XXII

[211] Am nächsten Tag – wie es ihm gestattet worden – und an den nächstnächsten kam Bresser wieder.

Fast niemals traf er Sylvia allein; aber wenn auch ein Dutzend Menschen trennend zwischen ihnen war, die beiden Liebenden wußten sich zu finden, durch beziehungsvolle Worte, durch stumme Blicke oder auch durch den Kontakt gleichgestimmter Gedanken und gleichschwingender Wünsche. Im Tete-a-tete waren sie einander eher ferner, denn da überkam sie beide eine eigene Schüchternheit und Angst. Und diese Angst zu vertreiben, sprachen sie mit erzwungener Kälte von gleichgültigen Dingen – so wie gespensterfürchtende Kinder im Finstern laut zu singen beginnen.

Hugo wußte sich geliebt. Dieses Bewußtsein erfüllte ihn mit so überwältigendem Glück, daß er nicht wagen wollte, die angebetete Frau durch ungestümes Werben zu erschrecken. Die Leidenschaft für Sylvia füllte ihm auch nicht – eben jetzt – die ganze Seele aus. Die Proben seines Stückes nahmen ihren Fortgang; dadurch war er in fieberhafte Aufregung versetzt. Vom Schicksal gerade dieser Dichtung, in die er sein Bestes gelegt, hing so furchtbar viel für ihn ab. Neben der Frage des Erfolges oder Mißerfolges an einer so entscheidenden Stätte, wie das Wiener Burgtheater, stand noch mehr auf dem Spiele: sein ganzes Selbstvertrauen; denn würde diese Arbeit durchfallen, so mußte er an seinem Talent verzweifeln; und umgekehrt, gefiel sie, so wäre ihm in seiner Kunst der weitere Siegesaufstieg sicher. Und die aufregendste[211] Alternative von allen: vor ihr, vor Sylvia, als gefeierter Dichter oder als durchgefallener Autor dazustehen – sie zu glühender Bewunderung hinzureißen oder zu mitleidiger Enttäuschung stimmen ... Er wohnte sämtlichen Proben bei und übte strengste Selbstkritik. Vieles erschien ihm matt und farblos und im Lauf der Proben nahm er verschiedene Striche und Änderungen vor. Bei Tag und Nacht feilte er noch in Gedanken an dem Werk.

Sylvia indessen, die keine solche Ablenkung hatte, war mit ihrer Seele im Banne ihrer neuen, täglich wachsenden Leidenschaft. Sie wehrte sich umso weniger gegen deren berauschende Macht, als Hugos ehrfurchtsvolle Zurückhaltung sie in Sicherheit wiegte. »In Reinheit durchs Leben gehen« – diesem Vorsatz durfte sie nicht untreu werden, aber da war keine Gefahr; ihr Dichter selber, das war ja ersichtlich, mischte kein profanes Begehren in seine Herzenshuldigung – auch er liebte »in Reinheit«.

»Sylvia, ich möchte ein ernstes Wort mit Dir reden« – damit trat eines schönen Tages Delnitzky in das Zimmer seiner Frau, die eben beschäftigt war, in einem Bande Bresserscher Gedichte zu lesen.

Sie blickte überrascht auf. Der Umgang der beiden Gatten war seit letzter Zeit ein ganz förmlicher geworden; nur in Anwesenheit anderer sprachen sie mit einander, unter vier Augen hatten sie sich nichts zu sagen, am allerwenigsten »ernste Worte«.

Sie legte das Buch aus der Hand: »Was gibt's?«

Anton setzte sich neben den Tisch an der Seite ihrer Chaiselongue und schaute das weggelegte Buch an.

»Aha, das stimmt,« brummte er.

»Was stimmt?«

»Diese Lektüre – mit den Dummheiten, die Du machst.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du läßt Dir von diesem Skribifax die Cour[212] machen – die ganze Stadt spricht schon davon, und wie steh' ich da?«

»Wie Du dastehst? – verzeih, das weiß längst die ganze Stadt, vor der ist es kein Geheimnis, daß Du –«

Er ließ sie nicht ausreden:

»Das ist was anderes ... wenn über mich getratscht wird, so hat das weiter keine Bedeutung – ich bin ein Mann. Aber ich kann nicht dulden, daß meine Frau Anlaß zu übler Nachrede gibt, und ich verbiete einfach –«

Jetzt sprang Sylvia auf.

»Du, mir? Dazu hast Du das Recht verwirkt. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und ich lasse mir nichts verbieten.«

»Na, na, echauffier' Dich nicht so. Daß Du Dir nichts vorzuwerfen hast, glaube ich ja – ich kenn' Dich als viel zu wohlerzogen, als daß Du – und besonders mit so jemand – Dir was vergeben würdest. Aber Du kompromittierst Dich – und damit auch mich ... Ein guter Freund hat mir's gesteckt – und ich denke, es genügt, wenn ich Dich aufmerksam mache, daß die Leute reden ... da wirst Du von selber der Sach' ein End' machen und mir dankbar sein, daß ich Dich rechtzeitig gewarnt hab' ... denn was kann einer Frau teurer sein als ihr guter Name? Schon Skandal genug in der Familie, daß der Rudi solche Narrheiten macht und ganz vergißt, was er seinem Rang schuldig ist.«

»Kein Wort mehr über meinen Bruder!« rief Sylvia zornig.

»Wenn ich auch nichts reden würde, die übrige Welt nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Man bedauert die arme Baronin Tilling, daß ihr Sohn ihr so wenig Ehre macht – so soll doch wenigstens die Tochter ... Kurz« – er stand nun auch auf – »Du verstehst mich schon – das Ganze ist ohnehin peinlich, reden wir nicht mehr[213] davon ... Verbiete dem preußischen Zigeuner das Haus – das ist ja ganz einfach.«

Bleich und zitternd stand Sylvia da. Sie rang nach Worten, fand aber keine.

Er nahm einen gemütlichen Ton an: »Brauchst Dich nicht weiter zu alterieren – die ganze G'schicht' kann dann vergessen sein« – und er schritt der Tür zu.

Sie blickte ihm nach, noch immer stumm. Die Klinke in der Hand, drehte er den Kopf zurück:

»Also ausgemacht? – Keine Antwort? Mir auch recht.«

»So, da kommt ohnehin die Mama – küß die Hand, Mama, kommst gerade recht ... Die Sylvia ist ein bissel aufgeregt, weil ich ihr einen guten Rat gegeben hab' ... sie soll's Dir erzählen ... Wie ich Dich kenne, wirst Du mir recht geben – ich laß Euch allein. Adieu.«

Martha erschrak über den Gesichtsausdruck ihrer Tochter. Es lag etwas darin, was sie vorher niemals an ihr gesehen; die Augen sprühten unheimlich und die Lippen bebten wie in verhaltenem Zorn. Sie blieb regungslos. Martha ging auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Achsel.

»Was ist denn geschehen? Habt Ihr einen Auftritt gehabt? Wegen Fräulein Irma?«

»Nein, wegen Hugo Bresser.«

»Ah so« – sagte Martha gedehnt. Sie ging hin und setzte sich. »Und Toni sagte, ich würde ihm recht geben ... ich gestehe, Sylvia, daß ich heute auch die Absicht hatte, mit Dir über denselben Gegenstand zu reden.«

Sylvias Atem ging noch immer kurz. Das Zittern ihrer Lippen hatte nicht aufgehört. Jetzt ließ auch sie sich in einen Fauteuil sinken, der Mutter gegenüber.

»Laß hören,« sagte sie.

»Ich möchte vorher wissen, was zwischen Dir und Deinem Mann vorgefallen – und aus welchem Anlaß ...[214] Du hast Dir doch nichts zu schulden kommen lassen ... Warum bist Du so verstört?«

»Weil ich empört bin, empört! Dieser Mensch, der mich seit Jahr und Tag betrügt – nein nicht einmal betrügt, sondern mir ins Gesicht die Treue bricht – der wagt es, mir Befehle zu erteilen, auf daß ich mich und ihn nicht kompromittiere – seine Ehre hängt also nicht von ihm ab, sondern von dem, was ich tue oder lasse ...«

»Das ist schon einmal so, liebes Kind – die Untugend eines Gatten gibt der Frau kein Recht, ihren eigenen Ruf aufs Spiel zu setzen ... Wenn es in der Welt hieße, daß dieser junge Bresser –«

»In der Welt, in der Welt! ... das ist doch nicht das höchste, diese ›Welt, in der es heißt‹ – diese blöde, widerspruchsvolle, ungerechte Welt, in deren Vorurteilsnetzen auch meine sonst so gedankenkühne Mutter gefangen ist – –«

»Aber Sylvia!«

»Ja, ja – den Militarismus, so das, worauf unsere ganzen Staaten ruhen, das, was unserer Fürsten Lieblingsbesitz und unserer Adelsfamilien Existenzgrundlage ist, das möchtest Du nur so wegblasen. – Die himmelschreiende Ungerechtigkeit aber in der Gesellschaft, mit Bezug auf die Pflichten von Mann und Frau, die siehst Du nicht – da soll man sich fügen, da sagst Du, ›es ist schon einmal so‹ ... Der Mann mag Liebschaften haben, soviel er will – ohne auch nur den Schein zu wahren, die Frau aber soll alles dulden, muß ihr Herz und ihre Sinne ersticken, ihrem Glück entsagen – nur damit die famose ›Welt‹ nicht tuschelt ... eine Welt noch dazu, die ihre Gesetze nicht einmal einhält, sondern täglich im Geheimen übertritt – geheim muß es nur sein ... Nein, Mutter, siehst Du nicht ein, daß da ein Unrecht, eine Knechtschaft herrscht, die mit den andern Formen von Sklaverei und Unglück sich messen kann, gegen[215] die Du Dich auflehnst, wie es mein Vater getan und wie Rudolf es tut!«

Martha war betroffen. In dieser Richtung hatte sie in der Tat niemals einem auflehnenden Gedanken Raum gegeben. Sie antwortete nichts.

