4. Weitere Episoden aus der Jugendzeit

[56] Das Jahr 1859 sah uns also wieder in Wiesbaden, und wir erlebten da die für unsere geleisteten und angenommenen Opfer, für alle meine letztjährigen Puffromane so beschämende Episode des unvergleichlichen Friedrich von Hadeln, der nicht ein Wort, nicht einen Blick über zeremoniellste Höflichkeit an uns verschwendete. Soviel ich mich noch erinnere, haben wir uns diese Beschämung nicht stark zu Herzen genommen; Elvira war vielleicht froh, daß sie nicht doch den Triumph einer Rivalin erleben mußte, und ich vielleicht erleichtert, nicht doch meiner unglücklichen Freundin so tiefes Leid zuzufügen und daneben noch eine so schlechte Partie zu machen. Der wirkliche Hadeln flößte mir auch nicht mehr jene Empfindungen ein, die mir sein Erinnerungsbild eingeflößt hatte. Kurz, wir verbrachten einen ganz vergnügten Sommer in Wiesbaden.

Und es war doch der Sommer 1859, d.h. die Schlachten von Magenta und Solferino wurden geschlagen. Oesterreich, unser Vaterland, erlitt Niederlagen. Man hörte von großen blutigen[56] Kämpfen. Aber ich weiß es genau: das Ereignis war mir damals so gleichgültig, so wenig vorhanden, wie es mir heute gleichgültig wäre zu erfahren, daß in einer westindischen Insel, deren Namen ich nie gehört hätte, ein Vulkan ausgebrochen sei. Ein Elementarereignis in großer Entfernung – das war mir der Krieg in Italien. Zeitungen las ich auch nicht viel; zwar gingen wir oft in den Lesesaal, wo die Blätter auflagen, aber da waren es nicht die politischen Blätter, die uns anzogen, sondern die belletristischen. Dies um so mehr, als Elvira einige Novellen verfaßt hatte, die in Familienblättern angenommen waren, und als ich mich mit der Idee trug, auch eine Novelle zu schreiben. Hatte ich ja doch im vorigen Sommer, weißglühend vor Erregung, drei Strophen an den »Gegenstand« gereimt. Die vorletzte Zeile reimte bei mir aber nicht auf Hadeln (gar so sehr darf man doch nicht Affe sein), sondern auf Friedrich. In den illustrierten Zeitungen fielen mir manchmal wohl einige Bilder »vom Kriegsschauplatz« in die Augen, aber ich hielt mich nicht dabei auf – herumliegende Soldaten und Pferde, zerbrochene Kanonen oder wirre Raufereien, wie ich deren in den Geschichtsunterrichtsbüchern gar viele gesehen, das gibt doch keine hübschen Bilder ab. Da blätterte ich schnell um. Wir hatten niemand uns Nahestehenden, um den wir hätten zittern können, im Krieg. Mein Bruder, der im Jahre 1854 als Leutnant ausgemustert worden, hatte seit einem Jahre den Dienst verlassen, weil er Blut gespuckt hatte und weil ihm überhaupt das Dienen im höchsten Grade zuwider war. Er lebte mit uns. Meine Mutter war zu Tode froh, daß ihr einziger Sohn nicht mehr in der Armee war, als der Krieg ausbrach. Ich kümmerte mich also nicht im geringsten um die Ereignisse in Italien. Ein Gefühl des Entsetzens über die Greuel und den Jammer, der damit zusammenhing, ist mir nicht aufgestiegen (warum soll man über unabwendbare Todesfälle, die einen nichts angehen, sich entsetzen?), und ein Gefühl der Revolte über Kriegführen stieg mir schon gar nicht auf, dazu war ich zu sehr von dem Respekt und der Bewunderung durchdrungen, welche dieser Form des geschichtlichen Geschehens allgemein gezollt wird. Von der Idee eines Schattens einer Möglichkeit, daß Kriege überhaupt von der Welt weggedacht werden könnten, focht mich nichts an. Ebensogut könnte man die Blätter von den Bäumen oder die Wellen vom Meer wegdenken: Krieg ist ja die Form, in der die Menschheitsgeschichte sich vollzieht: die Gründung der Reiche, die Schlichtung der Streitigkeiten, das alles besorgt der Krieg. Vielleicht dachte ich nicht einmal so viel über die Sache nach; ich nahm sie[57] nur hin als etwas Seiendes und Unumstößliches, wie man die Existenz der Sonne hinnimmt. Viele mögen noch heute diese Anschauung teilen, damals teilten sie fast noch alle. Hatte ja noch nicht einmal Dunant sein Schriftchen »Solferino« geschrieben und darin den Anstoß zur Gründung des Roten Kreuzes gegeben. Damals dachte noch niemand daran, daß man die Pflege der Kriegsverwundeten internationalisieren könnte – wer hätte gewagt zu denken (ein paar Männer wie Abbé de St. Pierre, Immanuel Kant ausgenommen), daß man eine internationale Vereinbarung anstreben sollte, überhaupt keine Kriegsverwundete zu machen! – Im Jahre 1849 hatte freilich schon unter dem Vorsitze Viktor Hugos ein Friedenskongreß stattgefunden, aber wer, außer den Beteiligten, wußte etwas davon? Jede Zeit, wie jeder Mensch hat sein gewisses Gedankenfeld, über das hinaus nichts wahrgenommen wird.

