XXXVI

[345] Mitternacht. Martha war mehrere Tage so wohl und kräftig gewesen, daß sie selber und auch ihre Umgebung es nicht mehr für nötig befunden, daß jemand bei ihr wache, und sie war allein in ihrem Schlafzimmer.

Sie fand aber keinen Schlaf und auch keine Ruhe. Eine eigene Beklemmung schnürte ihr die Kehle zu und eine eigene Bangigkeit beschlich ihr Gemüt. Sie machte Licht und setzte sich im Bette auf. Die liegende Stellung hielt sie nicht aus.

Sollte sie der nebenan schlafenden Jungfer klingeln? Nein – wozu? – sie brauchte ja nichts. Nur Luft. Die konnte sie sich selber verschaffen, wenn sie das Fenster öffnete; würde sie zu diesem Zweck die Jungfer rufen, so gäbe das gleich Alarm – es hieße: ein neuer Erstickungsanfall und das ganze Haus liefe zusammen.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffel und in einen auf dem Sessel neben dem Bett liegenden weiten, weichen Schlafrock und ging sachten Schrittes zu dem Fenster, dessen Flügel sie aufschlug.

Eine frische, nach Sommerregen duftende Luft kam hereingeströmt. Man hörte das Klatschen der dichtfallenden Tropfen auf das Laub und das Rieseln aus einer Dachrinne. Martha atmete in tiefen Zügen die feuchte kühle Luft ein und die Brustbeklemmung wich; die Gemütsbangigkeit aber blieb – verstärkte sich sogar zur Traurigkeit. Die Dunkelheit, das eintönige Geplätscher und selbst der starke Regengeruch hatten etwas so melancholisches[345] ... Ach nein, die Melancholische war sie selber – nicht die feuchte Sommernacht – und jetzt wußte sie auch – woher ihre Augen sich mit Tränen füllten, was die Ursache ihres Bangens war: der Gedanke an das Gestorben-, das Begrabensein ...

Sie machte das Fenster wieder zu, nahm das Licht und ging durch die offenstehende Tür in ihr anstoßendes Schreibzimmer, da wo alle ihre geliebten Reliquien waren und wo an allen Ecken und Enden die Andenken und Bilder Tillings standen und hingen. Hier wollte sie nun recht gründlich an den Tod denken – hier Abschied nehmen von ihren Erinnerungen und Abschied von sich selber.

Sie warf sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch und rückte das Licht so, daß sein Schein auf die große, gemalte Photographie Tillings fiel, die in einem Rahmen auf dem Tische stand. Das liebe Antlitz schien sie anzublicken.

»Mein Friedrich!« Langsam und heiß rannen die zwei Tränen, die ihr ins Auge getreten waren, über die Wangen herab.

Dann aber weinte sie nicht mehr. Nicht um zu trauern hatte sie sich hierher gesetzt; denken wollte sie; sich noch einmal vergegenwärtigen, was sie in der fingierten Todesstunde mit ihrem Sohn gesprochen; ob sie denn auch alles Wesentliche gesagt! – Nein, lange nicht alles. Was auch immer im Leben sie gesprochen oder geschrieben über die große Sache, die ihr auf dem Herzen lag, stets war ein Rest geblieben; stets war das am heftigsten Empfundene, das am klarsten Erkannte nicht ausgedrückt worden.

Vorhin, im Dunkeln, als sie im Bette lag und ein krampfhaftes Zusammenziehen ihres Herzens sie aus halbem Schlafe aufgeweckt, da war ihr mit einem einzigen Gedanken ein volles Verständnis aufgeblitzt für den ganzen Jammer der sich gegenseitig bedrohenden Menschheit[346] und gleichzeitig für die Erhabenheit des Ziels, solchen Jammer zu verscheuchen, für die einfache Erreichbarkeit des Ziels – so intensiv schmerzlich, was den Jammer, so freudig hell, was die Rettung betrifft – daß sie wähnte, jetzt und jetzt müsse sie auch die Formel finden ... aber während sie darnach mit den Gedankenfühlern tastete, war der ganze Bewußtseinszustand entschwunden. Jetzt, wo sie so dasaß, versuchte sie, sich ihn zurückzurufen – vergebens, andere Gedanken drängten sich heran: Sylvia, Cajetane – und mit aller Gewalt, wie immer, wenn sie so seelisch erregt war, eine Flut von Erinnerungen an ihren Verlorenen – aneinandergereiht alle die Bilder der an Glück und Schmerz so reichen Ehezeit ... Würde es sich süßer, leichter sterben, wenn er noch da wäre? Wenn sie in der letzten Stunde den Kopf an seine Brust lehnen könnte? Die arme, vor mehr als zwanzig Jahren zerschossene, längst verweste Brust ... Jetzt war die Reihe des Verwesens an ihr – zurück ins All, die getrennten Atome. Bei dem Gedanken »All« – es ist ja doch nur ein anderes Wort für Gott – durchrieselte sie ein Andachtsschauer. So blieb sie versunken; wenn sie auch um nichts bat – es war ein Beten.

Dann nahm sie Tillings Bild in die Hand. Daß sie beide einst so glücklich gewesen, daß sie einander so geliebt, das war eine unvertilgbare Wirklichkeit. Unvertilgbar auch die Idee, deren Hut er ihr übergeben, und die sie nun in die Hut ihres Sohnes gelegt. Wieder strengte sie sich an, eine geeignete Wortformel zu finden, in der sich jene Ideen einkapseln ließen, wie kostbare Tropfen Lebenselixiers in ein goldenes Fläschchen –

Draußen regnete es immer heftiger. Es hatte sich nun auch ein Wind erhoben, der den Guß an die Scheiben peitschte und sich pfeifend in die Kamine warf. Die klagenden Töne rissen Martha aus ihrem Sinnen heraus und verstärkten ihr Bangigkeitsgefühl ... Sollte sie doch rufen? Ihre Kinder würden ja herbeieilen, sie[347] zu beruhigen, zu trösten, ihre lieben, aber ach – so wenig glücklichen Kinder ... Nein, wozu ihren Schlaf stören, ihnen überflüssig Angst bereiten?

Die moralische Bangigkeit ging wieder in physische Beklemmung über. Ein heftiger Schmerz in der Herzgegend steigerte sich zu Atemnot und lautes Stöhnen entrang sich ihrer Brust.

Die Jungfer, die durch das Heulen des Windes schon früher erwacht war und unter der Tür den Lichtschein sah, hörte jetzt dieses Stöhnen und eilte ihrer Herrin zu Hilfe. Sie fand sie nach Atem ringend und nun geschah, was Martha so gern vermieden hätte, das Haus ward alarmiert.

Der Anfall dauerte aber nicht lange; bald lag Martha ganz ruhig atmend und schmerzbefreit auf ihrem Bett, das ihre Kinder und die anderen umstanden.

Der herbeigeholte Arzt des Ortes bat, man möge nach dem Wiener Professor telegraphieren und es wurde ein reitender Bote nach der Station gesprengt. Ebenso hatte Sylvia – einem gegebenen Versprechen gemäß – sofort an Cajetane eine Depesche geschickt.

Nach einer Stunde schlief Martha ein.

Schlief ein und erwachte nicht wieder. Ein Herzschlag hatte ihrem Leben ein sanftes Ende gemacht.


Mit demselben Zuge, als der Wiener Arzt, war am folgenden Nachmittag Cajetane Ranegg in Grumitz angekommen. Schon auf der Station erfuhren beide, daß alles vorüber sei.

Schluchzend betrat das junge Mädchen das Sterbezimmer und stürzte auf das Lager der Toten, an dessen[348] Seite Rudolf kniete. Sylvia saß in einiger Entfernung, das Gesicht in den Händen vergraben.

Rudolf stand auf und trat auf Cajetane zu. Ein Strom von Zärtlichkeit überflutete sein wundes Herz; er umschlang ihre Gestalt und weinte an ihrer Achsel.

»Sie hat Dich unendlich lieb gehabt, Cajetane,« sagte er.

Daß er mit diesem »Du« und mit dieser Umarmung sich verlobte, das fühlte er. Doch er fühlte es wie einen lindernden Trost, wie die Erreichung eines Hafens. – –

Am nächsten Abend – bei der Toten wachten Sylvia und Kolnos – ging das Brautpaar in denselben Laubgängen auf und nieder, wie neulich am Vorabend von Cajetanes Abreise.

Wieder dufteten die Violen so stark, aber diesmal hauchten sie dem jungen Mädchen ganz andere Dinge zu als neulich. Es mischte sich – was freilich Halluzination war – der Geruch der Wachskerzen dazu, die zu Häupten und zu Füßen der Aufgebahrten brannten – und so erzählten die Violen von unverhofftem Liebesglück und von düsterer Totenklage.

So wie damals schob er ihren Arm unter den seinen.

»Wir haben einen Lieblingswunsch der Verlorenen erfüllt, Cajetane,« sagte er.

Sie erschrak.

»Wie? – Vielleicht nur deshalb? ... Nur um ihren letzten Willen zu erfüllen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie hat nichts befohlen. Sie wußte nur, was mir frommt. Doch: eines hat sie mir auferlegt und habe ich ihr zugeschworen: meinem Lebenswerke treu zu bleiben. Bist Du darauf gefaßt, Kind, daß es gilt, mir Vertraute, Kameradin zu sein?«

»Ja, das will ich.«

»Weißt Du, daß Du da verzichten mußt auf Deine[349] ganze gewohnte Umgebung, auf den Beifall der Deinen, auf die Gemeinschaft mit ihnen?«

»Ja, das weiß ich.«

»Du wirst mir folgen müssen in andere Länder – und, wer weiß, nicht nur als freiwillige Reise – es ist ja alles möglich: vielleicht verkennt und verfolgt man mich und weist mich aus.«

»Alles will ich mit Dir teilen: auch die Verbannung, auch das Gefängnis – selbst den Tod.«

Er blieb stehen.

»Vielleicht den Sieg, Geliebte,« sagte er und drückte sie an sein Herz.


Harmannsdorf, Jänner 1901 – März 1902.

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920].
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