Da sie ihrer Entrüstung Luft gemacht, fühlte sich Sylvia wieder ruhiger. Sie stand auf und ging zu ihrer Mutter hin:

»Im übrigen, Mama,« sagte sie, indem sie den Arm um Marthas Schulter legte, »sei mir nicht böse, und sei nicht besorgt. Ich habe mir wirklich nichts vorzuwerfen – aber von Anton lasse ich mir nichts befehlen.«

»Und von mir nichts predigen?«

»Auch das nicht, liebste Mutter. Ich kann und will allein fertig werden mit meinem Herzen und meinen Pflichten.«

»So gibst Du zu, daß Du Pflichten hast?«

»Die hat jeder – es kommt nur darauf an, gegen wen –«

»Du meinst, gegen sich selber?«

»Reden wir jetzt von anderen Dingen, bitte. Was hörst Du von Rudolf?«

Martha blieb nicht lange. Die Erregung und die Worte ihrer Tochter hatten sie erschüttert. Über die Sache weiter zu reden, nachdem Sylvia erklärt hatte, sie wolle allein mit sich fertig werden, ging nicht gut an und von anderen Dingen zu sprechen, war sie nicht aufgelegt. Also brach sie ihren Besuch vorzeitig ab.

Kaum war sie einige Minuten fort, als der Diener meldete:

»Herr Bresser.«

Sylvia mußte einen Aufschrei unterdrücken. Eine warme Woge schwellte ihr das Herz. Nach dem Vorgefallenen hätte ihr keine Nähe zugleich verwirrender und teurer sein können, als die Nähe des jungen Dichters. – Nach drei Seiten Bretterwände mit Nägeln und Mauern[216] mit Glasscherben und nur eine Seite frei, wo ein lichtübergossener Pfad hinausführte aus all dem Dunkel und auf diesem Pfad – bereit, ihr das Geleit zu geben: Hugo Bresser. So empfand sie in dieser Minute.

Hätte er seine Arme geöffnet – sie wäre hineingesunken und hätte dabei nicht den geringsten Skrupel gehegt, daß dies etwa nicht ›in Reinheit‹ geschehen.

Er aber, förmlich wie immer, verbeugte sich, und die kleine zitternde Hand führte er respektvoll an seine Lippen. Er bemerkte ihre Blässe und ihren ungewohnten Ausdruck.

»Sind Sie nicht ganz wohl, Gräfin?«

»O ja, ganz wohl. Setzen Sie sich, bitte.«

Er gehorchte. »Ich täusche mich nicht, Gräfin Sylvia, Sie sind in einer außergewöhnlichen Gemütsverfassung ... doch, ich habe keinen Anspruch auf Ihr Vertrauen.«

Sie antwortete nichts. Nach einer Weile sagte er leise:

»Sie sind nicht glücklich ...«

Und sie noch leiser: »Nein, nein, nein – glücklich bin ich nicht.«

»Sylvia!«

Zum ersten Male nannte er sie so. Sie schauerte, doch sie rügte es nicht. Sie hob nur die Augen und schaute ihn tief und rätselhaft an.

Unter diesem Blicke erschauerte nun er, und das lang zurückgehaltene Geständnis drängte sich hervor:

»Sie wissen doch, nicht wahr, Sie wissen es, daß –«

Sylvia erriet an seinem Gesichtsausdruck, an dem Ton seiner Stimme, was jetzt kommen sollte und sie unterbrach ihn mit einer heftig abwehrenden Handbewegung:

»Ich weiß, ich weiß – ich will's aber nicht hören ... nicht heute.«

»Wenn Sie es nur wissen, das genügt mir – heute.«

Die junge Frau stand auf und ging ans andere Ende[217] des Zimmers bis ans Fenster und lehnte die Stirn an die Scheiben. Eine schwüle Unruhe war über sie gekommen. Dazu eine Mischung von zwei ganz heterogenen Gefühlen, die nebeneinander ihr Sein durchdrangen, obschon sie sich gegenseitig aufheben sollten: – so unglücklich und so selig ...

Aber der gefährliche Auftritt sollte nicht verlängert werden; wieder trat der Diener ein, Besuch anzumelden – die Schwestern Ranegg.

Hugo nahm seinen Hut und ging – nicht heute war sein Tag. Nicht heute, aber – – er war nicht die Beute doppelter Gefühle – er war nur selig.[218]

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920], S. 211-219.
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