V

[45] An diesem Abend blieb Sylvia nicht im Salon.

Gleich nach dem Diner, bei dem sie die Schüsseln beinahe unberührt vorübergehen ließ, zog sie sich, heftigen Kopfschmerz vorschützend, auf ihr Zimmer zurück.

Sie wollte beichten. Zuerst ihr Gewissen erforschen und dann Beichte ablegen – sich selber. Und sich wahrscheinlich eine Buße diktieren – denn die Sünde, die sie in der bevorstehenden Gewissenserforschung zu finden fürchtete, verdiente nicht – ohne weiteres – die eigene Absolution.

Bei Tische hatte die Unterhaltung einmal einen höheren Ton angeschlagen als gewöhnlich. Rudolf und Hugo, die einander gegenüber saßen, waren in ein Wortgefecht geraten, das bald so lebhaft wurde, daß alle anderen Gespräche verstummten und die ganze Gesellschaft den beiden jungen Männern lauschte:

»– – Und ich sage, lieber Bresser, das höchste ist die Tat.«

»Ich bleibe dabei, Graf Rudi, als Höchstes thront der Gedanke, schon deshalb, weil er einsam sein kann – in Gletscherhöhen schweben. Ich weiß in der Geschichte keine sogenannte Tat, durch die die Menschheit bereichert und geadelt worden wäre – das ist immer nur das Werk großer Gedanken gewesen.«

»Die erste Stufe kann doch nicht höher stehen, als die nächste. Zuerst denkt – dann handelt man. Das Wort muß Fleisch werden, die Idee muß eine Form beseelen.[45] Das Gedachte muß sich bejahen, durchsetzen, muß geschehen, muß – mit einem Wort – getan werden; entschlossen, kräftig, wuchtig getan.«

»Diese Worte passen auf Faustschläge, auf Gewaltakte überhaupt. Es wundert mich, daß gerade Sie, der Friedensanwalt, so sprechen.«

»Eben weil ich Anwalt einer Idee bin, lechze ich darnach, daß sie sich in Taten umsetze, in Institutionen verkörpere.«

»Das geschieht von selber, wenn die Idee erst mächtig genug geworden. Eine Institution ist nicht lebensfähig, wenn sie vorzeitig erzwungen wird ... Was verstehen Sie übrigens unter Institutionen? Gesetze? Verfassungen? Politische Formen? Anstalten und Körperschaften? Wie ist das alles so nebensächlich, so unwichtig gegen das Reich des Geistes ... des täglich wachsenden, immer lichtere Höhen erklimmenden Menschengeistes ...«

»In wie wenig Köpfen!« ...

»Die vielen folgen langsam nach.«

»Die folgen nur dem sichtbar – also dem tatgewordenen Gedanken –«

»Übrigens: – noch wertvoller als Handeln und als Denken ist das Gefühl. Gefühl ist der Gipfelpunkt des Lebens ... Ist auch der Regulator, all der sogenannten Institutionen: Das Gefühl, nicht das besonnene Urteil der Massen, kann als Gradmesser der Kultur gelten. Nur im Bereiche des Gefühls entfalten sich die reichsten Blüten der Seele: das Mitleid, die Begeisterung, die Andacht, und die Krone alles Seins – die Liebe. Aus dem Gefühle strömt die Schöpferkraft des Künstlers und flammt die Lust des Kunstgenießens ... Auch des Naturgenusses; nicht was wir an der Rose riechen ist, was uns entzückt, sondern was wir beim Einatmen ihres Duftes mit allerlei verketteten Vorstellungen und Erinnerungen fühlen; was wir an Akkorden und Tonfolgen hören, ist Lärm, erst was wir daraus fühlen, ist Musik – –«[46]

»Was der für geschwollenes Zeug redet,« flüsterte Delnitzky seiner Braut zu. »Paß nicht auf, reden wir lieber von –«

Sylvia machte eine abwehrende Handbewegung, kehrte sich noch mehr von ihrem Nachbar weg und blickte mit gespannter Miene auf den Sprecher. Dieser fuhr fort:

»Durch das Gefühlte – Inspiration, Ahnung, Leidenschaft – wächst man über sich selbst hinaus. Augenblicke, in denen der Mensch zum Gotte wird – es sind nur Augenblicke, nicht Tage, nicht einmal Stunden – sind Augenblicke überströmenden Gefühls ... Der Dichter, der Seher, der Liebende weiß, was solche Augenblicke sind. ... Wer sie erlebt hat, ist geweiht – der gäbe die Erinnerung daran nicht um schwere Schätze her ... Einer solchen Erinnerung –« Hugo nahm sein Glas zur Hand und stand auf – »ich besitze sie erst seit heute – trinke ich nun zu, und wer einen Augenblick erlebt hat, der ihn über alles Irdische erhoben, stoße mit mir an!«

»Mit anderen Worten,« sagte Oberst von Schrauffen, der neben Hugo saß und Bescheid tat, »unsere schönen Erinnerungen hoch!«

Damit war der etwas überspannte Ausfall des jungen Schriftstellers auf ein allgemein verständliches Niveau gebracht und die Gläser klirrten: »Unsere Erinnerungen hoch!« hieß es um die ganze Tafelrunde.

Delnitzky fand ein für einen Bräutigam glückliches Wort:

»Höher noch unsere schönen Erwartungen!«

Sylvia hatte Hugo zugetrunken – auf den Toast Antons gab sie nicht Bescheid.

Als sie in den Salon gingen, fragte Delnitzky seine Braut, die er am Arm führte:

»Warum hast Du vorhin nicht mit mir angestoßen?«

»Laß mich,« antwortete Sylvia in nervösem Tone, – »ich habe Kopfweh.«[47]

Und dieses Kopfweh ward ihr zum Vorwand, sich ohne Verzug zurückzuziehen.


In ihrem Zimmer angelangt, war ihr erstes, die Fenster aufzureißen. Vorsichtshalber war von der Dienerschaft, als das Gewitter losging, alles verschlossen worden, aber jetzt war das Unwetter vorbei und Sylvia lechzte nach Luft. Die Sonne war schon untergegangen, aber noch war es Tag. Abgekühlt, regenfeucht, schwer duftend strömte die Luft herein. Von den Bäumen und Büschen tropfte es noch herab; am Horizont, bald hier, bald dort, flammte es wetterleuchtend auf – ein förmliches Lichtgeknatter ...

Sylvia ließ sich ein paar Minuten von den fächelnden Lüften die heiße Stirne kühlen, dann ging sie zur Tür und schob den Riegel vor. Es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn jetzt ihre Mutter hereingekommen wäre. Wollte sie vielleicht nachsehen und fände die Tür verschlossen, so werde sie in der Idee, Sylvia schlafe, wieder fortgehen.

Das junge Mädchen warf sich in die Chaiselongue und schloß die Augen: Also jetzt: die Beichte – –

... Ich bin schuldig ... Flatterhaft – und – – wie soll ich's nur nennen? wie? einfach beim Namen, im Beichtstuhl lügt man nicht – beschönigt man nicht: – sinnlich bin ich. Meine Liebe zu Toni, die ja erst unter seinem ersten Kuß so mächtig aufgeflammt – ist es überhaupt Liebe? Eigentlich nein, da er mir jetzt so oft mißfällt – da so vieles, was er mir sagt, mich wie mit einem kalten Wasserstrahl berührt ... Und dasselbe, was ich – bei jenem ersten Kuß – in Tonis Armen empfand, es hat mich heute – und noch viel heftiger – durchzuckt, als Hugo Bresser – – Hugo liebt mich ... das habe ich deutlich gefühlt ... Er hat es ja auch gesagt: der Augenblick, der ihn zum Gott gemacht – den hat er erst heute erlebt ... Das war der[48] Augenblick, in dem er mich – die nicht Widerstrebende! – ans Herz gedrückt ... Ich habe ihm zugetrunken ... sagte ich damit nicht: »Ich verstehe Dich?« Was wird er jetzt hoffen dürfen und was werde ich fürchten müssen? ...

Es wurde an der Türklinke gerüttelt.

»Ich bin's, mein Kind ... Hast Du Dich niedergelegt?«

Sylvia schwankte. Sollte sie der Mutter öffnen? Sollte sie dieser bewährten Freundin gestehen, was in ihrem Innern vorging? Ach, wußte sie es denn selber? ... Nein – zuvor mußte sie mit sich ins Klare kommen.

Sie gab keine Antwort und Martha entfernte sich wieder.

Jetzt schloß Sylvia das Fenster, ließ die Vorhänge herab und machte Licht. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm die darauf stehende Photographie Delnitzkys in die Hand.

Lange betrachtete sie das Bild. Dabei stiegen ihr Erinnerungen an die zärtlichkeits- und glücksvollen Gefühle auf, die sie noch vor Kurzem bei Anblick dieser Züge erfüllten ... das ist doch Liebe – –

Gleich darauf aber regte sich der Zweifel:

... Ist denn aber auch eine solche Liebe, wie ich sie jetzt durchschaut habe, meiner wert? ... und ist nicht sogar diese im Schwinden begriffen, da ein anderer imstande war, einen Augenblick in mir gleiche Regungen zu wecken? ... Und da ich erkannte, wie dieser andere in seinem Denken und Fühlen über den Verlobten hinausragte? Welcher Schwung in Hugo Bressers Worten, und Toni nannte das »geschwollenes Zeug«. Nun ja, im Grunde ... es klang etwas exaltiert – und wer weiß, ob es aufrichtig war – ob es nicht galt, mich zu faszinieren – eine Art gesprochene Fortsetzung der kühnen Umarmung im Garten? ... Vielleicht war auch nur das[49] Gewitter daran schuld, daß ich in jenem Augenblick wie unter einem elektrischen Schlag erbebte ... ich liebe ja diesen Herrn Bresser nicht – mein Herz hab' ich dem Toni geschenkt ... Mein Herz? Oder ist's – –? Gleichviel: ich bin ja, wie jedes junge Menschenkind, ein Ding von Seele und Leib – mit warmem Blut ... Aber die Ehe – mein Gott, die Ehe ... dieses lebenslängliche Einssein ... wenn da die Seele zu kurz kommt? ... Und da hilft kein Leugnen: in der letzten Zeit haben hundert Dinge, die ich an Toni entdeckt oder die ich an ihm vermißt habe, meine Liebe momentan wie ausgelöscht – freilich entbrannte sie dann von neuem ... Wenn aber die Augenblicke des Verlöschens immer häufiger und immer länger werden? ... Noch wäre es Zeit, zurückzutreten – – –

Jetzt malte sie sich diese Alternative aus: die abgebrochene Verlobung. War das nicht Pflicht, wenn auch schmerzliche Pflicht – denn der Gedanke tat ihr weh ... Doch, war sie es nicht ihrer und auch seiner Zukunft schuldig, einen Bund zu lösen, der – wie es sich nun zeigte – nicht auf zweifel- und reueloser Gesinnung ruhte? ...

Mit raschem Entschluß öffnete sie ihre Mappe, um einen Abschiedsbrief zu schreiben.

In der Mappe lag ein Zettelchen, das einst zwischen die Blumen des ersten Brautbuketts gesteckt war, das sie von Delnitzky bekommen.

An das Zettelchen hatte sie nicht mehr gedacht und sie schob es jetzt beiseite, um einen Briefbogen hinzulegen. Dabei streifte ihr Blick den Inhalt – den hatte sie auch vergessen gehabt:

»Mein Glück über das erhaltene ›Ja‹ ist so groß, daß es kein Maß dafür gibt. Nur etwas hätte noch größer sein können: meine Verzweiflung, wenn es ›nein‹ geheißen hätte.«[50]

Die Worte drangen in Sylvias Innere wie ein flehender Schrei: Um Gotteswillen, laß von Deiner Absicht ab – stürze mich nicht in Verzweiflung!

