XXVII

[262] Nach dem Burgtheaterabend verbrachte Sylvia eine ruhelose, aber süß ruhelose Nacht.

Ihre Liebe hatte sich, das fühlte sie, zu einer mächtigen Leidenschaft entfaltet, zu etwas, gegen das es kein Ankämpfen mehr gab. Dem Geliebten hätte sie vielleicht noch entsagen können – aber ihrer Liebe nicht – ebenso wie man ja einen Trunk von sich weisen kann, nicht aber den Durst. Der brennt, ob man will oder nicht.

Schon lange hatte das Delnitzkysche Paar kein gemeinschaftliches Schlafzimmer mehr, Sylvia war also allein. Gegen zwei Uhr, da sie durchaus keinen Schlaf finden konnte, machte sie Licht. Sie warf die Decke von sich und sprang vom Bette herab. Ein langes, spitzenbesetztes Nachtgewand fiel ihr bis zu den Knöcheln und die nackten Füßchen verschwanden in dem flockigen Fell, das vor dem Bette auf dem Teppich lag.

Sie hüllte sich in einen warmen Schlafrock, nahm das Licht und ging in das Nebengemach – ihren kleinen Salon.

Was sie dort suchte, war Hugos Photographie, die unter anderen Bildern in einer Schatulle auf dem Tisch lag, und das in ihrem Schreibtisch verschlossene Heft der ihr gewidmeten Gedichte.

Sie nahm beides und ging damit ins Schlafzimmer zurück. Hier zündete sie die Kerzen am Toilettetisch und am Ankleidespiegel an. Sie wollte Helle um sich[262]

Auf dem Toilettetisch erblickte sie die Blumen, die sie am Abend an ihrem Kleiderausschnitt stecken hatte – nunmehr verwelkte, aber desto stärker duftende Tuberosen. Sie nahm das Sträußchen auf und sog dessen betäubenden Atem ein – das brachte ihr die ganze Stimmung des herrlichen Theaterabends zurück.

Dann setzte sie sich auf den Toilettesessel nieder, ihrem eigenen zurückgestrahlten Bilde gegenüber. Abwechselnd sah sie auf dieses und auf Hugos Photographie, blätterte in dem teueren Heftchen und küßte die sterbenden Tuberosen.

Was in den glühenden, so oft gelesenen Liedern stand, und was sie als ihr dargebrachte Huldigung hingenommen und als kunstvolle Poesie bewundert hatte – das verstand sie jetzt alles und glaubte es ihm. Was er von seiner Liebe sprach, das war ja auch von dem gleichen Gefühl diktiert, unter dessen Bann sie selber erglühte. Ebenso sehnsüchtig mußte er ihrer gedenken, wie sie seiner; ebenso tief unglücklich würde er sein, wie sie es wäre im Falle hoffnungsloser Trennung, ebenso überirdisch selig beide, wenn sie einander angehören ... Sie hatte Großes zu vergeben und zu versagen – in ihrer Hand lag das Glück und das Unglück zweier Menschen. Sie malte sich beides aus, in wonneschwülen und in schmerzlichen Bildern. Eine Zärtlichkeit überflutete sie, wie sie niemals ähnliches empfunden.

Nachdem sie eine Stunde so gesessen, wurden ihre Lider schwer. Süße Schlaflust befiel sie. Sie mußte sich aufraffen, um nicht auf dem Sessel einzuschlafen. Sie stand auf, verlöschte die Lichter, ließ den Schlafrock fallen und schlüpfte wieder unter die seidenen Decken.

Hugos Bild und Gedichte, sowie das Blumensträußchen hatte sie unter das Kopfkissen geschoben, und es währte kaum fünf Minuten, so lag sie in tiefem – aber nicht traumlosen Schlaf.

Um den Stuck-Plafond des Schlafzimmers lief eine[263] durch Rosenguirlanden verbundene Bande schwebender Amoretten. Als ob diese Rosen entblättert auf die Schläferin herabschneiten, so lind und so betäubend war der Traum, der sie umfing.

