummer dann gewann. Sie spielte nicht, sie beobachtete dies nur im stillen. Meine Mutter zog es vor, im Trente-et-quarante-Saal dem Spiele zuzusehen, und sie glaubte auch in sich die Gabe wahrzunehmen, zu ahnen, wenn Schwarz gewann; sie spielte gleichfalls nicht, aber von der Reise zurückgekehrt, ging beiden Schwestern die Idee nicht aus dem Kopf, daß es ihnen eigentlich ein leichtes wäre, sich aus den deutschen Banken ein riesiges[31] Vermögen zu holen. Aber leichtsinnig sollte so etwas nicht unternommen werden, und es hieß die Sache erproben. So schaffte sich Tante Lotti ein Säckchen mit 36 Nummern und Zero an, meine Mutter sechs Spiele Karten, und nun wurde systematisch ausprobiert. Tante Lotti versetzte sich durch starres Schauen und intensives Denken in eine Art Trance, bis eine Nummer ihr Hirn durchzuckte. Dann griff Elvira ins Säckchen und zog eine Nummer heraus. Freilich war's nicht jedesmal die geahnte, aber sehr oft eine daneben oder ähnlich. Zum Beispiel die Sehernummer hieß 5 und die gezogene war 6 (daneben) oder 25 (ähnlich), also wurde als Methode festgesetzt, daß von der geahnten Nummer die Transversalen gesetzt würden. Nur Roulettekenner werden mich verstehen, und ich halte es für überflüssig, für andere deutlicher zu werden, da ich durchaus nicht die Absicht habe, für das Spielsystem Tante Lottis Propaganda zu machen. Ueber die Verlust- und Gewinnfälle wurde regelmäßig Buch geführt, und es stellte sich konsequent ein bedeutendes Gewinnresultat heraus. War Selbsttäuschung dabei? Ich weiß es nicht. Die imaginäre Rechnung zeigte aber immer aufgehäufte Riesensummen. Denn es wurde mit kleinen Einsätzen begonnen und so wie das Kapital wuchs, mit dem Einsatz gesteigert, bis es zum Maximum gelangte, und auf diese Art war den Gewinnen gar keine Grenze gesetzt. Arme Spielbanken! Würde man sich begnügen, ihnen eine bis zwei Millionen zu entführen, oder sie ganz zugrunde richten? Das blieb noch dahingestellt. Letzteres wäre allerdings ein moralisches Werk, denn das Spiel ist eine böse Leidenschaft, durch die so viele verlockt und ruiniert werden oder doch an ihr Schaden erleiden, denn es ist ein Laster ... Tante Lotti verachtete das Spiel; es war ihr verhaßt, aber wenn man mit einer solchen Wundergabe ausgestattet war, wäre es da nicht geradezu eine Sünde gewesen, die Schätze nicht zu heben, nach welchen man ja nur die Hand auszustrecken brauchte?

Von den gleichartigen Plänen meiner Mutter hielt Tante Lotti nichts; die war ja keine Hellseherin, keine natürliche Wunderkraft, nur so eine Nachäfferin. Doch es würde sich ja bald zeigen, daß sich nichts erzielen läßt. Aber die Proben meiner Mutter fielen ebenso glänzend aus. Ich selber legte die Karten und trug die Gewinne und Verluste in ein Büchelchen ein. Die Gewinne waren stets so überwiegend, daß die erste Million nach ein paar Wochen erreicht war. »Zufall,« meinte Tante Lotti. Selbsttäuschung? frage ich mich jetzt auch hier. Die Ziffern waren da, und nun brach unter uns ein Plänemachen und Luftschlösserbauen an, daß es eine Art[32] hatte. In der Nähe von Brünn gibt es eine Liechtensteinsche Herrschaft – Eisgrub –, die wir einst auf einer Landpartie gesehen, mit wunderbarem Schloß und Park. Eisgrub würden wir kaufen. Vielleicht würde der Fürst Liechtenstein es nicht hergeben – nun, wenn man nur gehörig überzahlt, kann man alles haben. Es war wunderschön eingerichtet, das Schloß, aber so manches mußte doch geändert werden; zum Beispiel sollte ich ein Zimmer bekommen mit Porzellanwand und Porzellanmöbeln. An diesem Porzellanzimmer habe ich vorwegnehmende Besitzesfreuden erlebt wie an wenig Dingen. Auch die rosa Diamanten in meinem künftigen Schmuckkästchen machten mir Vergnügen. Weiße Diamanten haben ja alle Leute, das rosa Geschmeide würde doch etwas Besonderes sein. Aber nicht nur auf Prunk und Pracht waren unsere Wünsche gerichtet, wir wollten auch Wohltaten in großem Stile üben, d.h. Blindeninstitute, Spitäler u.s.w. bauen; und alle unsere Bekannten und Verwandten, die irgendwie Mangel litten, mit genügenden Kapitalien überraschen. Diese ganzen Zukunftsträume, die zu einer sicheren Erwartung sich verdichtet hatten, gaben mir zu jener Zeit »das Wichtige« ab.

Elvira hielt sich von all diesem Projektemachen fern. Sie legte keinen Wert auf irdische Güter, nur Dichterruhm wollte sie ernten, und ihre Phantasie war ja zu sehr mit ihren Schöpfungen beschäftigt, um sich auch noch mit eitlem Luftschlösserbau zu befassen. Unsere Puffspiele hatten nun einige Modifikationen erlitten. Der Held brauchte jetzt nicht mehr mit Reichtum ausgestattet zu sein, sondern es wurden andere Kombinationen ersonnen. Ein armer stolzer Leutnant, der die angebetete Millionärin, die sich ihm förmlich an den Kopf warf, ausschlug, bis der Anblick ihrer Verzweiflung, die in Schwindsucht auszuarten drohte, ihn zur Nachgiebigkeit rührte.