Als wir nach Oesterreich zurückkehrten, war der Krieg vorbei. Oesterreich hatte Mailand verloren – und unsre beiden Mütter hatten auch Verluste zu verzeichnen. Alle Systeme, Methoden, Ahnungs- und Divinationsgaben hatten sich als trügerisch erwiesen, und hoch und teuer wurde versichert, daß von nun ab mit dem grünen Tische auf ewig abgeschlossen sei. Ein Lehrgeld war gezahlt, aber jetzt wenigstens sei man von dem Wahn befreit und im Grunde froh, davon befreit zu sein, denn das Spiel sei nicht nur verwerflich, es sei auch wirklich unangenehm, greulich. Jetzt, Gott sei Dank, brauche man sich mit der schweren Pflicht, die Sehergabe auszunutzen, nicht mehr zu plagen, denn es war ja noch einmal und diesmal endgültig erwiesen, daß das Ahnungsvermögen an den grünen Tischen nicht mehr funktionierte.

Das Lehrgeld war nicht gering gewesen. Nun hieß es sparen. Meine Mutter gab die Wiener Wohnung auf und mietete ein Landhäuschen in der Umgebung, in Klosterneuburg. Dort sollten zwei Jahre in äußerster Zurückgezogenheit und Sparsamkeit zugebracht werden. Nach dieser Frist würde ich achtzehn Jahre alt sein, eine genügende Summe wäre zurückgelegt, um das »Lehrgeld« zu ersetzen und um in die Welt zurückzukehren, in die ich dann eingeführt werden sollte. Unterdessen war dies einsame Leben in Klosterneuburg gar nicht reizlos. Tante Lotti und Elvira waren bei uns, und da nahmen wir zwei Mädchen wieder fleißig unsere Studien und Beschäftigungen auf. Elvira schrieb neue Dramen und korrespondierte und schrieb fleißig Briefe an allerlei berühmte Leute. Ich spielte viel Klavier und trieb Sprachenstudien. Zu unserer Erholung wurde auch weiter Puff gespielt; Friedrich von[58] Hadeln hatte jetzt nichts mehr zu »adeln«; es wurden als Helden unserer Romane wieder die verschiedenartigsten Figuren eingeführt, von amerikanischen Cowboys vorbei an europäischen Gesandtschaftsattachés bis zu indischen Maharadschas. Jede Woche kam einmal mein lieber Vormund Fritzerl aus Wien zu uns hinausgefahren, spielte seine Partie Tarteln mit Mama, erzählte alle Vorkommnisse des Hofes und der Gesellschaft. Außerdem kam ein ältlicher Geistlicher des Klosterneuburger Stiftes öfters ins Haus – ein Schöngeist, Philosoph und heiterer Gesellschafter. Wir machten große Spaziergänge in die Donauauen in Begleitung Tante Lottis; meine Mutter war nicht gut zu Fuß und begnügte sich damit, in unserem kleinen Gärtchen Luft zu schöpfen. Es war ein ganz wilder Garten, durch den ein Bach floß. Ich weiß noch, daß ich am Rande dieses Baches glückliche Stunden verträumt habe; das über Kiesel hüpfende Wasser, das ganze Gestrüpp am Bachesrand, darunter ein paar Weiden mit tief herabfallenden Aesten, alles das gewährte mir einen ganz eigentümlichen Naturgenuß, den ich seither in keiner Landschaft der Welt wiedergefunden habe.

Der Winter war dann freilich ziemlich monoton in unserem ländlichen Nest. Und da hatte ich denn einmal, zerstreuungshalber, ganz im stillen einen Streich ausgeführt. Ohne jemand etwas zu sagen, setzte ich eine Annonce auf und schickte sie an die Wiener »Presse« ein, wo sie auch erschien und in unserm Kreise Aufsehen machte.

»Da werde ich hinschreiben!« rief Elvira.