Sie malte sich nun den Schmerz aus, den sie daran war, dem geliebten – ja dennoch geliebten – Manne zuzufügen. Daran knüpfte sich noch eine ganze Kette anderer peinlicher Vorstellungen: das ärgerniserregende Aufsehen, das eine zurückgehende Verlobung erregen würde; die Kränkung ihrer Mutter, der Tadel Rudolfs, die Vorwürfe der anderen und – was schlimmer war als alles übrige – der Triumph Hugo Bressers, der mit diesem ihrem Entschluß Auslegungen und Hoffnungen verbinden könnte, die ganz falsch wären. Ganz falsch. Ob sie nun mit dem Bräutigam brechen würde oder nicht, ihrer Würde war sie es schuldig, den jungen Schriftsteller fernzuhalten.

Sie war wieder ganz schwankend geworden.

Zur Probe nur wollte sie den Brief aufsetzen – unter dem Vorbehalt, ihn nicht abzuschicken.

Sie tauchte die Feder ein. Dabei sah sie den Diamantring an ihrem Finger blitzen, der das erste Geschenk ihres Bräutigams gewesen. Wie hatte damals das hübsche Kleinod sie gefreut – durch seine geheimnis- und weihevolle Bedeutung gefreut: der Verlobungsring, das Pfand des gegebenen, für das Leben bindenden Wortes ... Leise bewegte sie die Hand hin und her, um die Steine funkeln zu machen.

Und ist ein Wortbruch nicht auch eine häßliche Handlung? Wahrlich, sie wußte nicht, wo ihre Pflicht lag ...

Immerhin, der Brief konnte ja für alle Fälle geschrieben werden. Sie tauchte die wieder trocken gewordene Feder ein zweites Mal in die violette Tinte:

»Mein lieber Graf Delnitzky – –«[51]

Sonderbar, wie ihre Hand zitterte – das war ja gar nicht ihre Schrift ...

»Verzeihen Sie den Entschluß, zu dem mich reifliche Überlegung brachte – weder ich noch Sie könnten glücklich werden –«

Sie strich die ganzen Zeilen wieder durch. Wie war das matt ausgedrückt ... Einem Menschen einen Dolch ins Herz stoßen und höflichst um Entschuldigung bitten, für diesen reiflich überlegten Entschluß ... So geht es nicht ... es geht überhaupt nicht!

Sie sprang von ihrem Sitze beim Schreibtisch auf und lief zum Bett, an dessen Rand sie sich auf die Knie warf, das Gesicht in die Decken vergrabend. Beten wollte sie und – weinen.

Sie stöhnte laut auf: »Toni, Toni, lieb' ich Dich denn nicht mehr? Und doch, ich kann – ich kann Dir nicht Lebewohl sagen. Beides ist so schrecklich traurig: der Verlust meines Glücksgefühls, meines Liebesrausches oder – der Abschied von Dir!«

Ihre schmerzliche Erregung löste sich in Tränen. Fast eine Stunde lang blieb sie auf den Knien liegen und schluchzte – zuerst heftig, dann immer leiser.

Eine große Müdigkeit überkam sie und die vom Weinen brennenden Augen fielen ihr schlaftrunken zu. Dabei durchrieselte ihre Glieder ein eigenes erschlafftes Wohlgefühl. Sie raffte sich auf und machte ihre Nachttoilette, voll Sehnsucht nach der vollen Ruhe des Bettes. Sie wollte nichts mehr denken – nur schlafen.

Das Gefühl des Unglücklichseins hatte sie verlassen ... Ein warmer, linder Strom von Zärtlichkeit stieg ihr vom Herzen auf zugleich mit Tonis Bild. Warum hatte sie ihn denn wie einen Toten beweint – er lebte ja und auch ihre Liebe atmete noch ... Und das Leben überhaupt, das große, reiche, hat ja so viel Schönes zu[52] bieten, so viel Süßes – unter anderm den Schlaf ... wie köstlich würde es jetzt sein, das Bewußtsein zu verlieren und in tiefen, tiefen Schlummer zu versinken ... Sie schlüpfte zwischen die kühlen Linnen, löschte die Kerze aus, vergrub den Kopf in die Kissen und mit einem gemurmelten »Gute Nacht, Toni« schlief sie in wenigen Minuten ein.[53]

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920], S. 45-54.
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