XIII

[118] Aus Marthas Tagebuch.


Im Januar 1892.


»Wenn die Sonne untergegangen ist, so ist die Geschichte des Tages vorbei.« Mit diesen Worten begründete ich Rudolf gegenüber meinen Entschluß, nicht weiter an meiner Lebensgeschichte zu schreiben.

Dennoch habe ich mir neuerdings ein Heft hergenommen, um Eintragungen zu machen. Nicht mein Schicksal soll ja den Mittelpunkt dafür abgeben, sondern das Schicksal und – soweit ich Einblick darein habe – das Seelenleben meiner Kinder. Meine Kinder sind nicht glücklich, fürchte ich. Als ich mein Buch abschloß, da war so eine Lebenswende eingetreten, die – in Romanen und auf der Bühne – wie der Ausgangspunkt einer ungetrübten gesegneten Existenz erscheinen: glänzende Verhältnisse, Geburt eines Erben, Verlobung. Ich ließ mich selber davon täuschen und nannte das gesicherte Glück meiner Kinder das Licht, das meinen Lebensabend verklären sollte.

Ach, um meinen Abend handelt es sich ja nicht. Ich beklage nur, daß ihr Mittag nicht so wolkenlos schön ist, wie ich ihn damals kommen sah.

Meine arme Sylvia ... ihr Mann betrügt sie – das weiß die ganze Stadt. Er hat seiner Geliebten ein kleines Gut gekauft. Er versucht garnicht, seine Abwesenheiten zu maskieren. Und Sylvia zeigt nicht die geringste Eifersucht – ein Zeichen, daß ihr Delnitzky ganz[118] gleichgültig, vielleicht sogar verhaßt ist. Also einsam, einsam! Sie hat sich mir nicht anvertraut, weil sie mir nicht weh tun will. Glaubt sie denn, daß ich nicht sehe, wie freudlos sie ist?

Und nun Rudolf ... der trägt noch größere Sorgenlast. Er hat – »der unglückselige Atlas« – die Sorgen der Welt auf sich genommen. Alles was in unserer Gegenwart an Traurigem enthalten ist, das schmerzt – an Schlechtem, das empört – an Dummem, das erzürnt ihn, an Gemeinem, das flößt ihm Ekel ein. »So gib doch in die andere Wagschale«, sagte ich erst gestern zu ihm, »all das Lichte, Schöne, Gute, das auch vorhanden ist und das in immer steigendem Maße sich entfaltet. ›Die Zukunft gehört der Güte‹, pflegte Tilling zu sagen ... und Du hilfst ja mit, diese Zukunft herbeizuführen – ist Dir das nicht erhebende Genugtuung?« Er schüttelte den Kopf: »Bis jetzt habe ich gar nichts geleistet – ich komme aus der Phase des Vorbereitens zum Handeln ja garnicht heraus – ein Schnitter, der immer nur die Sense schleift, ein Zeichner, der nicht aufhört, Bleistifte zu spitzen ...«

Er übertreibt, er hat schon gehandelt. Nur sind seine Handlungen an äußerlichen Hindernissen, am passiven und aktiven Widerstand der anderen abgeprallt. Da war seine Kandidatur ... sie wählten ihn nicht. Da war seine Reise nach Berlin, seine Unterredung mit Bismarck ... der eiserne Kanzler hat ihn abgewiesen, wie er den Abgeordneten Bühler und wie er den Prinzen von Oldenburg abgewiesen hatte: »An Abrüstung dürfe man nicht denken, am allerwenigsten in Deutschland, das gegen zwei Fronten en vedette zu bleiben habe.«

Ich habe indessen meinem »Protokoll« doch wieder hoffnungsvolle Absätze hinzugefügt. Ach, daß Friedrich das alles nicht erleben konnte! Sicher hätte er sich den Friedensvereinen und -Kongressen angeschlossen. Das will nun Rudolf nicht tun. Ich bleibe aber durch[119] meine Korrespondenz mit den Gleichgesinnten aller Länder stets in Berührung mit den militanten Trägern der Friedensidee, und mein Protokoll spiegelt die Phasen der fortschreitenden, von der Mitwelt so sehr verlachten oder ignorierten Bewegung wieder.

Und da sehe ich, wie der Gedanke, daß das Gewaltsystem dem Rechtssystem weichen müsse, wächst und wächst und in immer höhere Kreise dringt. »Die Wogen müssen so hoch gehen,« sagte neulich Björnstjerne Björnson in einer Versammlung im Freien, vor einer Zuhörerschaft von zehntausend Menschen, »die Wogen des Friedensgedankens müssen so hoch gehen, daß sie bis in die ersten Stockwerke spritzen.«

Ob sie bis zu einem Thronsaal dringen? Die Leute behaupten, das sei unmöglich, denn die Throne ruhen auf der bewaffneten Macht. Aber was »behaupten die Leute« nicht alles?

