Zehntes Kapitel.

[225] Die Luggnaggier werden sehr gerühmt. Eine besondere Beschreibung der Struldbruggs. Gespräche des Verfassers mit einigen ausgezeichneten Personen.


Luggnagg wird von einem höflichen und großmütigen Volke bewohnt. Obgleich die Luggnaggier einigermaßen den Stolz besitzen, der allen östlichen Nationen gemein ist, so zeigen sie sich dennoch höflich gegen Fremde, besonders gegen solche, die am Hofe eine Stütze besitzen. Ich hatte viele Bekannte und darunter Personen von der besten Gesellschaft. Da ich nun auch stets von meinem Dolmetscher begleitet wurde, so war die Unterhaltung durchaus nicht unangenehm.

Eines Tages fragte mich ein Mann von Stande in einer großen Gesellschaft, ob ich die Struldbruggs oder die Unsterblichen des Landes gesehen hätte. Ich verneinte dies und bat, mir zu erklären, was diese Benennung, die sterblichen Geschöpfen erteilt würde, denn eigentlich bedeute. Der Herr nun sagte mir, es ereigne sich bisweilen, obgleich sehr selten, daß in einer Familie ein Kind mit einem runden roten Flecken an der Stirn, gerade über der linken Braue, geboren werde. Dieser Flecken aber sei ein unfehlbares Zeichen, daß es niemals sterben werde. Wie[225] er den Flecken beschrieb, war dieser ungefähr von der Größe eines silbernen Groschens, wird aber mit der Zeit weit größer und verändert die Farbe; im zwölften Jahre wird er grün und behält diese Farbe bis zum fünfundzwanzigsten, wo er dunkelblau wird; im fünfundzwanzigsten wird er kohlschwarz und so groß wie ein englischer Schilling, nachher aber erleidet er keine weitere Veränderung. Der Herr sagte: Diese Geburten seien so selten, daß es im ganzen Königreiche nicht mehr als elfhundert Struldbruggs beider Geschlechter gebe; darunter befinde sich ein kleines, vor drei Jahren geborenes Mädchen. Diese Geschöpfe seien keiner Familie eigentümlich, sondern ein bloßes Werk des Zufalls. Die Kinder der Struldbruggs seien ebenso sterblich wie die des übrigen Volkes.

Ich muß offen gestehen, daß ich diesen Bericht mit unaussprechlichem Vergnügen hörte. Da nun der Herr, mit dem ich sprach, das Balnibarbische verstand, womit ich sehr gut bekannt war, so konnte ich es nicht unterlassen, Ausdrücke zu gebrauchen, die vielleicht ein wenig zu übertrieben waren. Ich rief wie in Entzücken aus: »O glückliche Nation, wo wenigstens jedes Kind das Glück haben kann, unsterblich zu sein! O glückliches Volk, das so viele noch lebende Beispiele der alten Tugend erblickt und Lehrer besitzt, die es in der Weisheit früherer Zeiten unterrichten können!« Am glücklichsten vor allen sind aber jene ausgezeichneten Struldbruggs, die durch Geburt von jenem allgemeinen Unglück der Menschennatur ausgenommen sind, einen freien und ungefesselten Geist besitzen, weil sie die Last und die Niedergeschlagenheit der Todesfurcht nicht kennen. Ich drückte mein Erstaunen aus, daß ich noch keine dieser erlauchten Personen bei Hofe gesehen habe; der schwarze Fleck an der Stirn sei ja ein so auffallendes Zeichen, daß ich dies schwerlich übersehen hätte. Es sei unmöglich, daß ein so verständiger Fürst wie Seine Majestät sich nicht mit einer bedeutenden Anzahl solcher weisen und brauchbaren Ratgeber hätte versehen sollen. Vielleicht aber sei die Tugend solcher ehrwürdigen Weisen zu streng für die verdorbenen und[226] freien Sitten eines Hofes; wir machten ja häufig die Erfahrung, daß junge Leute zu eigensinnig und flüchtig seien, um sich durch den verständigen Rat der älteren leiten zu lassen. Da jedoch Seine Majestät mir die Gnade erteilt habe, den Zutritt zu ihrer königlichen Person zu bewilligen, so sei ich entschlossen, bei der ersten Gelegenheit ihr mit Hilfe meines Dolmetschers offen und weitläufig meine Meinung hierüber zu sagen. Ob der König meinen Rat gnädigst annehme oder nicht, so habe ich dennoch in diesem Punkte einen festen Entschluß gefaßt. Seine Majestät habe mir häufig eine Versorgung in ihrem Hause angeboten. Ich würde diese Gnade mit größter Dankbarkeit annehmen und mein Leben im Gespräch mit jenen uns überlegenen Wesen, den Struldbruggs, zubringen, wenn sie die Güte hätten, mich in ihrer Gesellschaft zuzulassen.

Der Herr, an den ich diese Worte richtete, antwortete mir (wie ich schon bemerkte, verstand er die Sprache von Balnibarbi) mit einem Lächeln, das man gewöhnlich zeigt, wenn man Unwissenheit bemitleidet: Es sei ihm sehr angenehm, eine Veranlassung gefunden zu haben, weshalb ich im Lande bleiben wolle; er bitte mich um Erlaubnis, der übrigen Gesellschaft meine Absicht mitteilen zu dürfen. Dies geschah; die Anwesenden unterhielten sich in ihrer Landessprache, wovon ich keine Silbe verstand; auch konnte ich an dem Ausdruck ihrer Züge den Eindruck nicht erkennen, den meine Worte bei ihnen erweckt hatten. Nach einem kurzen Schweigen sagte mir derselbe Herr: Seine Freunde und die meinigen (in dieser Art hatte er die Güte, sich auszudrücken) seien sehr erfreut über die verständigen Bemerkungen, die ich über das Glück und die Vorteile unsterblichen Lebens gemacht habe, und sie wünschten besonders zu erfahren, welchen Lebensplan ich mir gemacht hätte, wäre mir das Schicksal zuteil geworden, als Struldbrugg geboren zu werden.

Ich erwiderte, es sei nicht schwer, bei einem so reichhaltigen und angenehmen Thema Beredsamkeit zu zeigen; dies sei bei mir hauptsächlich deshalb der Fall, weil ich mich[227] oft an Phantasien ergötzt habe, was ich tun würde, wie ich mich zum Beispiel als König, als General, als Lord benehmen müßte; auch in dem Fall der Unsterblichkeit hätte ich mir bereits ein System gebildet, wie ich wirken und mir die Zeit vertreiben wolle, im Fall es mir möglich wäre, ewig zu leben.

Wäre ich so glücklich gewesen, als Struldbrugg in die Welt zu kommen, so würde ich mir, wenn ich mein eigenes Glück durch den Unterschied zwischen Leben und Tod erkannt hätte, auf alle mögliche Weise Reichtümer zu verschaffen suchen; durch Geschicklichkeit und gute Verwaltung könnte ich dann, nach vernünftiger Voraussicht, in ungefähr zweihundert Jahren diese so sehr vermehren, daß ich der reichste Mann des Königreichs würde; zweitens würde ich mich von meiner früheren Jugend an mit den Studien der Künste und Wissenschaften beschäftigen, wodurch ich zuletzt dahin gelangen müßte, alle anderen an Gelehrsamkeit zu übertreffen. Ferner würde ich jede Handlung und jedes Ereignis von Wichtigkeit notieren, die Charaktere der aufeinanderfolgenden Fürsten und Staatsminister und meine Bemerkungen über jede Einzelheit niederschreiben. Ich würde mir die verschiedenen Veränderungen der Gewohnheiten, Sprachen, Moden, Lebensarten und Vergnügungen merken. Durch alle diese Erwerbungen müßte ich ein lebendiger Schatz der Gelehrsamkeit und Weisheit und sicherlich das Orakel der Nation werden.

Ich würde mich nach sechzig Jahren nicht mehr verheiraten, sondern ein offenes Haus machen, jedoch immer noch Geld sparen. Ich würde den Geist hoffnungsvoller Jünglinge bilden und leiten und würde sie nach meiner Erinnerung, Erfahrung und Beobachtung durch viele Beispiele von der Nützlichkeit der Tugend im öffentlichen und Privatleben überzeugen. Meine gewöhnliche und dauernde Gesellschaft würde jedoch in einer Anzahl aus meiner unsterblichen Brüderschaft bestehen. Ich würde aus diesen ein Dutzend von den ältesten bis auf meine Zeitgenossen auswählen. Wenn es einigen davon an Vermögen fehlte,[228] würde ich sie mit passenden Wohnungen in der Nähe meines Gutes versehen und sie stets an meine Tafel laden. Ich würde dann nur wenige der trefflichsten Sterblichen hinzuziehen, deren Verlust ich, durch die Zeit verhärtet, mit geringem Kummer zu ertragen lernen müßte; die Geschlechter der Gegenwart aber in derselben Art ansehen, wie man sich über die jährliche Reihenfolge der Nelken und Tulpen in Gärten erfreut, ohne den Verlust der Blumen zu bedauern, die im vergangenen Jahre verwelkt sind.