Vom Arm des Geliebten weich umschlungen, schaukelt sie in einer Barke auf saphirblauem See. Längs der Ufer Gärten und Terrassen, Haine voll rieselnder Blütendolden, Säulen und Statuen, weiße Pfauen und funkelnde Paradiesvögel, sprühende Fontänen – das Ganze in magische Farben getaucht, bald in Purpur eines Sonnenuntergangs erglühend, bald in violettem Glanz, als wäre über See und Land elektrisches Veilchenlicht ergossen; über der Barke ein goldenes Dach und auf ihrem Boden ein mit sterbenden Tuberosen überstreuter Teppich aus Hermelin. Kühlfächelnde Lüfte, und von weitem süße Musikklänge – ein Festesrausch für alle Sinne; aber jedes andere Entzücken überragend, das leidenschaftliche Vollglück ihrer Liebe – –

Vielleicht hatte dieser Traum mit allen seinen Bildern nur eine Sekunde ausgefüllt, aber im Gedächtnis der Erwachenden war's, als hätte er stundenlang gedauert. Als sie die Augen öffnete – es war schon Tag – da machte sie die schnell wieder zu, um sich den Traum zurückzurufen und ihn womöglich weiter zu träumen. Das Weiterträumen gelang nicht; aber das Zurückversetzen in seine Stimmung brachte ihr – als wär's ein Erlebnis, eine Offenbarung gewesen – ein neues Bewußtsein, eine neue Kenntnis, die Kenntnis eines Seligkeitsgrades, von dem sie bisher nicht geahnt hatte, daß ihr Lebensthermometer ihn erreichen könnte.

An diesem Morgen wollte sie nicht mit Anton zusammenkommen. Sie ließ sich die Frühstücksschokolade auf ihr Zimmer bringen, ebenso die Zeitungen. Sie verschlang die Berichte über die gestrige Erstaufführung. Es waren nur kurze Notizen in der Theater- und Kunstrubrik – die eigentlichen Besprechungen pflegen erst in[264] den folgenden Tagen die Feuilletons zu füllen – aber schon heute war in sämtlichen Blättern der volle Erfolg konstatiert und der Verfasser des toten Sternes als ein lebendiger, am Dichterhimmel glanzvoll aufgehender Stern begrüßt.

Sylvia labte sich an diesen Kritiken. Sie genoß das Lob, als wäre es eine ihrer Liebe erteilte Sanktion.

Und was nun? Lange blieb sie in Gedanken vertieft. Das Ergebnis ihres Nachsinnens war, daß sie ein Billett an Hugo schrieb, des Inhalts:

»Ich wünsche, ich befehle, daß Sie mir acht Tage fernbleiben. Bald erhalten Sie Aufschluß.«

Dann klingelte sie ihrer Jungfer, um sich in Straßentoilette zu werfen, ließ anspannen und fuhr zu ihrer Mutter.

Baronin Tilling, welche wegen starker Erkältung das Zimmer hüten mußte, und daher gestern verhindert gewesen, der Burgtheateraufführung beizuwohnen, war eben auch damit beschäftigt, in den Blättern die Kritiken zu lesen; es interessierte sie lebhaft, zu erfahren, ob der Sohn ihres treuen alten Hausfreundes Erfolg geerntet hatte. Sie saß in einem zum knisternden Ofenfeuer geschobenen Fauteuil, ein Tischchen mit den Zeitungen neben sich. Ihre Tochter erblickend, rief sie erfreut:

»Ah, Du bist's Sylvia – das ist schön von Dir ... Du kommst nachsehen, wie's mir geht? Nun, wie Du siehst: viel besser – ich habe da gerade über Bressers Stück gelesen ... Du warst ja drin – erzähle, wie war's? Aber was hast Du – Du siehst so eigentümlich aus, so feierlich? ...«

Sylvia hatte hastig Hut und Mantel abgelegt, sie war blaß und sichtbar erregt.

