59. Reimbetrachtung über den 25. Psalm Davids

[458] In gewöhnlicher Melodie


1.

Herr, zu dir, zu dir, dem Treuen,

Ich die matte Seel' erheb'

Aus den Sünden und von neuem

Mich aufrichtig dir ergeb';

Ich vertrau auf dich allein,

Nicht auf meinen Witz und Werke.

Du, mein Gott, du sollst es sein,

Deine Gnade, Geist und Stärke.
[458]

2.

Laß mich nicht zuschanden werden

Im Vertrauen, laß mich nicht,

Wenn die schlechte Lust der Erden,

Wenn der schwache Feind anficht,

Daß mein Feind sich meiner noch,

Wenn ich fiele, nicht erfreue!

Keiner wird zuschanden doch,

Wer nur harret deiner Treue.


3.

Aber ach, dies wird zuschanden,

Trauen ohne Treu und Grund;

Wer noch liebt der Sünden Banden,

Hat den Glauben nur im Mund.

Mach in mir zuschanden gar,

Was mir Treu und Glauben mindert,

Was mich reizet hier und dar,

Was mir Kraft und Fortgang hindert!


4.

Herr, zeig du mir deine Wege,

Denn mein Licht ist gar gering,

Lehre mich die schmalen Stege

Der Verleugnung aller Ding',

Laß mich auch dabei in dir

Und in deiner Wahrheit wandeln,

Da dein Licht mich für und für

Lehre nach der Wahrheit handeln!


5.

Denn es hilft mir doch nur einer,

Der bist du, mein Gott, mein Teil,

Ja, du bist es und sonst keiner,[459]

Meiner Seele Trost und Heil.

Wo ich bin den ganzen Tag,

Harr' ich dein und deiner Lehre;

Dies allein ist meine Klag',

Daß ich dich nicht find' noch höre.


6.

Herr, gedenk an dein Erbarmen;

O du zartes Mutterherz,

Stärk mich Schwachen, hilf mir Armen,

Schaue deines Kindes Schmerz!

Denk an deine große Güt',

Die von Anfang ist gewohnet,

Nicht so leicht zu werden müd',

Die des Sünders gern verschonet!


7.

Wollest nicht im Zorn gedenken

Meiner Jugend Sünden schwer

Und mein Übertreten schenken,

Das mich nun betrübt so sehr;

Denk nach dein'm Erbarmen mein,

Nicht nach dem ich's hab' verdienet,

Nur um deiner Güt' allein

Sei, o Herr, mit mir versühnet!


8.

Gütig ist der Herr dem Sünder,

Der die Sünden fühlt und haßt,

Fromm und treu ist er nicht minder,

Uns zu helfen von der Last;

Darum unterweist er doch,

Locket, treibet und ermahnet[460]

Auch die größten Sünder noch

Auf den Weg, den er gebahnet.


9.

Ja, er leitet die Elenden,

Die sanftmütig, still und schlecht

Sich nach seinem Winken wenden,

Daß sie wandeln immer recht.

Die mit stillem, sanftem Mut

Ihm so folgen ohne Sorgen,

Lehrt er, was sonst keiner tut,

Seinen Weg, der so verborgen.


10.

Güte sind des Herren Wege

Und auch Wahrheit, was es tut;

Seine Gaben, seine Schläge,

Alles ist gar recht und gut,

Die nur seinen Bund so fort

Halten, da sie sich verschrieben,

Und sein Zeugnis, Geist und Wort

Suchen und aufrichtig lieben.


11.

Herr, um deines Namens willen

Und in Jesu Blut allein

Woll'st du mein Gewissen stillen

Und mir Armen gnädig sein;

Gnädig meiner Missetat,[461]

Denn sie ist so groß und schwere,

Daß ich, ohne deine Gnad',

Ewig schon verstoßen wäre!


12.

Wer ist nun der Mann vor andern,

Der den Herren wie ein Kind

Fürchtet und stets sucht zu wandern

Vor und mit ihm ohne Sünd'?

Den wird er auch weisen wohl

Auf dem besten Wege weiter,

Wie er ihm sich lassen soll,

Seinem Gott und treuen Leiter.


13.

Dessen Seele wird im Guten,

In Gott selber, ruhen sacht,

Mehr vergnügt, als wir vermuten,

Selbst auch in der Leidensnacht;

Und sein Same, der durch ihn

Auch die Kindschaft möcht' erwerben,

Soll das Land noch zum Gewinn,

Gottes Reich und Ruh ererben.


14.

Das Geheimnis ist bei denen,

Gott wird solchen gar gemein,

Die sich stets an ihn gewöhnen,[462]

Die ihn fürchten ohne Schein;

Und für sie nur ist sein Bund,

Dessen Güter sie erfahren,

Ihnen will er's machen kund,

Ihnen sich selbst offenbaren.


15.

Meine Augen auf den Herren

Sind im Glauben stets gericht't,

Daß ich ohne auszukehren

Leb' vor seinem Angesicht;

Werd' ich so nur halten aus,

Dann wird er schon meine Füße

Führen aus dem Netz heraus,

Daß ich freie Luft genieße.


16.

Herr, so wende dich denn wieder

Auch zu mir mit einem Blick,

Sei mir gnädig, schaue nieder,

Dein betrübtes Kind erquick!

Denn ich einsam bin vor dir,

Ohne Trost in andern Dingen

Und so elend auch in mir,

Daß ich nichts kann tun noch bringen.


17.

Ach, die Ängste und Beschwerden

Meines Herzens nehmen zu;

Nichts im Himmel, nichts auf Erden

Gibt dem armen Herzen Ruh.

Nur, mein Heiland, deine Huld

Führe mich aus meinen Nöten;[463]

Du wollst mich von Sündenschuld

Und von Sündenmacht erretten.


18.

Schau doch an, laß dich bewegen

Dies, mein Elend und Beschwer!

Vor Mühseligkeit sich legen

Mut und Kraft, ich kann nicht mehr;

Und vergib in Jesu mir

Meine schweren Sünden alle,

Nimm sie weg, damit ich dir

Ohne Sünd' durch ihn gefalle!


19.

Schau nur an, so wird verschwinden

Meiner Feinde Macht vor dir,

Satan, Welt und andre Sünden,

Derer viele sind in mir;

Schau, sie hassen mich, nur daß

Meine Seele dich will lieben,

Und mit trotz'gem Frevelhaß

Mich anfechten und betrüben!


20.

Meine Seel' wollst du bewahren,

Die ich leg' in deine Hand,

Rette mich aus den Gefahren,

Laß mich werden nicht zuschand'!

Denn ich kehr' aus allem mich,

Meine Zuflucht zu dir nehme,

Ich verberg' mich ganz in dich,

Drum ich mich nicht fürcht' noch schäme.
[464]

21.

Laß mich dich allein stets meinen

Kindlich in Einfältigkeit

Und nichts reden, tun noch scheinen

Als nur in Aufrichtigkeit!

Wollest doch in der Gestalt

Mich behüten vor dem Bösen;

Denn ich harre dein: laß bald

Deine Gnad' mich ganz erlösen!


22.

Ja, o Gott, erlös daneben

Dein bedrängtes Israel,

Deine Kinder, die hier schweben,

Selbst aus allen Ängsten schnell;

Gott, du kennest alle ja,

Schaue die beklemmten Herzen,

Komm inwendig selber nah,

So verschwinden unsre Schmerzen!


Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 458-465.
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