Wir würden uns gegenseitig unsere Bemerkungen und Erfahrungen über den Verlauf der Zeiten mitteilen, Beobachtungen anstellen, wie die Verderbnis sich allmählich einschleicht, und bei jedem Schritt ihr widerstehen, indem wir den Menschen immerwährende Belehrung und Warnung gäben. Käme dieser Umstand zu dem starken Einfluß unseres eigenen Beispiels hinzu, so müßte dies die dauernde Entartung der Menschennatur verhindern, über die man sich so mit vollem Recht zu allen Zeiten beklagt. Zu allen diesen glücklichen Verhältnissen müßte noch das Vergnügen hinzukommen, daß man die verschiedenen Revolutionen der Staaten und Reiche, die Veränderungen der oberen und niederen Welt bemerkte; daß man alte Städte in Trümmer fallen und unbedeutende Dörfer sich zu Residenzen erheben sähe; daß man erblicken könnte, wie berühmte Flüsse sich zu seichten Bächen verminderten, wie der Ozean die eine Küste verließe und eine andere überschwemmte; wie man jetzt noch unbekannte Länder entdeckte; wie Barbarei die feinsten Nationen erdrücke und wie barbarische Völker sich zivilisierten. Ich würde dann die Entdeckung der geographischen Länge, des Perpetuum mobile, der Universalmedizin und anderer großer Erfindungen noch erleben, die zur größten Vollkommenheit gelangen müßten.

Wie wunderbare Entdeckungen würde man in der Astronomie machen, die dann unsere eigenen Voraussagen überleben oder bestätigen müßten! Man könnte die Wanderungen und die Wiederkehr der Kometen mit dem[229] Wechsel der Bewegung von Sonne, Mond und Sternen beobachten.

Ich sprach noch lange über andere Gegenstände, die mir der natürliche Wunsch eines endlosen Lebens und einer Glückseligkeit unter dem Monde sehr leicht an die Hand gaben. Als ich geendet hatte und als der Inhalt meiner Rede, wie vorher, der übrigen Gesellschaft übersetzt worden war, so entstand unter dieser ein langes Gespräch in der Landessprache, verbunden mit einigem Gelächter auf meine Kosten. Zuletzt aber sagte der Herr, der mein Dolmetscher war, die übrigen Anwesenden hätten den Wunsch geäußert, er möge mir einige Irrtümer berichtigen, auf die ich durch die allgemeine Schwäche der menschlichen Natur verfallen und deshalb auch nicht sehr zu tadeln sei. Die Rasse der Struldbruggs sei seinem Vaterlande eigentümlich, denn es fänden sich solche Leute weder in Balnibarbi noch Japan, wo er die Ehre gehabt habe, Gesandter Seiner Majestät zu sein; auch habe er dort bemerkt, daß die Einwohner beider Königreiche nicht glauben wollten, daß jene Tatsache möglich sei. Es scheine ihm, nach meinem Erstaunen, als er die Sache zuerst erwähnte, ich habe diese als eine durchaus neue erfahren, welche man kaum für glaublich halten dürfe. In den beiden erwähnten Königreichen, wo er während seines Aufenthalts mit einer großen Anzahl Personen ins Gespräch gekommen sei, habe er bemerkt, langes Leben sei ein allgemeiner Wunsch des Menschengeschlechts. Jeder, dessen einer Fuß schon im Grabe stehe, stemme sich mit dem anderen noch so stark wie möglich dagegen. Der älteste Greis hoffe, noch einen Tag länger zu leben, und betrachte den Tod als ein großes Übel, das die Natur ihn fortwährend zu vermeiden zwinge. Nur auf der Insel Luggnagg sei die Begierde zum Leben nicht so heftig, weil sie fortwährend Struldbruggs vor Augen hätten.

Der von mir aufgestellte Lebensplan sei unvernünftig und ungerecht, weil er eine immerwährende Blüte der Jugend, Gesundheit und Lebenskraft voraussetze. Kein Mensch könne jedoch so töricht sein, diese zu erhoffen,[230] wie ausschweifend er auch in seinen Wünschen sein möge. Die Frage handle sich deshalb nicht darum, ob ein Mensch stets in der Blüte der Jugend bei Gesundheit und Reichtum leben möge, sondern wie er ein ewiges Leben mit allen Nachteilen des Greisenalters führen werde. Zwar wollten wenige Menschen ihren Wunsch, bei so harten Bedingungen unsterblich zu bleiben, eingestehen; er habe jedoch in den beiden vorher erwähnten Königreichen, Balnibarbi und Japan, die Bemerkung gemacht, daß jeder Mensch seinen Tod noch etwas länger verschiebe, wäre sein Leben auch noch so weit hinaufgerückt. Er habe noch nie gehört, ein Mensch sei gern gestorben, ausgenommen in der Aufregung des höchsten Grades von Gram und Körperqual. Er berufe sich auf mich, ob ich nicht in den von mir bereisten Ländern dieselbe allgemeine Neigung vorgefunden habe.