So kam der Sommer 1856 heran, und die Reise nach Wiesbaden wurde angetreten. Das Betriebskapital von ein paar hundert Gulden trug jede der Millionen-Schützinnen in ihrer Patronentasche (d.h. Portemonnaie), und für das zu erlegende edle Wild waren auch schon die Jagdtaschen, d.h. zwei große Portefeuilles mit Vexierverschluß, in Bereitschaft.

Mein Vormund Fürstenberg ward nicht ins Vertrauen gezogen. Er war ja die personifizierte Korrektheit und Phantasielosigkeit. Alles Abenteuerliche war ihm verhaßt. Schon die Reise an sich hieß er nicht gut. Wenn er erst gewußt hätte, was für närrische Ideen (denn er hätte sie sicher närrisch gefunden) damit verbunden waren, er würde vielleicht ein Veto eingelegt haben. Er versuchte auch von der Fahrt nach dem ausländischen Bade abzureden; besonders[33] daß ich mitgenommen werden sollte, war ihm nicht recht. Ich sollte nicht in meinem Lernen unterbrochen werden, er fand ohnedies, daß meine Erziehung in den wichtigsten Dingen sehr rückständig war, so z.B. war ich in Handarbeiten gar nicht geschickt. Zwar beglückte ich ihn zu jedem Weihnachtsfest und an seinem Namenstage mit gestickten Polstern und Pantoffeln, auf denen es von Rosen und Lilien wimmelte, wenn es nicht zur Abwechslung Katzen- oder Löwenköpfe waren; aber einen rechtschaffenen Strumpf zu stricken war ich nicht imstande, das wußte er und rügte er. Genügend fromm schien ich ihm auch nicht zu sein; den Katechismus wußte ich wohl auswendig und meine erste Kommunion hatte ich gemacht, aber es schien ihm doch nicht, daß ich den rechten Glaubenseifer, die rechte Lust am Kirchenbesuch hatte.

Als Gegenstück zu meinem Vormund Landgraf Fürstenberg besaß meine Cousine ihren Paten, General Graf Huyn. Dieser war auch mit ihrem Vater eng befreundet gewesen und blieb stets um das Wohl und Wehe seines Patenkindes besorgt. Er war mehr als konventionell fromm, er war übertrieben fromm. Mit Elviras Vater hatte er lange Disputationen gepflegt; die Philosophie des protestantischen Gelehrten vertrug sich nur schlecht mit der an Bigotterie grenzenden Religiosität des katholischen Aristokraten, aber diese Divergenz hatte ihrer Freundschaft keinen Eintrag getan. Sie pflegten übrigens ihre theologisch-philosophischen Dispute auf dem Felde tiefsinnigster Spekulation, denn Graf Huyns Frömmigkeit war keine naive, sondern eine schriftgelehrte, und so fanden beide an diesen Dissertationen geistige Anregung.

Elvira mußte ihrem Paten allwöchentlich schreiben und erhielt auch meist Antwort – freundliche Ermahnungen, kleine Predigten. Von ihrem dichterischen Schaffen wußte er, aber war damit nicht einverstanden. Schriftstellerei schien ihm für Frauen höchst unpassend. Tugendhaft und fromm, züchtig und sanft, fleißig, nachgiebig, bescheiden: das sollten die Eigenschaften sein, die sein Patchen Karoline (er nannte sie niemals Elvira) sich anzueignen hätte. Meine Cousine verehrte zwar ihren Paten hoch, aber seine Predigten beherzte sie nicht. Sie, die schon Hegel und Fichte und Kant – ich will nicht sagen verstanden – aber gelesen hatte, war nicht für die Präzepte der Kinderfibel zu haben. Als Tochter und Schülerin eines Philosophen hatte sich bei ihr eine Weltanschauung gebildet, die über den Kreis der Dogmen hinaus einen naturphilosophischen Deismus darstellte.

Auch ich hatte trotz meiner Jugend meinen Geist mit Kant und[34] Descartes genährt, hatte Platons Phädon, hatte Humboldts Kosmos studiert, daneben die Geschichte der Inquisitions- und Religionskriege, und auf die Frage: »Zu welcher Religion bekennst du dich?« würde ich mit meinem damaligen Lieblingsdichter Schiller geantwortet haben: »Zu keiner – aus Religion.« –


Die erste große Reise ... das bringt ein unbeschreiblich süßes Fieber. Bequem wie heute war ja damals das Reisen noch nicht (obwohl die heutige Bequemlichkeit auch noch gar viel zu wünschen übrigläßt); da gab es weder Restaurationswagen, noch Toilettekabinette, noch Schlafwagen; da war so manches Martyrium mit der Fahrt verbunden; aber ich empfand diese doch nur als den Inbegriff von Freude, mehr noch – von Glück.