»Was ich habe? Das wirst Du gleich erfahren ... Und wie das Stück war? Wundervoll. Hugo ist ein Genius. Ich bete ihn an.«

»Kind, was redest Du?«[265]

»Soll man das nicht sagen dürfen? ... Seiner Mutter nicht? Seiner besten Freundin soll man's verschweigen, wenn ein großes Gefühl –«

»Ein verbotenes Gefühl, Sylvia.«

»Mutter, Mutter, ein solches – solches – Polizeiwort von Dir! Verbotene Gefühle kann es doch ebenso wenig – noch weniger geben als verbotene Meinungen! – Nur das Verkünden kann einem untersagt werden von irgend einem Büttel der offiziellen Ordnung und Moral – aber doch nicht von Martha Tilling!«

»Also sag', was Du mir zu sagen hast, mein Kind.«

Sylvia schob einen Schemel herbei und ließ sich zu Marthas Füßen nieder:

»Ich will's machen wie in alter Zeit ...«

Mit dem Rücken an Marthas Knie gelehnt, das Gesicht dem Zimmer zugekehrt, begann die junge Frau zu reden, leise, langsam, eintönig, in längeren und kürzeren Absätzen.

»Ich bete ihn an – und will die Seine werden.«

Martha unterdrückte einen Ausruf.

»Ich habe mir vorgenommen, Dich nicht zu unterbrechen,« sagte sie. »Sprich weiter.«

»Anton hat mir die Treue gebrochen, ich bin frei ... ›In Reinheit durchs Leben gehen‹: Das habe ich Dir geschworen – und auch mir selber ... und ich will es halten.

Mit keiner Lüge, keiner Falschheit werde ich mein Tun beschmutzen. Eine Larve vors Gesicht halten? Nein. Wessen hätte ich mich zu schämen? Im Gegenteil: stolz bin ich auf meine Liebe und stolz auf die seinige ... Sich verstecken, verschleiern? Nein. Im Gegenteil: ein Diadem setze ich mir auf.

O, meine hiesige Welt, mit der werde ich brechen müssen, das weiß ich wohl. Die würde mir mein stolzes Lieben nicht verzeihen. Ja, wenn ich mich versteckte, wenn ich meinen Mann und sie alle zu betrügen trachtete, und[266] sie durchschauten mich – dann wären sie voll Nachsicht ... etwas Geflüster, listiges Augenzwinkern – eine Nummer mehr auf der amüsanten Liste der chronique scandaleuse doch von der Besuchs- und Einladungsliste würden sie mich nicht streichen ...

So aber, wenn ich es verschmähen werde zu lügen – werde ich verpönt sein: ›Sie wissen schon? Die Sylvia Dotzky – mit dem jungen Dichter durchgegangen (sie werden es doch durchgegangen nennen), sollen in Italien leben – abscheulich!‹

Warum gerade in Italien? Das erzähle ich Dir später ... ich habe einen Traum geträumt – da war unserer Liebe solch ein Schauplatz gegeben voll südlicher Renaissancepracht ... vielleicht finde ich das an irgend einem italienischen See oder Meeresstrand. Und wie er da arbeiten und schaffen wird – in seiner Seligkeit die Welt bereichern, mit den Gaben seines Genius ...

Übrigens, zwei Menschen auf dem Gipfel des Glücks, ist das nicht auch schon eine Bereicherung der Welt ...

Ich danke Dir, daß Du mich nicht unterbrichst – aber ich kann mir denken, was Du nun einwenden wolltest: ›Wie lange soll der währen, dieser Glücksparoxismus? Was dann, wenn der Rausch verflogen, die Jugend geschwunden ist ... was dann?‹ – –

Nun, nach einem ›Dann‹, das hinter dem Ziele meiner und seiner Sehnsucht liegt, nach dem fragen wir wahrlich nicht. Sollte das Glück, wie ich es mir denke, nur die Dauer eines einzigen Maimondes haben, das würde hundert solche Existenzen aufwiegen, wie die, denen ich sonst entgegenvegetiere ...

Und dann, wer weiß? Für das Alter kann uns auch noch ein schöner Frieden blühen. Selbst den Satzungen der Welt können wir ihre Tribute entrichten. Ich kann ja auch Bressers Gattin werden – wie Cosima Bülow die Gattin Wagners geworden. Ich will mich von Toni scheiden lassen. Es wird hoffentlich nicht schwer sein; dann[267] kann er seine Geliebte heiraten und seinen Knaben – Du siehst, ich weiß alles – legitimieren.