Das Inserat lautete:

»Aus purer Caprice einerseits, aus Seelendrang nach Gedankenaustausch andererseits, wünscht ein auf einsamem Schlosse lebendes adeliges Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, mit warmfühlenden und tiefdenkenden Menschen in brieflichen Verkehr zu treten. Die Aufsicht über den Briefwechsel wird ein strenger Papa führen, der den jungen Enthusiasten beweisen will, wie unpraktisch sie sind mit ihrer Seelenaustauschidee. Briefe unter »Cela n'engage à rien« an die Expedition des Blattes.«

»Ja, da schreibe ich hin,« wiederholte Elvira.

»Das verbiete ich,« sagte Tante Lotti, »wer wird denn Annoncen beantworten!«

»Laß sie doch, Tante,« bat ich.

»Willst du etwa auch hinschreiben?« fuhr meine Mutter nun auf. »Das wirst du bleiben lassen!«

»O nein, ich hätte gar keine Lust dazu – das Zeug ist zu verrückt.«[59]

Es wurde noch viel hin und her gesprochen über das originelle Inserat, ich verriet aber durch keine Miene, daß ich die Verbrecherin war.

Zugleich mit Einsendung der Annonce hatte ich an die Redaktion der »Presse« geschrieben, die einlaufenden Antworten zu sammeln und nach Verlauf von einigen Tagen unter einer gewissen Chiffre postlagernd nach Klosterneuburg zu expedieren. Nach fünf Tagen, gelegentlich unseres gewöhnlichen Spazierganges, gingen wir an der Post vorbei.

»Bitte, Tante,« sagte ich, »gehen wir da hinein, ich möchte Marken kaufen.«

Wir traten ein. Beim Schalter aber, statt Marken zu verlangen, frug ich:

»Ist etwas da unter A–R 25?«

Der Beamte sah nach und übergab mir ein umfangreiches Paket. Mir sprang vor Freude das Herz in den Hals.

»Was bedeutet das?« riefen die anderen.

»Das werdet ihr zu Haus erfahren.«

Zu Hause dann riß ich den Umschlag auf und ließ ungefähr sechzig bis siebzig Briefe auf den Tisch fallen, die alle die Aufschrift »Cela n'engage à rien« trugen.

»Seht her, das sind die Antworten auf mein Inserat – das Geschwisterpaar bin ich!«

»Da ist ja auch mein Brief,« rief Elvira, indem sie ein Schreiben hervorzog, auf dem sie ihre eigne Schrift erkannte, »das ist abscheulich!« und sie zerriß es in kleine Stücke.

»Also trotz meines Verbotes hast du doch geantwortet!« sagte Tante Lotti in erzürntem Ton.

»Und du schickst hinter unser aller Rücken Annoncen in die Zeitung?« fügte meine Mutter hinzu, nicht weniger erzürnt. »Ihr seid ein paar saubere Kinder!«

»Nun, dafür haben wir jetzt die Unterhaltung, alles das zu lesen,« beschwichtigte ich.

Und in der Tat, die Lektüre erwies sich als sehr amüsant. Einige der Antworten waren blödsinnig, andere aber geistvoll; und unter den geistvollen einige so interessant, daß wir beschlossen, darauf zu erwidern, natürlich anonym, und zwar diesmal mit der Erlaubnis der Mütter. Ein Brief von einer Dame, »Doris in See« unterschrieben, hatte besonders Elvira gefesselt. Sie übernahm die Rolle des Bruders im »Geschwisterpaar« und ließ sich in einen Briefwechsel mit Doris in See ein, der bald sehr eifrig wurde. Auch[60] ich suchte mir einige Korrespondenten aus, aber bald verliefen die Briefe im Sande. An Fräulein Doris schrieb aber meine Cousine immer längere und immer hingebendere Briefe und Gedichte, auch ganze Abhandlungen über die verschiedensten Gegenstände; und Doris schrieb ebenso eifrig an Herrn »Kurt im Walde« – das war der Name, unter dem Elvira zeichnete. Ein Jahr lang flogen die Manuskripte – es waren schon nicht mehr Briefe zu nennen – hin und her, die beiden Seelen hatten sich wirklich ausgetauscht. Da erwachte in Elvira das Gewissen.

»Doris glaubt, ich sei ein junger Mann – sie wird sich noch in mich verlieben – ich muß ihr gestehen, daß Kurt, der Kamerad, ein Mädchen ist.«

Und sie tat es. Darauf kam ein Jubelruf zurück:

»Herrlich, mein bester Freund, mein Dichter und Denker Kurt ist ein junges Weib, und Doris – jetzt muß ich es sagen – ist Offizier der k. k. Marine.«

Das Ende der Geschichte war, daß Elvira sich bald darauf mit Doris, alias Joseph Tiefenbacher, k. k. Linienschiffsfähnrich, vermählte und in ihrer kurzen Ehe vollkommen glücklich war.[61]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 56-62.
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