Zu den neuesten Eintragungen meines Protokolls gehören die Versammlungen in Rom: die interparlamentarische Konferenz (mit bewundernswerter Energie vorbereitet vom Kammermitglied B. Pandolfi) und der dritte Weltfriedenskongreß. Offizieller Empfang auf dem Kapitol. Die beiden Körperschaften haben beschlossen, je ein Zentralbureau in Bern zu errichten. Der Gedanke nimmt immer mehr Gestalt an; seine Vertreter organisieren sich. Das Umherflatternde ballt sich zusammen und verdichtet sich. So entstehen Planeten und ebenso – Institutionen.

Kolnos, dem ich neulich mein Protokoll zeigte, sagte: »Sie tragen da zusammen, meine liebe optimistische Freundin, alles was in der Welt zu gunsten Ihrer Lieblingsidee geschieht, und lassen unverzeichnet, was zu deren Nachteil vorgeht. Ihre Sammlung umfaßt ein Zehntausendstel dessen, was tatsächlich gedacht, gesprochen und getan wird. Die übrigen 999 Tausendstel, von denen[120] sagt Ihr Protokoll nichts – und die geben den Ausschlag.«

»Ja, heute – aber später? – Millionen Schneeflocken begraben das erste Veilchen im März ... wer gibt den Ausschlag? Fragen Sie den Lenz: – das Veilchen.«

»Optimistin!«

»Mit diesem Namen beleidigen Sie mich nicht.«

»Das war auch nicht meine Absicht.«

»Sie treffen mich aber auch nicht. Das Wort will sagen, daß man nur das Gute sieht und für alles bestehende Böse blind ist. Ich sehe beides – Ormuzd und Ahriman. Der Kampf der beiden dauert ja fort. In diesem Büchelchen sind aber nur die Ormuzd-Siege notiert – und da nur auf einem Felde ... er siegt ja noch auf so vielen anderen. Zum Beispiel hat er die Höhlenmenschen abgeschafft und an deren Stelle Kolnosse gesetzt.«

»Ein magerer Gewinn,« gab mein Freund zur scherzenden Antwort.


Seit jeher haben Bücher in meinem Leben die Rolle von Ereignissen gespielt. Wie haben in meiner Jugend Darwin und Buckle auf mich gewirkt, und vor kurzem noch Tolstoi mit seinem »Das Reich Gottes ist in Euch.« Weil ja solche Bücher mir als etwas noch ganz anderes sich offenbaren, denn als wissenschaftliche und literarische Erscheinungen: Fackeln sind sie mir, ganze, dunkle Gebiete plötzlich erhellende Fackeln. Und die sie schwingen: ganze Menschen, mit ganz lichterfüllten Seelen ...

Vor einiger Zeit fiel mir eine Schrift in die Hand, die mir Ereignis – ein frohes Ereignis ward. Nicht so sehr, was der Verfasser darin schrieb, hat mich erschüttert, als daß er es schrieb; daß einer den edlen Mut hatte – möge es ihm auch seine Stellung kosten – das hinauszurufen, was seinen nach Wahrheit dürstenden Geist erfüllt. Nur ein dünnes Heftchen: »Ernste Gedanken« von Moritz von Egidy. Das Aufsehen war[121] groß. Egidy, Oberstleutnant bei den Husaren im preußischen Dienst, hat seinen Abschied erhalten. Und nun – wird er die Kraft dazu haben? – will er sich ganz der Aufgabe widmen, das auszubauen – in sich selber und für die Mitwelt, was er als Heilslehre in die Worte zusammenfaßt: »Religion nicht mehr neben dem Leben – unser Leben selbst Religion.« In rascher Folge kam nun eine Schrift nach der andern. Er zieht immer mehr die Konsequenzen seiner ersten Ideen; der Horizont der Gedanken weitet sich, das »Ernste Wollen« ward immer inbrünstiger. Es ist eine Lust, daß solche Menschen leben. Jubeln wollte ich, daß – –

Lust, Jubel? habe ich, die Beraubte, diese Worte niedergeschrieben? Gibt es denn noch für mich die Möglichkeit, zu frohlocken? Drängt sich nicht gleich zu jeder freudigen Regung der trübe, dämpfende Gedanke: Er ist nicht mehr da, die Freude zu teilen ... Möge die Welt auch noch so herrlich sich gestalten, mögen Schätze und Wonnen, wie aus Füllhörnern, über sie sich ergießen: die schwarze Leere, in die mein Liebstes versunken, für mich bleibt sie leer und schwarz ... ein Abgrund ohne Boden. Wie man einen Stein in die Tiefe wirft, um zu lauschen, wann er auf den Boden fällt, so lasse ich manchmal meine Empfindungen – Kummer und Freude – in jenen Grabesabgrund fallen und horche hin ... »Friedrich – was sagst Du zu diesem Egidy?« – Nichts. Stumm – auf ewig.


»Liebe Martha,« sagte mir neulich eine alte Cousine, »ich begreife Dich nicht ... immer finde ich Dich in Zeitschriften und Bücher vertieft und alles Neue, was in der Welt auftaucht: Dichtungen, Erfindungen, ›Bewegungen‹ – das greifst Du auf und erwärmst Dich dafür, auch wenn es noch so illusorisch ist. – Dabei behauptest Du doch, Du hättest mit dem Leben abgeschlossen. Woher dieser Widerspruch? In unserem Alter [122] hat man ja auch mit dem Leben abgeschlossen, selbst wenn man keinen solchen Trauerfall erlebt hat wie Du. Da hat man doch nur mehr ein Interesse: das Schicksal seiner Kinder und Enkel.«

Meine gute Cousine ist siebzig Jahre alt und ich höre es gar nicht gern, wenn sie mir, der um ungefähr zwanzig Jahre jüngeren, sagt: »in unserem Alter«. Zudem kümmert sie sich – nebst ihren Kindern und Enkeln – noch gar lebhaft um gar mancherlei Dinge, als da sind: Bekehrung kleiner Neger und Chinesen; die Wunder von Lourdes; die Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes und dergleichen mehr. Darauf wies ich in meiner Entgegnung hin.

»Ja,« sagte sie, »die Relichion (unsere besonders Frommen sprechen das Wort so aus), das ist etwas anderes.«

»Meinst Du? Ich meine, es ist dasselbe ... es ist nämlich der Drang, für etwas Größeres, Höheres zu fühlen und zu wirken als für die nächstliegenden eigenen, oder der eigenen Kinder Interessen.«

»Aber, liebes Kind (à la bonne heure, das höre ich lieber als ›in unserem Alter‹, wie kannst Du nur vergleichen – der eitle, irdische Tand und die ewige Seligkeit?!«

Ich sprach von etwas anderem. Gerade so, wie ich es in meiner Jugend mit Tante Marie zu tun pflegte, wenn sie das Thema »Bestimmung« zu variieren begann. Die Cousine hätte mich doch nicht verstanden, wenn ich ihr hätte auseinander setzen wollen, daß es das gleiche Streben nach Seligkeit, nach Erlösung, nach dem »Heil« ist, was diejenigen erfüllt, die für Ideen, Erfindungen, Bewegungen sich erwärmen, von denen sie das Paradies schon diesseits erhoffen, oder doch wenigstens die Überwindung des Jammers, der – auch schon hienieden – eine Hölle schafft. Das ist doch nicht minder »Relichion«.

Ach, daß ein und dasselbe Wort oft so verschiedene[123] Dinge bedeutet! Das macht die Verständigung so schwer; das ist daran schuld, daß einer dem anderen so oft unrecht tut. Religion heißt auch das: inbrünstig die Verpflichtung fühlen, für das Gute, das Rechtschaffene, das Heilige einzustehen. Sich mit der Seele anklammern an alles, was von ewiger Schönheit, von lichter Klarheit, von ehrfurchtgebietender Größe erfüllt ist. Und das Gegenteil von alledem, das Häßliche, Finstere, Niedrige – vor allem das Grausame – bekämpfen, wo nur immer möglich. Wenn man noch dazu durch Wort und Eid gebunden ist (habe ich nicht geschworen, Friedrichs Aufgabe zu übernehmen?), da hat man doppelt religiös zu sein, gerade so, wie ein vom Klostergelübde gebundener Gläubiger doppelt fromm sein muß. Und so verfolge ich alle Phasen der Friedensbewegung und bleibe – mit Rudolf und durch Rudolf mit allen Bekämpfern des Krieges in steter Berührung: das ist meine Betschwesterschaft.


Die Post brachte mir heute diesen Brief:

»Berlin, 12. 1. 92.


Ihr Name wird unter den Vertretern einer Bewegung genannt, die die Menschheit ›nach oben‹, das Christentum seiner Erfüllung entgegenführen soll.

Ich halte es für meine Pflicht, mich Ihnen respektvoll zu nahen und Sie zu bitten, mich als einen derer anzusehen, die mit ganzer Kraft für die höchsten Bestrebungen eintreten. Jede Faser meines Daseins gehört dem Aufbau eines Reiches Gottes auf Erden, gehört dem ›Werden des Christentums‹. Es begreift dies alle Bestrebungen guter Menschen.

Ich bin durchglüht von Idealismus, bin aber kein Phantast – Sie haben es mit einem ›Menschen‹ zu tun. Unerschrocken, aber auch unbeirrt werde ich die Wege weitergehen, die mir vorgezeichnet sind. Je[124] umfassender unser Vorgehen ist, desto wirksamer; je entschlossener, desto heilbringender; je gleichzeitiger auf der ganzen Linie, desto durchgreifender der Erfolg.

Jetzt also muß ›etwas werden‹. Ich lebe der festen Überzeugung (das Wort Glaube wäre mir nicht genug hierfür), daß wir vor dem Tore stehen, das uns ebensowohl davon trennt, wie uns einführt in das Zeitalter der Vervollkommnung. Die Klinke mit kraftvoller Hand zu ergreifen, scheint mir die Berufung aller derer, denen Gott die Fähigkeit dazu gab.

M. v. Egidy, Oberstleutnant a. D.«


Diese unerwartete Botschaft erschütterte mich freudig. Ja, es will und es wird etwas werden. Nur kräftig an jener Klinke gerüttelt und das Tor geht auf.[125]

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920], S. 118-126.
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