Gibt er mir meine Freiheit nicht – nun dann nehme ich sie mir ... Als mein Recht. Ich lehne mich auf!

Daß eine Frau einem Mann, der sie für eine andere verlassen hat, für den sie selber auch keinen Funken Liebe mehr empfindet – ihre ganze Zukunft opfere, dabei ihr Herz ersticken muß: dieses abscheuliche Unrecht werde ich nicht erdulden. Ich lehne mich auf!

Damit werde ich nicht nur mir, damit werde ich – wie mit jedem Kampf ums Recht – der abstrakten Gerechtigkeit und meinen Leidensschwestern gedient haben.

Da wird immer so viel gezetert und gejammert über Ketten und Joche und Hörigkeiten ... Die Meinen – Du, Mutter, an der Spitze mit Deiner Auflehnung gegen den Krieg, und Rudolf mit seinem Feldzug gegen jegliche Gewalt ... aber das Jammern und Zetern hilft nicht: abschütteln muß man. An der Hörigkeit sind die Hörigen schuld mit ihrer sträflichen Geduld ... Ein gebeugter Nacken: ist das schön? Nein – schön ist das zurückgeworfene Haupt, das achilleische Lockenschütteln –

Mein Gott, Mama, ich rede etwas überspannt ... die Worte kommen mir so ... Seit Monaten und Monaten lese ich Gedichte und gebundene Sprache – und jetzt, in der Erregung, verfalle ich in diesen Ton ... Und doch, was ich vorhabe, Du wirst es gleich hören, ist nichts Überspanntes, Übereiltes – ist ein überlegter, ruhiger Schritt.

Ich will mit Toni in Ordnung kommen – ihm alles sagen, meine Freiheit zurückverlangen, Scheidung anbieten und dann – sollte er sich auch weigern – mir mein Leben einteilen, wie ich muß – ohne Heuchelei. So lange ich nicht alles geordnet und geklärt habe, will ich Bresser nicht wiedersehen. Es wäre mir – nach dem gestrigen Abend, nach dem heute Nacht geträumten Traum unmöglich – ich versichere Dir, einfach unmöglich –[268] ihm nicht ans Herz zu sinken. Und das will ich nicht, solang ich's nicht ›in Reinheit‹ tue, das heißt ohne Hehl wie ohne Reu.

Siehst Du, ich bin hierher zu Dir gekommen, um meinen Wahrheitsmut auf die Probe zu stellen, um ihn zu festigen ... Werde ich imstande sein, meiner Mutter alles zu sagen? Das fragte ich mich noch auf der Stiege ... Ich habe die Probe bestanden – und jetzt ist mir leicht und licht ums Herz.«

Sie stand auf und blickte ihrer Mutter ins Gesicht: »Nun möchte ich Deine Antwort hören.«

Martha legte den Kopf an die Fauteuillehne zurück und schloß die Augen.

»Bist Du böse?«

Ein tiefer Seufzer hob Marthas Brust.

»Meine armen Kinder –« sagte sie leise.

»Warum arm, Mutter?« Sie kniete wieder neben Martha nieder – »und warum denkst Du jetzt auch an Rudolf? Was hat sein Schicksal mit dem meinigen gemein?«

»Daß Ihr beide gleich zu bedauern seid. Beide fühlt Ihr das, was in Eurer Welt Euch umgibt, als unerträglich. Schranken ... Ihr wollt sie einrennen und stoßet Euch blutig daran.«

»Mag sein, aber wir bringen sie ins Wanken – desto besser für die, die nach uns kommen. Ich frage Dich nochmals: bist Du böse?«

Martha verneinte mit stummen Kopfschütteln. Sylvia küßte sie.

»Jetzt will ich gehen, Mama. Morgen komme ich wieder. Da wirst Du über alles nachgedacht haben und mir Antwort geben können. Jetzt bist Du zu erschüttert. Leb' wohl.«[269]

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920], S. 262-270.
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