Nach dieser Vorrede gab mir der Herr einen besonderen Bericht über die Struldbruggs im Lande. Er sagte: Jene Menschen handelten wie gewöhnliche Sterbliche bis zum dreißigsten Lebensjahre; hierauf würden sie jedoch melancholisch und niedergeschlagen, und diese Stimmung steige bis zum achtzigsten Jahre. Er habe dies durch ihr eigenes Geständnis erfahren; sonst würde er sich kein allgemeines Urteil haben bilden können, da nur zwei oder drei in einem Menschenalter geboren würden und da somit die Zahl der Struldbruggs sehr gering sei. Gelangten sie nun zum achtzigsten Jahre, das sonst in diesem Lande als äußerster Lebenspunkt angenommen werde, so zeigten sie nicht allein die Torheiten und Schwächen anderer Greise, sondern noch eine weit größere Anzahl davon, was durch die furchtbare Aussicht, niemals zu sterben, bewirkt würde. Sie wären nicht allein eigensinnig, grämlich, habgierig, mürrisch, eitel und geschwätzig, sondern auch der Freundschaft unfähig und für jede natürliche Neigung erstorben, die nie über ihre Enkel hinausgehe. Neid und ohnmächtige Begierde seien ihre überwiegenden Leidenschaften. Worauf sich aber ihr Neid besonders richtet, scheinen die Laster bei dem jüngeren Geschlecht[231] und das Sterben bei dem älteren zu sein. Gedächten sie der früheren Zeiten, so fänden sie zugleich, daß ihnen jede Möglichkeit des Vergnügens abgeschnitten sei; sähen sie ein Begräbnis, so beklagten und beneideten sie, daß andere in den Hafen der Ruhe gelangten, von dem sie selbst auf ewig ausgeschlossen sind. Sie erinnern sich, fuhr der Herr weiter fort, nur an die Dinge, die sie in ihrer Jugend und in ihrem Mannesalter beobachteten, und auch in diesem Punkte ist ihr Gedächtnis sehr unvollkommen. Was aber die Wahrheit und die Einzelheiten einer Tatsache betrifft, so ist es besser, sich auf die gewöhnliche Tradition als auf ihr Gedächtnis zu verlassen. Die Unglücklichsten unter den Struldbruggs sind aber die, welche kindisch werden und ihr Gedächtnis verlieren; diese finden mehr Mitleid und Hilfe, weil sie viele schlechte Eigenschaften nicht besitzen, die man bei den übrigen findet.

Wenn ein Struldbrugg ein Weib von seiner Art geheiratet hat, so wird die Ehe nach dem Gesetz des Königreichs aufgelöst, sobald der jüngere Teil das achtzigste Lebensjahr erreicht hat. Nach dem Rechte wird es nämlich für eine billige Nachsicht gehalten, daß denen, die ohne ihre Schuld dazu verdammt sind, ewig in der Welt zu leben, ihr Elend nicht durch die Last eines Weibes verdoppelt werde.

Sobald sie das achtzigste Jahr erreicht haben, werden sie als gesetzlich tot betrachtet. Ihre Erben folgen ihnen sogleich in ihren Besitztümern; nur eine kleine Summe wird für ihre Ernährung zurückbehalten, und die ärmeren werden auf Kosten des Staates ernährt. Nach dieser Zeit dürfen sie kein Amt, mit oder ohne Gehalt, verwalten, sie dürfen kein Grundstück kaufen oder pachten; auch wird ihnen nicht erlaubt, in irgendeinem Zivil- oder Kriminalprozeß als Zeuge aufzutreten, nicht einmal bei der Entscheidung über Grenzen und Marken.

Im neunzigsten Jahre verlieren sie Zähne und Haare, in diesem Alter fehlt ihnen bereits der Geschmack; sie essen und trinken, was sie erhalten können, ohne Vergnügen und Appetit. Die Krankheiten, an denen sie früher litten,[232] dauern fort, ohne sich zu vermehren oder zu vermindern. Beim Sprechen vergessen sie die gewöhnlichsten Benennungen der Dinge und die Namen der Personen, sogar von denen, die ihre nächsten Freunde und Verwandten sind. Aus demselben Grunde können sie sich nicht mehr mit Lesen vergnügen, weil ihr Gedächtnis vom Anfange des Satzes bis zum Ende nicht mehr ausreicht; hierdurch werden sie der einzigen Unterhaltung beraubt, deren sie sonst noch fähig sein könnten.

