19. Völlige Überlassung der Seele an Gottes Willen

[357] Mel.: Zu deinem Fels und großen Retter ... oder: O daß doch bald dein Feuer brennte ...


1.

Liebwerter, süßer Gotteswille,

Mein Ankergrund, mein sichres Schloß,

Des Geistes unverrückte Stille,

Ich schmiege mich in deinen Schoß.


2.

O Wille, der mein Wohl verlanget,

Ich geb' mich deiner Leitung hin;

Mein Grund an deiner Brust stets hanget

In still gelass'nem Kindersinn.


3.

Das Bitt're Gottes Will' versüßet,

Gut, alles gut, wenn der geschicht;

Das Beste, so man je genießet,

Schmeckt ohne diesen Willen nicht.
[357]

4.

Wenn Welt und Sünd' und Teufel stürmen,

Gedenk' ich nur: Gott will es so,

Er wird dich stärken und beschirmen;

So werd' ich mutig, still und froh.


5.

Es mag Vernunft und Sinne rasen,

Das eigne Leben murre nur,

Mein tiefster Wille bleibt gelassen;

So stirbt der Wille der Natur.


6.

Kann ich im Finstern dich nicht sehen,

So halt' ich mich im Glauben still;

Dein Will' wird doch in mir geschehen,

Wenn ich nichts aus mir selber will.


7.

O willenloses Kinderwesen,

Du engelreiner Seelenstand,

Dich hab' ich mir zum Zweck erlesen:

Da liegt mein Will' in Gottes Hand.


8.

O Gottes Wille, mein Verlangen,

Mein Brot in Mangel und in Pein,

O Gottes Will', nimm mich gefangen,

So wird mein Wille frei und rein!


9.

O Wille, mach' es nach Belieben

Mit mir in Zeit und Ewigkeit,

Gib Freude oder gib Betrüben;

Dich lieben ist die Seligkeit!
[358]

10.

Herr, hilf, ertöt das eigne Leben,

Die bittern Kräfte der Natur,

Daß ich dir ewig bleib' ergeben

Und deinem Willen lebe nur!


Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 357-359.
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