Unsere Mütter waren bei der Ankunft ganz gerädert; wir zwei Backfische spürten nichts als eitel Wonne. Erst ein Rasttag im Hotel, dann Wohnungssuchen; dann Uebersiedeln in eine Villa an der Straße, die längs des Kurortes in die »Dietenmühle« führt. Von unserem Balkon konnte man die Klänge der Kurmusik hören. Gang in den Kursaal. Eintritt in ein Vestibül. Dann durch einen großen Ballsaal mit Marmorsäulen, dann rechts in die Flucht der Spielzimmer. Kinder wurden da nicht eingelassen; wir beide aber, Elvira mit ihren vierzehn, ich mit meinen hochaufgeschossenen dreizehn Jahren wurden als junge Mädchen angesehen, und die livrierten Pförtner erhoben keine Einsprache. Wir durchwanderten alle vier die zwei Roulette-, die zwei Trente-et-quarante-Salons und die anstoßenden Reunionräume. Das alles war damals nicht so glanzvoll eingerichtet wie jetzt die Spielräume des Kasino in Monte Carlo, sondern es glich mehr dem Innern eines Schlosses. Nachdem wir die Säle gesehen, ging es wieder durch den Ballsaal auf die andere Seite hinaus, auf die Terrasse und in den Park. In der Mitte des Parks liegt ein großer Teich, aus dem ein Springbrunnen steigt und auf dem blendend weiße Schwäne segeln. Die Musik spielt – österreichische Militärmusik aus Mainz – auf der Terrasse, und unter der Terrasse stehen Stühle, Tische, und ein zahlreiches, elegantes Publikum sieht man da sitzen, stehen, auf und ab gehen. Viele Uniformen darunter. Die preußische und die österreichische Festungsgarnison und auch das nassauische Militär sind da zahlreich vertreten. Noch vom vorigen Jahr her hatten unsere Mütter ein paar Bekannte hier – unter anderen einen nassauischen Hofwürdenträger mit Frau, und zufällig waren diese am ersten Tage anwesend, und so war gleich ein geselliger Verkehr angeknüpft, was übrigens unseren Müttern[35] gar nicht recht war. Sie waren für eine viel zu ernste Arbeit hergekommen, um sich der Geselligkeit hinzugeben. Allein die Vormittage würden sie frei sein – das Kurpublikum versammelte sich doch erst zur Nachmittagsmusik, und vielleicht war es sogar besser, sich von den hernehmenden Ahnungsanstrengungen mitunter zu zerstreuen.

Ein sehr hochgewachsener Jüngling in Kadettenuniform kam auf unsere Gruppe zu – es war ein Neffe des nassauischen Hofmarschalls und bat, vorgestellt zu werden – Baron Friedrich von Hadeln. Der junge Mann salutierte respektvoll zuerst die älteren Damen, dann ebenso respektvoll uns zwei. Wir dankten huldvoll; also wirklich, so waren wir schon richtige junge Damen.

Friedrich von Hadeln, er mochte achtzehn Jahre alt sein, hatte auffallend edle Züge – eine Art Römerkopf. Er sprach sehr lebhaft, indem er sich besonders an uns beide wandte. Elvira konnte ihre Schüchternheit nicht überwinden und sie blieb schweigsam. Mir kamen die Konversationsübungen des Puffspiels zu gute und ich ließ mich in ein lebhaftes Gespräch ein.

Schon am folgenden Tage begann die Hauptaktion. Tante Lotti begab sich zum Roulettetisch und gewann. Während sie im Spielsaal war, blieben wir zwei Mädchen unter der Obhut meiner Mutter draußen auf der Terrasse. Und als dann meine Mutter ihrer ernsten Aufgabe oblag – die ersten Tage ebenfalls mit Gewinn – übernahm Tante Lotti unsere Ueberwachung. Meine Jugend spielte in einer Zeit, da ein Mädchen aus gutem Hause nicht eine Viertelstunde unbewacht bleiben durfte. Zehn Schritte allein über die Gasse – das durfte nicht vorkommen; damit wäre man, wenn nicht verloren, so doch heillos kompromittiert gewesen. Die Gardedamenschaft, aus der sich die heutige weibliche Jugend mit dem Rade, mit dem Tennisrakett und überhaupt mit der ganzen veränderten Anschauung herausgeflüchtet hat, war damals im höchsten Schwung.

Das aufblühende Millionengeschäft (jede hatte schon das Betriebskapital verdoppelt) ward nur am Vormittag betrieben; der Nachmittag wurde bei der Kurmusik und mit Spaziergängen zur Dietenmühle oder zur griechischen Kapelle ausgefüllt, und sehr häufig schloß der junge Hadeln sich uns an. In der Villa neben uns wohnte eine englische Familie – Sir and Lady Tancred – mit einer siebzehnjährigen Tochter Namens Lucy. In diese vernarrte sich meine Cousine heftig, aber die kleine Engländerin zog mich vor. Ich erinnere mich eines Besuches, den die Familie Tancred bei uns[36] abstattete, wobei die Mutter, die übrigens hoch in gesegneten Umständen war, sich ans Klavier setzte und eine englische Ballade sang. Die Dame, die vier- bis fünfunddreißig Jahre alt sein mochte, schien uns ungeheuer bejahrt, und die Erinnerung an ihre Gesangsproduktion blieb uns jahrelang als eine furchtbar komische Episode im Gedächtnis. Freilich sang sie auch ohne Stimme und mit dem übertriebenen englischen Tonfall, der an sich so unharmonisch ist. Das Lachen zu verbeißen hat uns damals eine unsägliche Anstrengung gekostet, und jahrelang blieb es in unserem Kreise eine beliebte komische Produktion, wenn ich mich ans Klavier setzte, als Lady Tancred sang: Oh – remembrance will come and remembrance will go – oh!

Jeden Mittwoch war im großen Ballsaal des Kurhauses Ball – aber zu diesem kam sehr gemischtes Publikum; jeden Samstag hingegen fand in den kleinen Sälen eine »Réunion dansante« statt, zu welcher man sich Einladungskarten verschaffen mußte und wo nur die Elite der Fremden und die Spitzen der einheimischen Gesellschaft sich zusammenfanden. Zu einer solchen Reunion wollte Lady Tancred ihre Tochter führen. Unseren Müttern wurde zugeredet, auch zu kommen und uns mitzunehmen. »Lächerlich,« meinten sie, »solche Kinder auf einen Ball von Erwachsenen! Das geht nicht.« Aber Tancreds baten so lange und wir flehten so dringend, bis die Skrupel wichen. Wurden wir denn überhaupt hier als Kinder behandelt? Führte man uns nicht in den Kursaal, zur Parkmusik, verkehrten nicht alle Leute, besonders die jungen Herren, wie mit Erwachsenen mit uns? Also denn in Gottes Namen – diese kleinen Reunions sind ja auch keine formellen Bälle, und wenn's den Kindern gar so große Freude macht ...

Unterdessen war das große Unternehmen etwas zurückgegangen. Der Gewinn war wieder weg. Es war irgendein Mißgriff geschehen, vor dem man sich in Zukunft hüten werde – es ist doch hier anders als zu Hause – man läßt sich hinreißen und spielt neben dem System, so etwas dürfe nicht mehr vorkommen. Es hieß jetzt zuerst ein paar Tage rasten und dann wieder von vorn anfangen und streng bei den Regeln bleiben.

Die Vorbereitungen zur Reunion wurden getroffen. Duftige weiße Kleider sollten wir tragen, und als Aufputz – die Idee war von uns Kindern: einen Kranz von Kornblumen im Haar, eine Girlande von Kornblumen um den Taillenausschnitt und den Doppelrock des Kleides mit Kornblumensträußchen gerafft. In der Nebenvilla hauste ein Kunstgärtner: bei diesem wurde die Bestellung gemacht.[37] Ich weiß noch, wie mir zumute war in dem Glashaus, wo der Gärtner unsere Befehle entgegennahm; wie feucht und warm es da duftete, wie rings die roten und weißen und gelben Blumen Farben sprühten – das Blau eines Häufleins Kornblumen aber am lieblichsten unter all dem bunten Blütenwerk. Würden wir nicht wie Feldelfen aussehen, so frisch und anspruchslos und poetisch? ... Und das im leuchtenden Ballsaal! Aufsehen würden wir machen, und selig waren wir – selig, wie es nur dumme Mädels vor ihrem ersten Ball – auf den sie eigentlich noch keinen rechten Anspruch hatten – nur sein können. Aber waren wir nicht überhaupt Ausnahmsgeschöpfe, zu Ausnahmsschicksalen geboren? Sollte es mit der Millionenfabrik auch schief gehen, was lag dran? Die Kornblumen würden origineller schmücken als Diamanten, und das Glück lag ja nicht in der Außenwelt und ihren Schätzen; es lag in uns, in unserem lebensfrohen Jugendgefühl, in unserer – daß ich's nur sage – maßlosen Eitelkeit. Die eine, die größte Dramendichterin der Zukunft, die andere, wenn nichts anderes, so doch eine gefeierte Schönheit ... O, die dummen, dummen Mädels!

Der große Tag kam heran. Der Gärtner lieferte pünktlich seine Gewinde; sie wurden auf den Kleidern und im Haar befestigt; es sah wirklich hübsch aus, wenn auch nicht so überirdisch wie in unseren Augen. Noch bei Tageslicht – es war ja Juni und die Anfangsstunde der Reunion war acht – stiegen wir, jede mit ihrer Mama, in zwei Wagen – in einem wären unsere Toiletten zu stark verknüllt worden – und kamen klopfenden Herzens beim Kursaal an. Beim Eintritt in die hellerleuchteten Salons sahen wir in den wandhohen Spiegeln unser Bild und konstatierten die Tatsache, daß die Kornblumen nicht mehr blau, sondern lila erschienen. Das tat der Originalität des Blumenschmuckes übrigens keinen Eintrag.

Viele Bekannte trafen wir an, und neue ließen sich vorstellen. Friedrich von Hadeln erbat sich die erste Quadrille von mir. Ich glaubte zu bemerken, daß über Elvirens Gesicht ein Schatten von Kränkung flog. Als Visavis in dieser ersten Quadrille meines Lebens tanzte Hadelns ältere Schwester Franziska. Als mir der Bruder sagte, Franziska sei dreiundzwanzig Jahre alt, so staunte ich, wie ein so bejahrtes Fräulein noch tanzen mochte, und ich fühlte Mitleid für sie.

Unter den nassauischen Offizieren, die sich meiner Mutter und mir vorstellen ließen, befand sich ein Prinz Philipp Wittgenstein, der, soviel ich mich erinnere, mir auffallend huldigte. Sollte ein lebendiges Puffspiel schon an diesem ersten Abend beginnen? Doch[38] nicht, denn der junge Leutnant gefiel mir nicht besonders, und so viel Verstand hatte ich doch, einzusehen, daß ich noch etwas zu jung zum Heiraten war. Tatsache aber ist, daß acht Tage später, anläßlich der zweiten Reunion, Prinz Philipp Wittgenstein bei mei ner Mutter in aller Form um meine Hand anhielt.

Meine Mutter lachte: »Das Kind ist dreizehn Jahre alt – unter diesen Umständen werden Sie mir einen Korb nicht übelnehmen.« Daraufhin zog sich der Bewerber zurück. Mir war die Sache ein angenehmer kleiner Triumph, doch nahm ich sie mir nicht zu Herzen.

Der Aufenthalt in Wiesbaden zog sich bis in den Herbst hinaus und endete mit der Einsicht, daß man die Bank nicht so leicht ruinieren kann – eher sich selber. Nach schwankendem Glück und Unglück wurde das mitgebrachte Kapital angebracht, eine zweite Nachsendung ebenfalls verloren, und das Schloß Eisgrub bei Brünn und die rosa Diamanten fielen ins Wasser.

An ihren Wundergaben zweifelten darum die beiden Frauen nicht; sie gaben nur zu, daß die Aufregung des wirklichen Spieles diese Gabe paralysiert; daß man wohl zu Hause hellsehend sein kann, am grünen Tische aber, wo das echte Gold ausbezahlt oder von dem erbarmungslosen Rechen eingezogen wird, diese magnetische Kraft zu wirken aufhört. Es war schmerzlich, dem schönen Traum zu entsagen – aber gegen die Tatsache des »Fiasko« ließ sich nichts einwenden, und so ward die Sache aufgegeben; wir kehrten in die Heimat zurück, an Geld etwas ärmer, an Erfahrung reicher. Die beiden Mütter waren sehr nieder geschlagen, die Töchter aber über die Reise und die genossenen Unterhaltungen des Badelebens entzückt. An diesen Erinnerungen würden wir lange zehren können.


Jetzt übersiedelten wir von Brünn nach Wien. Mit der Geselligkeit war es vorbei. Wir wurden, wie es unserem Alter geziemte, wieder in das Schulzimmer relegiert. Ich oblag mit verdoppeltem Fleiß meinen Sprach- und Klavierstudien und machte Exzerpte aus dem Konversationslexikon von Brockhaus. Die Puffpartien wurden etwas selten, denn Elvira wohnte mit ihrer Mutter in einem entfernten Viertel, und wir kamen nur ein- bis zweimal wöchentlich zusammen. Sie setzte fort zu dichten. »Delascar«, der durch die Wiesbadener Reise unterbrochen worden, wurde jetzt gefeilt und fertiggestellt. Dann entstand ein Lustspiel »Der Briefträger« und eine Balladenfolge, an deren Gesamttitel ich mich nicht erinnere.

Die junge Dichterin wollte sich Urteile von Sachverständigen[39] einholen und schickte ihre Manuskripte an Joseph von Weilen, dessen Drama im Burgtheater damals viel Erfolg hatte, und an den Lustspieldichter Feldmann. Sie verstieg sich aber noch höher. Sie wandte sich an Grillparzer, der auf der Höhe seines Ruhmes stand, an Marie von Ebner-Eschenbach, deren Stern damals aufzugehen begann.

Diese beiden sind gekommen, Elvira zu besuchen, und zwar in unsrer Wohnung. Ich sehe noch im Geiste den alten, etwas mürrischen Grillparzer, wie er, ermüdet vom Stiegensteigen, in unser Zimmer trat. Er unterhielt sich lebhaft mit Elvira, redete ihr zu, fleißig weiterzuschreiben, sie könne es zu etwas Bedeutendem bringen. Und die junge Marie Ebner – sie zählte damals achtundzwanzig Jahre – war gleichfalls gekommen, Elvirens Besuch zu erwidern und ihr Urteil abzugeben. Auch dieses war, glaube ich, günstig. Ich kann mich leider an die Einzelheiten dieser interessanten Besuche nicht erinnern. Es ist mir nur der Eindruck haften geblieben, als hätte Frau Ebner damals ein besonderes Gefallen an mir, die ich ja da nur Nebenperson war, gefunden. Später auch, wenn sie mit Elvira korrespondierte oder mit ihr zusammenkam, erkundigte sie sich stets mit Sympathie um die schöne (sie sagte »schöne«, ich kann nichts dafür, und nach nahezu einem halben Jahrhundert ist es erlaubt, das entschwundene Prädikat zu vindizieren) Komteß Kinsky.

Soll ich hier eine Personenbeschreibung einschalten und sagen, wie ich mit fünfzehn Jahren aussah? Warum nicht? Also ... eine unwahrscheinliche Fülle von Haaren, blendend weiße Mauszähne ... Genug, ich höre doch lieber auf. Dieses Selbstschmeicheln, wenn es auch bis in die graue Vorzeit zurückdatiert, klingt mir zu dumm.

Eines Tages, es war zu Anfang des Jahres 1858, trat mein Vormund ganz blaß bei uns ein:

»Wißt ihr die Nachricht?«

»Was ist geschehen?« rief meine Mutter. »Sie sind ja ganz verstört!«

»Radetzky ist tot!«

Ich erinnere mich, daß mir die Nachricht den Eindruck gemacht, als sei eine der düstersten Weltkatastrophen eingetreten – der große Feldmarschall nicht mehr! Ich wußte ja, welchen Kultus Fritzerl für ihn hegte und wie schmerzlich ihn dieser Verlust treffen mußte. Freilich war Radetzky schon zweiundneunzig Jahre alt, aber ebendeshalb schien es, als sollte er überhaupt nicht sterben oder als wäre er doch wenigstens vorbestimmt, hundert Jahre alt zu werden.[40] Jedenfalls war die Welt und namentlich Oesterreich um einen Besitzesschatz ärmer. Ein solcher Held! Eine solche Halbgottgestalt! Meine Bewunderung für soldatischen Ruhm war eine andachtsvolle. Etwas Militärfrommeres als mich gab's ja nicht. Wäre damals jemand auf die Idee gekommen, ein Buch mit einem so frevelhaften Titel wie: »Die Waffen nieder!« zu schreiben, ich hätte den Autor tief verachtet. Elvira war nicht anders. Der Tod Radetzkys brachte sofort ihre Muse in schmerzlichen Aufruhr. Noch am selben Tag entstand ein langes Gedicht. Ein poetischer Kranz von allerlei Pflanzen und Blumen, auf das Grab des Siegers von Custoza zu legen: Rosen, Immortellen, Pensees, vornehmlich aber Lorbeer, eine Strophe für jedes Gewächs.

Sie brachte uns mit Stolz und Rührung dies Gedicht zu Gehör. Sie weinte, ich weinte, Tante Lotti entschied:

»Das mußt du morgen dem Paten Huyn schicken und ihn um sein Urteil bitten.«

Das Manuskript ging tags darauf nach Galizien ab, wo damals General Huyn in Garnison war. Die Antwort traf nach einiger Zeit ein und zwar auch in Versen. Das vergilbte Blatt ist in meinem Besitz, und ich will es hier reproduzieren. Nicht daß ihm literarischer Wert innewohnte, aber es bietet eine Illustration für den frommen Sinn, der den Schreiber so auffallend charakterisierte:


Stanislau, 18. Februar 1858.


An Karoline.


Viel Verse hast du mir gesandt,

Die soll ich ernstlich richten,

In Prosa war ich oft gewandt,

Nicht ebenso im Dichten.


Doch dacht' ich mir in meinem Sinn,

Soll ich verständlich bleiben,

Muß ich der kleinen Dichterin

Wohl auch in Versen schreiben.


Und schwinge, weil ich schon muß,

Wie in vergangenen Tagen,

Mich nochmal auf den Pegasus,

Die Meinung dir zu sagen.


Die Blumen voll von Liebesglut,

Sie sprechen ziemlich weise,

Doch was sie sagen, stimmt nicht gut

Zum Bild von jenem Greise.[41]


Auf eines auch vergessen war,

Ich kann dir's nicht verzeihen,

Das überall, auch dort, sogar

Recht üppig mag gedeihen.


Die Dornen sind es, Karolin',

Die sich ins Leben winden,

Die immer sich – o! sinn' –

Und allerorts sich finden.


Der Herr gab sie dem Leben mit

In Form von allen Leiden,

Daß hoffend man nach Jenseits sieht,

Froh, von der Welt zu scheiden.


Die Dornenblume sicher sprach:

»Du glücklich alter Krieger,

Es juble dir die Welt nur nach!

Zum Schluß blieb ich der Sieger.


An dieses Helden Wanderziel

Will ich zur Warnung stehen,

Für Menschen, die dem Ruhm, zu viel

Dem Lob entgegensehen.


Ein Mahnruf will ich allen sein,

Die dieses Grab betrachten,

Daß Menschenlob und äußrer Schein

Noch niemand glücklich machten.«


* * *


Es sieht die Welt den Menschen an,

Getäuscht von äußrem Glanze,

Der höh're Richter tritt heran –

Nur Er – Er sieht das Ganze.


So wird zum ernsten strengen Recht,

Zum letzten Urteil gehen

Der Kaiser, wie der ärmste Knecht,

Und dort – um Gnade flehen.


Die Toten freut kein Lobgesang,

Nicht eitle Ruhmesrede;

Was nützet sie dein Sing und Sang?

Sie brauchen dein Gebete.


So hoch hat nur ein Gott, mein Kind,

Des Menschen Geist erhoben:

»Daß wir vereint mit jenen sind,

Die uns vorangezogen.«[42]


Sie rufen, die im Christentum

Vor uns dahingeschieden:

»Nicht draußen, in dem Weltenruhm,

Im Herzen such den Frieden!«


Glaub mir, das ist ein wahrer Satz:

Bei unsern Christenleichen

Ist nichts so wenig wohl am Platz

Als all die Lobeszeichen.


Zeig mehr in deinem Lobgedicht,

Wie auch bei aller Größe,

Da liegt im Grab ein armer Wicht,

Jetzt nackt, in aller Blöße,


Der selbst ein sünd'ger Erdensohn,

Entkleidet aller Ehren,

Kann zitternd nun vor Gottes Thron

Nur dein Gebet begehren.


Drum sei, zum schönen Ruhmeskranz

Von Lorbeer und von Immortelle,

Den du gepflanzt in vollem Glanz

An Marschalls Grabesstelle


Noch eine Blume fromm und still,

Die uns von Schmerz erzählet,

Die unser Herz erheben will,

Die Passiflora sei gewählet.


Des Kreuzes Zeichen sie hinstellt

Zum Grab bei Morgenröte,

Wenn Lorbeer ruft: »Hier ruht ein Held!«

Mahnt diese zum Gebete.


J. K. H.


So der General vom Feldmarschall. Weihwedel und Säbel!

Elvira war nicht erbaut; sie hatte für ihren martialischen Hymnus mehr Anerkennung erhofft.

Den Sommer desselben Jahres brachten wir auf dem Schlosse Teikowitz zu, dem mährischen Besitz des Landgrafen Fürstenberg. Er selber war nicht dort, er hatte uns nur gastlich das Schloß zur Verfügung gestellt. Tante Lotti und Elvira waren auch eingeladen. Sonst waren keine Gäste da, Nachbarbesuche wurden nicht getauscht, also brachten wir vier Frauen diesen Sommer in wirklich stiller, ländlicher Abgeschiedenheit zu. Der schöne blumenreiche Park, der nahe Wald boten frohen Naturgenuß. Elvira dichtete fleißiger als[43] je, ich betrieb viel Lektüre und Klavierspiel. Wir zwei schlossen uns immer enger aneinander – tauschten Schwüre, uns die Freundschaft bis zum Lebensende zu wahren. Die Mütter langweilten sich ein wenig, scheint es, denn sie nahmen zum Zeitvertreib wieder die Proben auf, ob das Ahnungsvermögen noch wirkte. Wieder wurden Nummern gezogen und Trente-et-quarante-Karten gelegt, »aber nur zum Spaß,« sagten sie. Es war ja erwiesen, daß die Atmosphäre des Spielsaales die Fähigkeit des Erratens, auch wenn sie zu Hause noch so gut erprobt war, aufhob, also würde man die großen Projekte und Pläne nicht wieder aufkommen lassen. Aber interessant wäre es doch zu konstatieren, ob durch den Aufenthalt bei der echten Bank jene Fähigkeit ganz vernichtet worden sei, oder ob sie in der Ruhe des nur fingierten Spielens sich wieder einstellen würde.

Und siehe da, sie stellte sich wieder ein. Nicht ganz so glänzend wie früher, aber doch genügend, um große imaginäre Gewinne zu erzielen. Sollte man es vielleicht doch noch einmal riskieren? Vielleicht war man ein zweites Mal gegen die dortige »Agitation« abgehärtet? Aber nein, das wäre Leichtsinn. Zudem ist ja das Spiel etwas Hassenswertes, gewährte wirklich gar kein Vergnügen ... also nicht dran denken, wieder in die deutschen Bäder zu fahren! Aber hier in Teikowitz war es doch ebenso unschuldig als interessant, jene mystische Gewalt zu erproben ... Elvira, die bei der Partie als Nummernzieherin amtierte, redete öfters zu, man solle doch wieder nach Wiesbaden reisen, wenn nicht dieses Jahr, so doch im nächsten. Ueberhaupt, das war der Traum ihres Lebens, Wiesbaden wiedersehen – es sei dort so göttlich schön gewesen.


Vor mir liegt ein altes Album, das meiner Cousine gehörte und das ich aus ihrem Nachlaß erhalten habe. Auf den ersten Blättern dieses Stammbuches finden sich Eintragungen, worin sich ein Romankapitel spiegelt, das sich zwischen uns Mädchen abgespielt hat.

Auf der ersten Seite zeigt ein kleines gemaltes Porträt meine Mutter, die Geberin des Albums: »Deine Dich liebende Tante Sophie, 2. Mai 1857.« Dann kommen einige eingetrocknete Blümchen und Stammbuchverse von verschiedenen Freunden und Bekannten, geistvolle Inschriften in der Gattung von »S. N. D. nie unsre Freundschaft«.

Und nun beginnt der Roman:[44]


»Um Himmels Gottes willen!

Bertha Kinsky

Past!

8th July:

Remember that day. The 3rd friendship was sworn, the 8th you have proved it.«


Und auf dem nächsten Blatt:


»Thank you!!

(Getrockneter Birkenzweig)

Not past any more! These leaves are the witnesses of its ceasing to be past.

Taikowitz, the 19th July 1858.«


Nachfolgend die Lösung dieser rätselhaften Inschriften:

Eines Tages kam ich in Elviras Zimmer und fand sie, wie sehr oft, an ihrem Schreibtisch sitzend. Ich trat hinzu und sah, wie sie hastig das Heft bedeckte, worin sie eben geschrieben.

»Warum hast du das Heft versteckt?«

»Ich?« und ward mit Feuerröte übergossen.

»Zeig es mir ...«

»Nein, nein ...«

»Hast du vor mir Geheimnisse? Soll das Freundschaft sein?«

»Du würdest mich auslachen, mich verhöhnen!«

»Verhöhnen, ich dich! Und so denkst du von meiner Freundschaft?«

»Das Heft enthält Liebeslieder.«

»Nun, die schreibt wohl jeder Dichter, da gibt's doch nichts zum Lachen. Im Gegenteil, ich finde immer, du schreibst zu viele Balladen, nichts, was persönlich klingt. Lies mir doch so ein Liebeslied vor.«

Sie zog das Heft hervor:

»Nun gut, du sollst das erste hören, im ganzen sind es zehn.«

Sie las. Es waren glühende Strophen. Nicht etwa, wie sie manche unserer modernen jungen Mädchen drucken lassen – keine erotischen Vulkanausbrüche, aber im Rahmen des Erlaubten, des biedermännisch Erlaubten, hingebend schwärmerische Herzensergüsse. Ich fand es wunderschön.

»Das mußt du an Grillparzer schicken.«

»Nein, diese Gedichte darf kein Fremder jemals erblicken – meine Liebe ist mein Geheimnis.«

»Deine Liebe? Das ist ja doch nur Poesie, wir sehen ja niemand[45] als den alten Schullehrer und den Pfarrer – deine Verse richten sich an ein Ideal ...«

»Mein Ideal lebt – sieh her!«

Sie schob mir das Heft hin und zeigte auf das Schlußgedicht. Die vorletzte Zeile – den Text habe ich leider vergessen – endete mit dem Worte »adeln« und die letzte lautete:

»Weil ich dich liebe, Friedrich zu Hadeln.«

»Um Himmels Gottes willen!« schrie ich auf. Es hatte mir einen Schlag versetzt. Da war das Wunder vor mir. Eine wirkliche lebendige Liebe für einen wirklichen lebendigen Gegenstand. Elvira schien mir verwandelt, und das Erinnerungsbild des nassauischen Fähnrichs trat mir jetzt auch zauberumflossen vor die Seele. In der Tat, ja, er war schön, und sicherlich in seinem Wesen lag die Macht, die Gefühle derer zu »adeln«, die ihn zu verstehen und zu lieben gelernt, den holden Friedrich von Hadeln.

Um es kurz zu fassen: in einigen Tagen »liebte« auch ich. Ich ließ mir von Elvira vorschwärmen und vorerzählen, was ihr so sehr an ihm gefallen und was sie die ganze Zeit mit dieser verborgenen Leidenschaft im Herzen empfunden habe; ich rief mir die Züge des so glühend Bewunderten ins Gedächtnis zurück, und bald konnte ich nicht begreifen, daß ich mich nicht auch damals schon verliebt hatte – jetzt, jetzt fing es auch in meinem Herzen zu brennen an. Ich erinnere mich genau, wie es einmal deutlich über mich kam, das Bewußtsein, daß ich ebenso verliebt war in den unwiderstehlichen Friedrich. Nachts hatte mir lebhaft von Wiesbaden geträumt. Wieder tanzte ich mit dem Fähnrich Quadrille, seine ältliche Schwester vis-à-vis – ich fühle den Druck seiner Hand bei der Chaîne anglaise und höre den Ton seiner Stimme. Am Morgen beim Erwachen hatte ich die Empfindung, daß etwas Neues, Reiches, Warmes, Beglückendes die Seele überflutete. Was war das nur? Ein paar Sekunden lang hatte ich auf diese Frage keine Antwort, dann aber, mit der Erinnerung an den Traum, wußte ich, was es war: Liebe.

Ich erzähle das, weil mir diese Empfindung so deutlich im Gedächtnis eingeprägt blieb, daß ich daraus eine Erfahrung geschöpft, die vielleicht nicht jeder gemacht oder nicht jeder im Gedächtnis behalten hat – daß nämlich in der Jugend das Verliebtsein wie etwas Elementares und wie etwas sozusagen Stoffliches, Neuvorhandenes einem angeflogen kommt und dann als Besitz, als Schatz mit sich herumgetragen wird. Wenn's auch eine unglückliche Liebe ist, so fühlt man sich durch dieses Unglück selbst bereichert, gehoben, verwandelt.[46] Es mag ein Leiden sein, aber ein Leiden, das unsäglich süßer ist als alle bisher gekannte Freude. Daß meine Liebe eine unglückliche, ja eine tragische war, dessen war ich mir nicht ohne Stolz bewußt. Das Humoristische an der ganzen Sache ist mir erst viel später klar geworden. Damals sah ich nur die furchtbare Situation – ich liebte denselben Mann, für den meine Herzensfreundin entbrannt war, also liebte ich hoffnungslos.

Sollte ich mich ihr anvertrauen oder mein furchtbares Geheimnis in tiefster Seele verschließen? Ich entschloß mich für das erstere. Ich hatte ihr zu bittere Vorwürfe gemacht, daß sie mir gegenüber so lange geschwiegen, und wir hatten dann das Versprechen getauscht, uns fortan alles, alles anzuvertrauen. Ich war ihr also ein Geständnis schuldig, und ich machte es in der Form, daß ich auf das Albumblatt das Klagewort Past! Vorbei! eintrug. Jetzt aber zeigte sich Elvira in ihrer ganzen Größe. Sie sagte: »Meine Freundschaft soll nicht nur geschworen, sie soll auch bewiesen werden ... Ich trete zurück, ich verzichte ... Friedrich von Hadeln sei dein.« Und ich konnte in das Album eintragen – am 8. Juli hast du die Freundschaft bewiesen. Eine Zeitlang zögerte ich, das opfermütige Geschenk anzunehmen, aber kurz darauf scheine ich nachgegeben zu haben, da ich unterm 13. Juli schon registrieren konnte, daß es nicht mehr vorbei sei.

»Du bist schön, du bist glänzend – durch die Gabe deiner Hand wird er tausendmal glücklicher werden als durch mich Unscheinbare – darum verzichte ich, nicht nur dir, sondern auch ihm zuliebe.« Solche und ähnliche Gründe führte sie an, und ich ergriff Besitz des mir so edel überlassenen Objektes. So sehr Besitz, daß fortan unsere Puffspiele eine neue Gestalt annahmen. Ich blieb die Heldin, aber der Held trat nicht mehr in verschiedenen Rollen auf, es war stets und immer wieder Friedrich von Hadeln, nur in verschiedenen Situationen. Das Lustigste an diesem Backfischroman ist das, daß wir im folgenden Sommer wirklich wieder nach Wiesbaden reisten, daß wir dort mit Ihm zusammenkamen, und daß er keiner von uns beiden die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Diese Wirklichkeit hat uns schnell ernüchtert. Wir lachten einander nicht aus, wie wir's verdient hätten, denn dazu hatten wir zuviel Hochachtung vor unseren durchgemachten Seelenkämpfen, aber wir waren kuriert. Und in späteren Jahren haben wir auch über die Geschichte gelacht.[47]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 25-48.
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