Da die Landessprache fortwährenden Veränderungen unterworfen ist, so verstehen die Struldbruggs des einen Zeitalters die eines anderen nicht mehr. Auch sind sie nach zweihundert Jahren nicht mehr imstande, irgendein Gespräch mit ihren Nachbarn, den Sterblichen, zu halten, wenn man wenige Worte ausnimmt. Somit erleiden sie auch den Nachteil, als Fremde in ihrem Vaterlande zu leben.

Dies war, soweit ich mich erinnern kann, der Bericht, der mir über die Struldbruggs gegeben wurde. Nachher sah ich fünf oder sechs von verschiedenen Zeitaltern, die mir von einigen meiner Freunde zu verschiedenen Malen vorgeführt wurden. Obgleich man ihnen sagte, ich sei ein großer Reisender und habe die ganze Welt gesehen, hegten sie nicht die geringste Neugier, um mir nur eine Frage vorzulegen. Sie baten mich nur, ich möge ihnen ein Slumskudask oder ein Geschenk zum Andenken geben, und dieses ist eine bescheidene Art des Bettelns, um das Gesetz zu umgehen, das ihnen Bettelei streng verbietet, weil sie vom Staate unterhalten werden, obgleich sie nur eine sehr kärgliche Nahrung erhalten.

Sie werden von jeder Volksklasse verachtet und gehaßt. Wenn ein Struldbrugg geboren wird, hält man dies für ein böses Vorzeichen. Man kann ihr Alter erfahren, indem man die Register um Rat fragt, die jedoch nicht über tausend Jahre hinaus geführt sind oder vielfach durch bürgerliche Unruhen zerstört wurden. Die gewöhnliche Art, ihr Alter zu berechnen, aber besteht darin, daß man sie fragt, an welche Könige oder große Personen sie sich erinnern[233] können, und daß man dann die Geschichte nachschlägt. Dies Verfahren ist untrüglich, denn der letzte Fürst, an den sie sich erinnern, hat seine Regierung vor ihrem achtzigsten Lebensjahre nicht begonnen.

Sie boten mir den scheußlichsten Anblick, der mir jemals vorgekommen ist; die Frauen waren aber noch furchtbarer anzusehen als die Männer. Neben den Entstellungen des Alters zeigten sie im Verhältnis zu ihren Jahren eine furchtbare Totenfarbe, die ich nicht beschreiben kann, und unter einem halben Dutzend erkannte ich bald die ältesten, obgleich der Unterschied ihres Alters nicht mehr als ein oder zwei Jahrhunderte betrug.

Der Leser wird mir sehr gern glauben, daß mein Wunsch eines fortdauernden Lebens auf Erden sehr herabgestimmt wurde. Ich schämte mich herzlich der angenehmen Visionen, die ich mir gebildet hatte, und dachte mir, kein Tyrann könne einen so schmerzhaften Tod erfinden, daß ich ihn nicht einem solchen Leben vorziehen möchte. Der König hörte alles, was zwischen mir und meinen Freunden bei dieser Gelegenheit vorgegangen war, und hatte die Güte, mich hierüber zu necken. Er wünschte, ich könnte ein paar Struldbrugg in mein Vaterland senden, um unser Volk gegen die Todesfurcht zu schützen; dies war aber, wie es schien, durch die Grundgesetze des Königreichs verboten, sonst hätte ich gern die Lasten und die Kosten des Transportes auf mich genommen.

Ich mußte zugestehen, daß die auf die Struldbruggs bezüglichen Gesetze des Königreichs auf den allerbesten Vernunftgründen beruhten und daß jedes Land unter ähnlichen Umständen zu demselben Verfahren gezwungen werden würde. Da nämlich Geiz die notwendige Folge des Greisenalters ist, so müßten diese Unsterblichen zuletzt die Eigentümer des Vermögens der ganzen Nation werden und sich dadurch die Regierungsgewalt verschaffen, die sie aus Mangel an Fähigkeiten nicht ausüben könnten, so daß der Untergang des Staates die Folge sein müßte.

Quelle:
Swift, Jonathan: Gullivers Reisen zu mehreren Völkern der Welt. Leipzig [o. J.], S. 225-234.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gullivers Reisen
Gullivers Reisen: Roman
Gullivers Reisen: Kinderbuchklassiker zum Vorlesen
Gullivers Reisen: Arena Klassiker für Erstleser
Gullivers Reisen (insel taschenbuch)
Gullivers Reisen

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon