7. Bild der christlichen Kindheit

[330] Mel.: Zeuch meinen Geist, triff ... oder: Hier legt mein Sinn ...


1.

O liebe Seele, könnt'st du werden

Ein kleines Kindchen noch auf Erden,

Ich weiß gewiß, es käm' noch hier

Gott und sein Paradies in dir.


2.

Ein Kindchen ist gebeugt und stille,

Wie sanft gelassen ist sein Wille![330]

Es nimmt, was ihm die Mutter gibt,

Es lebet süß und unbetrübt.


3.

Man hebt es auf, man legt es nieder,

Man macht es los, man bind't es wieder;

Was seine Mutter mit ihm macht,

Es bleibt vergnügt und süße lacht.


4.

Vergißt man sein, es ist geduldig,

Bleibt allen freundlich und unschuldig,

Durch Schmähen wird es nicht gekränkt,

An Lob und Ehr' es auch nicht denkt.


5.

Ein Kindchen kann in Lust noch Schätzen,

Noch andern Sachen sich ergötzen;

Man mach' es arm, man mach' es reich,

Es gilt ihm alles eben gleich.


6.

Der Menschen Ansehn gilt ihm wenig,

Es fürchtet weder Fürst noch König;

O Wunder, und ein Kind ist doch

So arm, so schwach, so kleine noch!


7.

Es kennet kein verstelltes Wesen,

Man kann's aus seinen Augen lesen;

Es tut einfältig, was es tut,

Und denkt von andern nichts als gut.


8.

Mit Forschen und mit vielem Denken

Kann sich ein Kind das Haupt nicht kränken,[331]

Es lebt in süßer Einfalt so

Im Gegenwärtigen ganz froh.


9.

Ein Kindchen lebet ohne Sorgen

In seiner Mutter Schoß verborgen;

Es läßt geschehen, was geschicht,

Und denkt fast an sich selber nicht.


10.

Ein Kindchen kann allein nicht stehen,

Geschweige, daß es weit sollt' gehen;

Es hält die liebe Mutter fest

Und so sich führ'n und tragen läßt.


11.

Und wenn es einst aus Schwachheit fället,

Es sich nicht ungebärdig stellet;

Man hebt es auf, man macht es rein,

Es geht hernach nicht mehr allein.


12.

Ein Kindchen kann nicht überlegen,

Es läßt sich heben, tragen, legen,

Denkt nicht an Schaden noch Gefahr,

Es bleibt nur überlassen gar.


13.

Ein Kindchen weiß von keinen Sachen,

Was andre tun, was andre machen;

Was ihm vor Augen wird getan,

Schaut es in stiller Unschuld an.
[332]

14.

Sein liebstes Werk und höchst's Vergnügen

Ist, in der Mutter Armen liegen,

Sie anzusehen spät und früh

Und sanfte zu umarmen sie.


15.

Es schätzet seiner Mutter Brüste

Mehr als die Welt und alle Lüste,

Da find't es, was ihm nötig ist,

Da schläft es ein und all's vergißt.


16.

O süße Unschuld, Kinderwesen,

Die Weisheit hab' ich mir erlesen!

Wer dich besitzt, ist hochgelehrt

Und in des Höchsten Augen wert.


17.

O Kindheit, die Gott selber liebet,

Die Jesu Geist alleine giebet,

Wie sehnet sich mein Herz nach dir!

O Jesu, bilde dich in mir!


18.

O Jesu, laß mich noch auf Erden

Ein solch unschuld'ges Kindlein werden;

Ich weiß gewiß, so kommt schon hier

Gott und sein Paradies in mir.

Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 330-333.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geistliches Blumengärtlein
Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen; Oder kurtze Schluß-Reimen, Betrachtungen und Lieder uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums ...: [Reprint of the Original from 1735]

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon