Avignon.

Den 8ten Januar.


Wirf Dich in den Staub nieder vor dem Blatte, das Du hier empfängst, Eduard! Folge in Demuth der stolzen Feder, die es berührt, und trenne es, als ein Heiligthum, von der Gemeinschaft der übrigen Blätter, wenn Du einmal so glücklich seyn wirst, mein Tagebuch zu besitzen. Welchen Genuß von Glorie opfere ich Dir nicht mit der Stunde auf, die ich Deiner Neugier widme! Fühle es einmal ganz, wie sehr ich Dein Freund bin!

Mein Wunder ist gethan, und ich bin frei! – nicht frei, wie ein entlassener Sklave, sondern wie ein König. Du nur hältst mich ab, daß ich nicht jetzt die Gassen durchfliege, und Tausenden, die, mir zur Seite, auf ihre Knie fallen, meinen Segen ertheile. – Was für ein mächtiger Sterblicher ist nicht ein Wunderthäter unter einem solchen Volke! Ich dürfte nur winken – und ich schmauste bei allen Prälaten dieses glücklichen Staats, und jede Mutter würde mir freundlich die Kammer ihrer beneideten Tochter eröffnen. Von dem Sonnenplatze an bis zum Grabe der Laura – wo ich nur weilte und wandelte, werden die Wege gekehrt und die Plätze geschmückt. Mein Haus ist umringt von Wallfahrern und von summenden Chören, wie das Haus zu Loretto. Auf der Treppe – auf dem Vorsaale lauern Schaaren von blühenden Jungfrauen, werfen mir Küsse und Blumen zu, so oft ich mich zeige, und bitten um das Gegengeschenk meiner Kreuze.

Und woher kommt denn dieser Unterschied zwischen Gestern und Heute? Woher diese zügellose Bewunderung – dieser Aufruhr von Ehrfurcht, die mich auf den wankenden Thron von Avignon heben? Wie entstand dieser schnelle Uebergang aus der Sklaverei[3] eines alten Weibes zu der Herrschaft über die Gemüther? Wie bildete sich diese Masse von großen Wirkungen? Wie entwickelte sie sich in dieser Spanne von Zeit? – Durch frommen Betrug! Du sollst es gleich hören, Eduard, wenn ich nur vor dem Lärmen der Hymnen, die aus allen Ecken zu meinem Ruhme ertönen, zum Worte kommen kann.

Der entscheidende Morgen war erschienen. Da trat Bastian, zitternd und blaß, wie der Diener des Kanzlers Morus, mir vor das Bette, fragte mich nach einer ernsten Pause, ob ich mich etwan in Schwarz kleiden wollte? und staunte mich an, und riß das Maul auf, wie eine Maske von Schlütern, an dem königlichen Schlosse zu Berlin, als ich ihm statt aller Antwort in das Gesicht lachte, und auf meine gewöhnliche Kleidung hinwies. Sobald ich mit meinem Anzuge fertig war, setzte ich mich in meinen Lehnstuhl, legte meine Uhr vor mir auf den Tisch, und sah dem Possenspiele, das meiner wartete, ruhig entgegen. Ich beschäftigte mich still mit der ungewohnten Rolle, die ich darin spielen sollte, überlas meine Rede, mochte wohl eine Stunde so da gesessen haben, und überzeugte mich eben auf meiner Uhr, daß ich nur noch eine bis zur Eröffnung meines Verhörs zu meinen fernern Betrachtungen übrig behielt – als sich die Thüren meines Gefängnisses entriegelten, und meine Ankläger, Richter und Zeugen herein traten – der Propst und der Prokurator, die alte Bertilia in der Mitte, und ihre Nichte zum Schlusse. Hatte mich ihr Besuch, den ich so früh nicht erwarten konnte, überrascht, so that es die kalte gerichtliche Würde noch mehr, die sie mitbrachten. Beides stand nicht in meiner Rechnung; doch ängstigte mich der jetzt sehr wahrscheinliche Fall am meisten, mein Schutzengel – der Domherr, möchte zu meiner Hülfe zu spät kommen.

Der Propst näherte sich gravitätisch dem Tische, warf sich in meinen Armstuhl, ohne die Verbeugung zu erwiedern, mit der ich ihm meinen weichen Platz überließ. Der Prokurator zog erst das Koncept seiner Rüge, dann – die fünf bis sechs Bogen aus seinem Busen, die zum Protokoll meiner Aussagen bestimmt schienen – legte seine Brille auf den Tisch, seine Akten darneben, und[4] pflanzte sich, so lang und dürr wie er war, zur Linken des wohl beleibten Präsidenten. Die keichende Tante schob ihren Stuhl an die eine Seite des Kamins, mitten unter die Beweise meines Verbrechens, auf die sie gallensüchtig hinblickte, ohne, zu meinem Glücke, zu ahnden, was für weit wichtigere sich eben so nahe bei ihr, unter der Büste eines Mannes versteckt hielten, der gar nicht wie ein Verräther aussah. Klärchen mit ihrer unbefangenen Miene, setzte sich, auf der Gegenseite, parallel mit ihrer würdigen Tante. So drängte mich von selbst die Ordnung, in der sie sich zu setzen beliebten, auf den einzigen Standpunkt, der mir zwischen den beiden Damen noch frei blieb. – Der Aschenhaufen der Kasuisten lag mir im Rücken, und der Kopf meines Freundes und Hehlers ragte hoch über dem meinen hervor, und blickte mit mir zugleich dem Propst in die Augen, ohne ihn in seinem Anstande irre zu machen. Er würde es übel nehmen, wenn man nur so etwas von ihm glauben könnte. So stand ich vor diesem Winkelgerichte, aus Mangel eines übrigen Stuhls, kerzengerade, und machte mir eine Weile den Spaß, durch mein schüchternes, gedemüthigtes Aussehn ihren gerichtlichen Hochmuth zu kitzeln. Als aber der Prologus die Federn – der Epilogus die Tinte gebracht – sich sogar der Prokurator gesetzt hatte, und der Propst sich schon anschickte zu sprechen, und noch immer kein Auge sich höflich nach einem Sitze für mich umsah – so erschreckte ich auf einmal die beiden Damen, die neben mir saßen, durch den vornehmen Anstand, in den ich überging – klingelte nach Bastian, und befahl ihm zwei Stühle zu bringen. »Es ist schon an Einem zu viel,« rief der strenge Richter ihm nach; aber Bastian benahm sich so ungeschickt, daß er auf Gefahr des Kirchenbanns meinen Befehl pünktlich befolgte.

Stille Erwartung herrschte nun in unserm Kreise, und der Propst fing zur Einleitung an, uns die Absicht dieser Zusammenkunft bekannt zu machen, ob sie uns gleich allen mehr als zu gut bekannt war, und die Pflichten und Rechte, die ihm, als Aufseher aller milden Stiftungen, in diesem Hause zuständen, mit geheimem Wohlgefallen zu zergliedern. Ich merkte es dem Narren bald ab, daß er mit dem, was er seinem Richteramte schuldig zu seyn glaubte,[5] zugleich die Nebenabsicht verband, den hohen Vorzügen seines Verstandes und dem Talente seiner beredten Zunge gegen einen Ausländer die möglichste Ehre zu machen, und dem armen Sünder noch einen großen Begriff von seinem erhabenen Genie und seiner Wohlredenheit mit auf den Weg zu geben. Wir stimmten dießmal vortrefflich zusammen; denn mir war viel zu viel daran gelegen sein Geschwätz zu verlängern, als daß ich den geringsten Anstand hätte nehmen sollen, jede noch so schiefe Wendung, die er seinen Sätzen gab, mit dem beifälligsten Lächeln – jede noch so schwülstige Redensart mit einem Blicke des Erstaunens zu belohnen. Ja, als er sich einmal in einer Periode so hoch verstieg, daß er einen Brocken nach dem andern ergreifen mußte, um sich nur mit Ehren wieder herunter zu helfen, und der Schwall von Worten, die ihm darüber nachrollten, das unleidlichste Geklirr in meinen Ohren erregte – war ich boshaft genug, daß ich wie begeistert mich seitwärts nach dem guten Rousseau umwendete – ihn mitleidig ansah, und die Achseln zuckte. Nie habe ich so grob einem Wortkrämer geschmeichelt; aber nicht weniger selten war auch die Wirkung, die es hervorbrachte. Wenn ich ihn sinken sah, durfte ich nur einen recht treuherzigen Blick der Erwartung und Aufmerksamkeit auf ihn schießen, so trieb ich ihn damit auf wie einen Kreisel, daß er mit erneuerter Schnellkraft noch eine gute Weile fortlief. Ich wiederholte das Spiel mehr als Einmal mit innerm Vergnügen. Je länger es dauert, dachte ich, desto weniger wird sich der Domherr versäumen. Zuletzt aber ging dem Ehrenmanne im ganzen Ernste der Athem aus. Er konnte kaum noch ein paar Worte heraus bringen, womit er die genauere Entwickelung meiner peinlichen Anklage dem Prokurator anheim gab.

Dieser schwarzbraune Kerl, wie er von seinem Sitz in die Höhe fuhr, verdunkelte sich noch um eine Schattierung mehr, setzte hastig seine Brille auf, und machte, das Koncept in der Hand, seine gedrohte Beredsamkeit flott.

Da ich das Spiel, wodurch ich mir den Vortrag des Präsidenten erträglich machte, bei der studierten Chrie des Prokurators nicht anbringen konnte, so würde mich die lange Weile getödtet[6] haben, die sie mir verursachte, hätte sie mir nicht Gelegenheit gegeben, mir das schönste Kompliment über meinen Scharfsinn zu machen, durch den ich schon gestern Abends alles errathen, und bereits in meiner Gegenrede beantwortet hatte, was der alberne Kerl diesen Morgen in Perioden auskramte, die lange nicht so geschmeidig waren als die meinigen. Ich gäbe nicht einen Dreier für die Abschrift seines Brandbriefs, und Du gewiß auch nicht! Auch setzte mich sein Geschrei mit allen den donnernden Ausfällen gegen die Widersacher des Glaubens nicht eher in Verlegenheit, als in dem Augenblicke, wo er es endigte. Sein Dixi gab mir einen Stich in's Herz. Ich mußte mich nun anschicken darauf zu antworten; und doch war, so lange der Domherr ausblieb, der Zeitpunkt noch nicht da, wo ich es mit dem gehörigen Nachdrucke thun konnte. Zwar hatte ich es durch mein Spiel mit dem Propste schon so weit gebracht, daß nur noch höchstens einige Minuten bis zum Eintritte dieses Planeten in unsern Kreis fehlen konnten; aber auch diese, wie hätte ich sie ausfüllen – wie hätte ich die Gefahr meines Stillschweigens abwenden wollen, wäre mir nicht in diesem kritischen Augenblicke, ein kleiner Vortheil, von meinen Schuljahren her, beigefallen, der bei vielen Gelegenheiten von der trefflichsten Wirkung ist.

Es ist so gar selten, daß man aus dem Schutte seiner ersten Erziehung einmal einen Splitter hervorzieht, der im wirklichen Leben anwendbar ist und einige Brauchbarkeit zeigt, daß ich mir nicht versagen kann, mich selbst zu unterbrechen, um Dich mit dem innern Gehalte meines Funds bekannter, und Dir die Freude begreiflich zu machen, die er mir verursachte. Dergleichen Kabinets-Stücke sind uns schon um deßwillen so kostbar, weil sie uns gewöhnlich unter Schlägen, Scheltworten und manchen ominösen Wahrsagungen anvertraut wurden, und uns, so oft wir sie wieder sehen, an den Nothzwang unseres jugendlichen Muthwillens, und an alle die Aufopferungen jener wahren Freuden der Kindheit erinnern.

Du hast den klugen Mann gekannt, lieber Eduard, dessen Unterrichte ich mein Bißchen Beredsamkeit verdanke. Da er selbst[7] bestimmt war wöchentlich einmal Reden an Schwache zu halten, so kannte er alle die berauschenden Mittel, um die Zuhörer taumelig, und ihnen weiß zu machen, daß sie überzeugt wären. Er hatte eine so sichere Geschicklichkeit erlangt, über jedes Thema, das man ihm vorlegte, für und dawider – gleich gut zu predigen, daß er nach den Gesetzen des Lykurg verdient haben würde, ohne Umstände aus dem Lande gejagt zu werden; und das ist doch wohl das Stärkste, was man zum Lobe eines öffentlichen Redners sagen kann. Gott habe ihn selig! Er hat mir die Kunst schicklich von nichts zu reden, gar sehr erleichtert. Unter einer Menge Modellen, die er immer aus allen Sprachen zur Unterstützung seines Unterrichts und als Beweise zusammen trug, wie man auf dem Strome der Worte eine Stunde fortschwimmen kann, ohne stecken zu bleiben oder zu sinken, war mir besonders Eins durch öfteren Gebrauch sehr geläufig geworden: denn nicht allein wurden in jüngern Jahren alle meine Standreden an den Geburtstagen meiner Aeltern darnach geformt; sondern selbst an dem wichtigen Tage, wo ich in den Schooß der christlichen Kirche aufgenommen wurde, ordnete ich mein Glaubensbekenntniß darnach, und erbaute die ganze Gemeinde. – Seitdem ist mir freilich nur noch ein einzigesmal eine Gelegenheit aufgestoßen, dieses schöne Muster zu nutzen; und das war bei Eröffnung eines Landtags, bei dem ich, unschuldiger Weise, als Deputirter meines Kreises erschien. Auch da zog mir die getreue Nachbildung meines schönen Originals die größten Lobsprüche des Ministers und die Schmeicheleien der anwesenden Stände zu. Du kannst beurtheilen, Eduard, ob ich sie verdiente, wenn Du jetzt meine Antwort an den Prokurator hören wirst, in der ich mich ganz an jene beredte Vorschrift, und um so viel lieber hielt, da sie einen französischen Schriftsteller1 zum Verfasser hat, der die Art[8] wohl kennen muß, wie man seine Landsleute am besten behandelt. Ich erhob mich mit Würde von meinem Sitze, überblickte mit furchtlosen Augen den Zirkel der mich richten sollte, und mit der bedächtigen Stimme, die große Wahrheiten erwarten läßt, fing ich an:


Bedenk' ich, meine Herrn, die Unbeständigkeit

Der Menschen und der Welt, des Raumes und der Zeit,

Seh' ich in den Bezirk vergänglicher Gestalten

Oft einen Irrwisch sich für einen Fixstern halten,

Seh, daß sich Licht und Recht um eigne Axen dreht,

Was früh im Aufgang war, des Abends untergeht,

Daß mit erborgtem Glanz, wenn sich die Sonne wendet,

Ihr prahlender Trabant noch unsre Augen blendet;

Geh' ich die Vorzeit durch, und seh' am Tiberstrand

Dort einen Zwerg sich blähn, wo sonst ein Riese stand;

Hör' ich des Schicksals Ruf aus großen Trümmern schallen,

Da selbst der Riese fiel, wird auch der Zwerg wohl fallen;

Des Bonzen Fischerring wird ein gemeiner Stein,

Als Splitter nur berühmt verlorner Künste seyn;

Steig' ich dann in mich selbst, tief in mein Herz, und hebe

Sein flatterndes Gewand, sein blendendes Gewebe,

Und seh', aus welchem Teig von Trug und Heuchelei

Und Stolz die kleine Welt, der Mensch, geknetet sei,

Geh die Geschichte durch, und seh, daß mit einander

Wir, vom Thersites an bis zu dem Alexander,

Nur leichten Federn gleich in ungewissem Wind,

Des Zufalls Gaukelspiel und niemals unser sind,

Und daß, so hoch ein Propst sein Hirtenämtchen achtet,

Und seine Schafe schiert, und ihre Milch verpachtet,

In mancher schwülen Nacht das Pallium schon trägt,

Und sich zum Bischof träumt und seine Kreuze schlägt,

Und wenn sich Miethlinge in seinen Schafstall schleichen,

Die Hörner des Altars – – – Doch dixi! Es entweichen

Begriff' und Worte mir – Mein Engel zeigt sich jetzt

In stolzer Purpurtracht mit Hermelin besetzt.


Es war auch hohe Zeit, daß er erschien; denn ich weiß nicht, was sonst aus meiner feurigen Rede und dem Eindrucke möchte geworden seyn, der schon anfing sich auf den verzogenen Gesichtern meiner Zuhörer zu zeigen. Garrick, sagt man, konnte das Alphabet[9] mit so rührendem Accente aussprechen, daß alle die ihm zuhörten in Thränen zerflossen. Ohne meine Rede, ihres bessern Zusammenhangs wegen, zu loben, that sie doch, ich muß es sagen, eine nicht minder große Wirkung. Der Probst gerieth in augenscheinliche Unruhe, ließ einmal mehr als der durch Cicero's Beredsamkeit erschütterte Cäsar, das Schnupftuch fallen – warf bei einigen starken Stellen Blicke des ungeduldigsten Zorns auf mich – Blicke eines wüthenden Erstaunens auf das arme Klärchen, das darüber, außer aller Fassung gesetzt, immer höher erröthete, und eben im Begriff war das Weite zu suchen, als der Eintritt des Domherrn meine Rede, die, nach ihrer künstlichen Einrichtung, einer Schraube ohne Ende nicht unähnlich war, zum Stillstande, und jedes zu bewegte Herz wieder in's Gleichgewicht brachte. Das Gericht erhob sich, um diesen eben so unerwarteten als vornehmen Beisitzer zu bewillkommen. Ich lief ihm entgegen, umarmte ihn mit der vertraulichsten Anmaßung, nannte ihn einmal über das andere meinen Freund, meinen Erretter, und – »Kommen Sie,« rief ich mit angstvoller Stimme, »und wenden Sie die unbeschreibliche Gefahr ab, die in diesem Augenblicke über mir – noch weit mehr über Ihrer geheiligten Religion schwebt. Der freundschaftliche Unterricht, edler Mann, durch den Sie mich an Sich fesselten – die Würde Ihres Standes, die Sie nicht um nichts in den Purpur der Könige kleidet, – der Glaube, die Liebe und Hoffnung, die Sie vor aller Welt bekennen – fordern Sie durch mich auf, Ihr Ansehn zu behaupten – Ihre Gewalt zu zeigen!« – Der Mann sah mich während dieses Ausfalls mit stummem Erstaunen an, und setzte sich in der größten Verlegenheit auf den Sessel, den ich in voraus für ihn mit dem meinen zugleich hatte herbei schaffen lassen. Der stolze Trotz auf dem Gesichte des Propstes – die gelbsüchtige Erwartung, die sich in den Augen des Prokurators malte – in den Runzeln der Tante herum irrte, und das Gemisch, Gott weiß welcher Empfindungen, auf den Rosenwangen der Nichte – verdienten wohl eine eigene Schilderung – Aber da müßte ich erst Zeit dazu – müßte Dir nichts wichtigeres zu erzählen, und diesen Mittag nicht Gäste zu erwarten haben. –[10] Froh bin ich nur, daß ich das wichtige Dokument meiner gerichtlichen Rede, auf das sich nun alles bezieht, fertig – und so wie ich sie gestern Abends zu Papier brachte, vor mir liegen habe, und sie nur da einzuschalten brauche, wo sie hingehört. Sie ist, wie Du finden wirst, nach einem ungleich häklichern Muster geformt, als ich vorhin – wo es auf weiter nichts ankam als Zeit zu gewinnen – meiner Beredsamkeit unterzulegen für nöthig fand. Man sollte kaum glauben, daß die beiden Modelle, die ich heute so gut benutze, aus einem und demselben Schranke kämen; und doch ist es wahr, nur mit Unterschied. – Jenes lag, mit einem Haufen anderer seines Unwerths, in dem untersten und gangbarsten Fache; dieses hingegen lag ganz einzeln in dem obersten. Es wurde für das non plus ultra der Rhetorik gehalten, und war nur auf die nicht gewöhnlichen Unfälle des menschlichen Lebens berechnet. Wenn das erste gut ist, wie Du gesehen hast, Eduard, die Laufgräben zu öffnen, so läuft man mit diesem hier Sturm. Der Meister, wenn er mit seinen Schülern bis an diese letzte Speiche der Redekunst kam, empfahl es immer mit den nachdrücklichsten Worten. »Ihr glaubt nun wohl, lieben Kinder,« sagte er mit einer feinen Ironie, die selbst, wie Du weißt, einer der stärksten Hebel in der Redekunst ist, »alle menschenmögliche Mittel in der Gewalt zu haben, um Euch in dem Sprachsaale der Welt fortzuhelfen. Aber, Eure Geschicklichkeit unbescholten, reicht sie – figürlich zu reden – bei allem dem nicht weiter, als ungefähr – die Mücken zu verjagen. Das ist nun zwar für das tägliche Leben ganz gut; denn dies unbequeemen Geschöpfe sind aller Orten zu finden. Wie aber, wenn Euch nun einmal – wer kann dafür stehen? – ein Löwe begegnet, oder ein Krokodill auf Euch lauert? Dann möchte Euch leicht Euer Kunststück mehr schaden als nutzen, und Ihr seid sicher verloren, wenn Ihr kein anderes Arkanum im Schubsacke habt, als eins – wider die Mücken.« – Und nun erst gab er uns dieß künstliche Gewebe in die Hand, begleitete unsere Betrachtung mit manchem Fingerzeig – enthüllte uns das versteckte Gerippe, das kraftlos darunter lag, um uns den Reiz der Einkleidung desto fühlbarer zu machen, durch die es allein[11] Leben und Stärke erhielt, und freute sich über unser kindisches Erstaunen.

Sobald sich Ankläger, Zeugen und Richter wieder in den Zirkel gesetzt hatten, trat ich auf –

»Das schönste Eigenthum unbefleckter Seelen,« hub ich mit der heitersten Miene an, die ich auffassen konnte, »das, über alle menschliche Eingriffe erhaben, allen Zufällen trotzt, ist das Gefühl ihrer Unschuld. Es erhöht ihre Freuden und verschönert ihr Glück. Aber erst in Widerwärtigkeiten zeigt es ganz, wie stolz, wie herzerhebend, wie unverletzbar es sei. Dann erst, wenn es den Rechtschaffenen bis vor die Schranken seiner Verfolger, in ihre Kerker, und zu den Strafen ihres ungerechten Urtheils begleitet, entwickelt es die edelsten Vorzüge seiner geistigen Natur. Alle andere menschliche Gefühle können geschwächt, in Schmerz erstickt – sie können vernichtet werden, außer diesem. Die schleichende Bosheit, die Rache des Lasters, kann dem Unschuldigen auflauern – kann ihn fesseln und tödten; aber ihn strafbar zu machen, liegt außer ihrem Gebiete. Der Trost seiner Rechtfertigung geht nicht nur mit ihm über die Gränzen des Lebens; mit unvertilgbaren Zügen läßt er sie selbst in den Herzen derer zurück, die zugleich mit seiner sterblichen Hülle die hohen Ansprüche seiner Seele der Vergessenheit zu überliefern gedachten. Der furchtbare Nachklang seines Rechts übertönt das Geräusch ihrer Geschäfte, durchzittert ihre schlaflosen Nächte, und bietet selbst in dem Freistaate des Schlummers die Rache der Träume wider sie auf. Sie ringen in ihren Festen umsonst nach dem armseligen Gewinn eines betäubenden Augenblicks. Ein qualvolles Leben, ein fortnagendes Gewissen, rächt den Unverletzbaren nur zu schrecklich an dem Verbrechen ihrer Gewalt.

O daß nicht immer der Bedrängte bis an diesen Triumph gelangen kann – nicht immer der Redliche nur unter feindlichen Händen erliegt! O daß der Allsehende, der Herzen und Nieren prüft, einen Theil seiner Sehkraft nicht auch den Wächtern verlieh, die er der Unschuld zum Schutze gesetzt hat, – daß die allgemeine Finsterniß, die unsern Erdball beherrscht, alle Wesen vermischt, und jede Wahrheit verhüllt, nur zu oft auch die Schritte selbst derer[12] mißleitet, die dem edeln Geschäfte ihrer Entdeckung vorstehen – und daß sich ein Fall denken läßt, den man nur nennen darf, um den ganzen Umfang seines Entsetzens zu schildern, den traurigen Fall, meine ich, wenn die Unschuld durch einen Fehlgriff der Gerechtigkeit erschreckt, und, gejagt von ihren Freunden, umsonst nach Beweisen arbeitet sich Ihnen kenntlich zu machen – wenn der Straflose, mit der Schuld äußerer Umstände belastet, schüchtern vor den Schranken edel denkender Richter steht, die ihn umarmen würden, hätte nicht das Schicksal einen zu dichten Nebel über den Abglanz seiner reinen Seele gezogen, wenn er sich verdrängt endlich – beschimpft und verrufen – aus der Verwandtschaft der Herzen verstoßen sieht, die ihm durch Sympathie angehören! In solchen schauderhaften Augenblicken zaget die Unschuld, und erschrickt über sich selbst. Traurigkeit tritt an die Stelle ihres Stolzes. – Ihr Gefühl, das sich minder vor dem Tod entsetzt, der ihre Nerven beschleicht, als vor der Verirrung der Hand, die ihr solchen auflegt, ermattet unter dem Kampfe, und erliegt. In ihrem Unvermögen, die Tugend ihrer Richter von dem Makel eines verfehlten Urtheils zu retten, wendet sie sich zum letztenmale gegen die Betrogenen mit jammernder Liebe, wünscht ihnen aus Großmuth die Fortdauer ihrer Verblendung, und flieht – unverletzt zwar, doch Gott! unter welchen Empfindungen, den Kreis ihrer irrenden Freunde, unbegleitet von mitleidigen Thränen, ungerächt und ohne Triumph.

Dieses, von meinem ersten Gemälde so abstechende Gegenbild, legt Euch, meinen Richtern, die grausame Lage meiner Verhältnisse gegen Euch dar, wie ich sie in ihrem ganzen bedrohenden Umfange fühlte, noch ehe sie mich vor Eure Schranken gebracht, noch ehe sie die Beredsamkeit meines redlichen Anklägers erweckt hat. Wie habe ich nicht in seiner vortrefflichen Rede die männliche Stärke bewundert, mit der er das Unglück eines Lasterhaften zu malen weiß! Er glaubte in diesem Augenblicke mein Gegner zu seyn – aber mein Herz konnte ihn nicht dafür halten. Wohl mir, daß ich seine Schilderung mir gegen über stellen und zergliedern kann, ohne zu erröthen! Sie ist meisterhaft schrecklich – aber sie[13] trifft mich nicht. Sie stellt mich mit den Farben der höchsten Wahrscheinlichkeit als einen Fremdling dar, der das geheiligte Recht der Gastfreundschaft gröblich beleidigte, der sich in dieses fromme Haus einschlich, um der Armuth ihr Eigenthum, der Religion ihre Stützen, und der Kirche ein Bollwerk zu rauben, das sie schon seit Jahrtausenden ihren Feinden so muthig als wirksam entgegen setzt. Sie überliefert mich den Gesetzen als einen Mordbrenner, den die verfolgende Rache des Himmels selbst an dem Orte seiner begangenen Frevelthat – selbst neben der Asche des kostbaren Gebäudes übereilt hat, dessen Vernichtung sein Werk ist. – Dieses ist das widrige Licht, das ein warmer Verehrer der Tugend über eine That verbreitet, die ich umsonst suchen würde in's Läugnen zu stellen. – Wie gedemüthigt vor Gott und Menschen würde ich mich in diesem Augenblick fühlen – wie könnte ich die Blicke des Abscheues ertragen, denen ich bloß stehe – wie vermöchte ich, edle Richter, den gewaltigen Eindruck meiner Anklage auf Eure Gemüther zu vernichten, wenn meine Straffälligkeit so erwiesen bliebe, als sie es jetzt den Mitgliedern Eures hohen Tribunals vorkommen muß! Nur desto stärker gegen mich empört, je aufgeklärter Ihr Verstand, je reiner der Schmuck Ihrer Sitten, je aufrichtiger Ihre Ehrfurcht für Tugend und Religion ist, machen es Ihnen diese herrlichen Eigenschaften nur noch unmöglicher, Ihrem Mitleiden Gehör zu geben. Der Schutz, den Sie der Religion zugeschworen, verdrängt das Erbarmen gegen denjenigen, der die Rechte dieser Religion so grausam verletzte. – Die Gesetze, die Sie handhaben, legen es Ihnen als Pflicht auf, Schande und Strafe über den muthwilligen Uebertreter derselben auszurufen.

Diese Wahrheiten, die ich mir nicht verhehlen kann, was lassen sie mich nun anders erwarten, als mich von den würdigsten meiner Zeitgenossen überführt, verdammt und aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen zu sehen! Und dennoch, ich schwöre es bei dem Eifer, der Euch belebt, seid Ihr, meine Richter, auf dem Wege, in mir einen Mann zu bestrafen, der nicht etwa Euer Mitleiden – ich entsage ihm gern – nein! der Eure ganze Achtung[14] verdient, und sie, nicht als ein Almosen, sondern mit dem Trotze eines guten Gewissens, als eine Schuldigkeit von Euch fordert. Möchte doch das belehrende Beispiel dieser feierlichen Stunde allen und jeden Dienern der Gerechtigkeit bekannt werden! Wenn ein Tribunal wie das Eurige nicht vor der Gefahr des Irrthums geschützt ist – welcher Richter mag es, nach Euch, noch wagen ein Urtheil zu fällen?

Doch wohin verführt mich meine eigene schreckhafte Vorstellung? Verzeiht es einem beängstigten Fremdlinge – verzeiht es mir, daß ich nur einen Augenblick von einer Gefahr träumen konnte, gegen die Euch Eure Kenntnisse, Eure Menschenliebe und Eure Redlichkeit waffnen. – Heil mir! Ich stehe nicht vor so gemeinen Richtern, denen schon das Eingeständniß einer zweideutigen Handlung Beweis genug von der Strafbarkeit dessen ist, der sie beging. So leicht auch die hinreißende Beredsamkeit meines feurigen Anklägers ein minder behutsames Tribunal bis zu diesem Fehlschlusse verleiten könnte – bei Euch wird sie keinen andern Erfolg bewirken, als den, der ihren reinen Absichten am angemessensten ist. Je vollkommener seine fürchterliche Anklage wider mich da steht, desto mehr wird sie Eure prüfende Aufmerksamkeit schärfen, und Eure Großmuth nur desto mehr reizen, das Mangelhafte meiner Vertheidigung zu ersetzen, und den Schwachen und Ungeübten gegen den Stärkern in Schutz zu nehmen. Gegen den Stärkern in Schutz nehmen, sage ich? Bin ich es denn nicht dem Ruhme meines Gegners schuldig, zu glauben, daß er selbst, während der Entwickelung der Triebfedern meiner Handlung, die stufenweise Abnahme seines Widerstandes redlich erkennen, meine Rechtfertigung unterstützen, und gern einem erwarteten Sieg entsagen werde, da er den Feind nicht fand, den er zu erlegen gedachte?

O möchte doch dieser innere Vertrag redlicher Seelen, dieses stillschweigende Einverständniß, das unter uns beiden besteht, zur Ehre der Wahrheit allen ihren Verfechtern voraustreten! Möchte die Welt immer nur so edle Streiter gegen den Irrthum auf dem Platze sehen, die eines solchen Kampfes werth sind!

Meine Rechtfertigung bedarf keines Schmuckes. Sie ergiebt[15] sich aus der einfachen Darstellung meiner Denkungsart, und liegt offen in meiner Geschichte. Ich verließ mein Vaterland, das von einem zwar mächtigen, aber leider ungläubigen Könige beherrscht wird. Ich verließ es mit dem Vorsatze, der alle Reisende leiten sollte, Wahrheit und Weisheit in den Ländern aufzusuchen, in denen in unsern Tagen diese Vorzüge so einheimisch wären, wie sie es vormals in Rom und Griechenland waren. So irrte ich von einem Gebiet in das andere, immer getäuschter in meiner Erwartung, bis ich endlich die glückliche Gegend des Komtats, und in ihm das Ziel meiner Befriedigung erreichte. Welch eine Weide für mein leibliches und geistiges Auge! Mit jedem Fortschritte wuchs mein Erstaunen. Gebahnte Straßen neben grünenden Auen, die mit dem bunten Gemische weidender Herden belebt waren – unabsehliche Flächen mit Saaten geschmückt – Berge mit Reben – Hügel mit fruchtbaren Bäumen bepflanzt – ruhige, freundliche Dörfer – prächtige Städte, mit frohen, glücklichen Menschen besetzt – Liebe und Treue auf allen Gesichtern – und dieses große herrliche Gemälde von einem immer heitern Himmel umwölbt.

Es ist bei dergleichen überraschenden Ansichten einem wohl eingerichteten Herzen natürlich, die Ursachen aufzusuchen, die solche Folgen bewirken. Ich betrat voll von dieser löblichen Neugierde diese Hauptstadt, die ich als die erste Quelle betrachtete, von der aller dieser Segen in das Land floß, und machte es mir zur Pflicht, der ausströmenden Kraft nachzuspüren, die ein so künstliches Triebwerk in immer gleicher Bewegung erhält, und die geheimen Federn zu entdecken, die stark und gespannt genug sind, jedes Rad so abgewogen in Thätigkeit zu erhalten, daß eines in das andere greift, ohne zu reiben, zu stocken, und den Endzweck zu hindern, den das Ganze hervorbringen soll. – Sind es, befragte ich mich, die strengen Gesetze eines Lykurg, oder sind es die philosophischen Grundsätze eines Friedrich, die dieses glückliche Land leiten? Welche Gewalt ist es, die das Wunder seiner Regierung möglich macht? Die Frage ist entschieden, wie man sie aufwirft. Wer kann eine Stunde unter Euch leben, Mitbürger dieses Staates, ohne den mächtigen Genius zu ahnden, der alles dieses bewerkstelligt? den Geist Eurer[16] Religion! Er ist es, unter dessen mächtigem Einflusse Eure Landesverfassung wie ein Felsen unter dem ewigen Tumulte der Wellen unerschüttert da steht. Er löst die verwickelten Grundsätze einer vollkommenen Staatskunst, über welche Monarchen und Weise in ewigem Streite liegen, in die einfachen Pflichten eines gemeinen Tagewerks auf. Der Segen, den Eure Kirche täglich ausspendet, spottet jener rastlosen Sorgen, die oft der klügste Regent vergebens anwendet, um dem Staate starke, geübte und mannhafte Hände zu gewinnen, denen er mit Sicherheit die Handhabung des gemeinen Wohls übertragen kann. Die spröden Faden, aus denen sein Gewebe zusammengesetzt ist, wie ungleich gelinder schmiegen sie sich nach dem Willen auch des schwächsten Kopfes, der die heilige Weihe empfangen hat, als nach dem Sinne eines Mannes, der durch vieljährigen Fleiß, Wachen und Nachdenken sich zur Führung anderer gestärkt glaubt! Ich überblickte mit Erstaunen die einfachen Mittel, die hier der päpstliche Glaube dem Dünkel der Weltweisheit entgegensetzt. Statt die Aufsicht über Ordnung und Gesetze erfahrnen Greisen – statt die Bewachung des Landes thätigen scharfsichtigen Männern übertragen zu finden, sah mein an jenen Anblick verwöhntes Auge hier nur Jünglinge zum Verdammen und Lossprechen berufen, und zu Vätern ihres Landes geweiht. Statt der Betriebsamkeit des Volks – sah ich nur Andacht. Ich ging mehrere Blenden von Heiligen vorbei, mit Anbetern umkniet, ehe ich auf eine Werkstatt stieß, die nicht leer stand. Ich hörte keinen Lärm, welcher Arbeit verkündigte: aber desto mehr Glocken, die zur Anbetung der Heiligen einluden. Ueberall sah ich verlassene Häuser und volle Kirchen. Ich sah ein unbeschäftigtes Volk, das auf langen Wallfahrten nach der Berührung eines Märtyrers ausströmte – sah die Lehrstunden der Kinder unter den Füßen eines wunderthätigen Bildes verlaufen, und die Tage des geschäftigen Alters aufgelöst in heilige Feste. Ich sah in einer Welt, wo ich alles der Vergänglichkeit unterworfen glaubte, ewig brennende Lampen – sah Todtengebeine, die jede Krankheit des Körpers, und heilige Zeichen, die jedes Gebrechen der Seele zertheilten – sah geweihte Tropfen, die ein langes beflecktes Leben verwischten[17] – sah die Hand des sterbenden Geizigen noch in dem Schatze wühlen, den er verlassen mußte, um für den wohlfeilsten Preis, den er erhandeln konnte, unendliche Reichthümer für die Ewigkeit zu erkaufen – sah gerührt, wie die dienstbare Frömmigkeit den Uebergang einer gebrandmarkten Seele in die andere Welt mit unverwelkten Blumen bestreute, und forderte mir, von diesen mir so ungewohnten Ansichten betroffen, wie es ein Blindgeborner seyn würde, der in einem Opernsaale und unter den Wirkungen verborgener Maschinen den Gebrauch seines Gesichts erhielt, lange vergebens Rechenschaft von dem Eindrucke ab, den ich fühlte, ohne den Ausspruch zu wagen, ob das, was mich so mächtig erschütterte, Wahrheit sei oder Täuschung. Wie viel lagen nicht Dinge von unendlicher Wichtigkeit für mich in der Entscheidung dieses erhabenen Zweifels! Sollte ich mich, wie ein Eingeborner dieses glücklichen Landes, bei dem allgemeinen Glauben beruhigen, den ich im Gange fand? Sollte ich mich, mit dem Vertrauen eines Kranken gegen seinen Arzt, der Hülfsmittel bedienen, die Eure geheiligte Religion feil bietet? oder sollte ich erst, ehe ich die Arzeneien verschluckte, ihre geheime Zusammensetzung untersuchen, und ihren Endzweck entwickeln? Ich glaubte mir, als einem Fremden, das letztere erlaubt, und mit der Offenherzigkeit, edle Richter, die ich Euch schuldig bin, gestehe ich, daß ich mit allem dem Mißtrauen, das der Irrthum erzeugt, zur Prüfung jener Grundsätze überging, die Ihr Glücklichen als Erbschaft, ohne nur einen Augenblick an ihrer Rechtmäßigkeit zu zweifeln, von Euren Vorfahren in Besitz nahmt. Ich that in dem Labyrinthe, in das ich eintrat, keinen Schritt, ohne zuvor die Sicherheit des Grunds zu erforschen, und verwickelte mich darüber zuerst in Irrgänge, die mich immer weiter von meinem Ausgange entfernten; und so hätte mich beinahe die redliche Absicht, die Geheimnisse Eurer Religion zu erforschen, in das Unglück gebracht, ihr Widersacher zu werden.

Aus der Masse von Vorzügen, die das Lehrgebäude Eures Glaubens darstellt, beschäftigte indeß keiner mein Erstaunen so sehr, als der Nachlaß Eurer Heiligen, den ich lange nicht und von keiner Seite meiner Vorstellungsart anzupassen vermochte. Er ist[18] unstreitig der größte Reichthum Eures Landes – darüber konnte ich mich nicht täuschen; aber es ward mir schwer, andere Länder für um so viel ärmer zu halten, als sie weniger als das Eurige von diesem Gewinne aus der Beute der Vorzeit besitzen. Ich konnte mein, durch die glänzenden Ueberreste griechischer und römischer Kunst geblendetes Auge lange nicht gewöhnen, an Euren oft unscheinbaren Reliquien Geschmack und Freude zu finden – konnte mich nicht bereden, daß ein Tempel, der auf dem Gerippe eines Heiligen erbaut, oder mit seinen Gebeinen und ehrwürdigen Lumpen behängt ist, darum merkwürdiger als ein Pantheon – erhabener seyn sollte als ein Colisee. Ja, ich gestehe Euch mit Erröthung, daß meine unter den Vorurtheilen meines Vaterlandes gebildete Seele immer widerstrebte, an die ausströmenden Kräfte zu glauben, die Ihr von den Ueberbleibseln Eurer Märtyrer rühmt, und die Eure geweihten Tafeln beweisen. Meine Zweifel verstärkten sich nur, je ernster ich daran arbeitete sie zu heben, und setzten sich sogar einer Gewalt entgegen, der vielleicht noch keine irrende Seele widerstanden hat. Mich hatte die Empfehlung eines frommen Bischofs in die Bekanntschaft eines Eurer Mitbürger, in den Schutz eines erleuchteten Mannes gebracht, dessen geringster Schmuck der königliche Purpur ist, den er trägt. Ungern verschweige ich sein Lob in seiner Gegenwart, und überlasse es Eurem Bewußtseyn, die Ihr ihn näher und länger zu kennen das Glück habt. Er nahm mich auf, als ob ihm das Bedürfniß meiner Seele schon im voraus bekannt, und ihm der Gedanke sichtbar wäre, der über ihr schwebte. Sein erstes Gespräch verbreitete sich lehrreich und freundlich über den Werth frommer Reliquien. Er machte mich zum erstenmale mit den schätzbarsten derselben – mit den drei Blasensteinen der heiligen Klara bekannt, die, beredter und überzeugender als die Zungen der Schriftgelehrten, das größte Geheimniß unsers Glaubens erläutern, indem sie sichtbar alle die Eigenschaften vereinigen, die jeder rechtschaffene Christ der hochgelobten Dreieinigkeit beilegt. Das Visum repertum, das er mir über diese Kleinodien vorlas, erschütterte zwar mein Herz, das aber zu schwergläubig war, um nicht auch hier einen Vorwand zu finden, den Eindruck[19] zu entkräften, den es auf mich zu machen anfing. Mißtrauen gegen die Stimme der Wahrheit ist die natürliche Folge des Irrthums. Ich höre zwar, sagte ich seufzend, das merkwürdige Zeugniß, und fühle das Unwiderstehliche der Folgerungen, die es enthält, in seinem ganzen Umfange; aber wo sind die heiligen Steine, die mir für die Wahrheit desselben bürgen? Wo sind sie? damit ich hingehe und sie anbete, und mit ihnen in der Hand jene stolze eingebildete Wissenschaft zum Schweigen bringe, die unserm Glauben die gebieterischen Sätze eines heidnischen Euklides entgegen stellt. Sind sie, wie es das Ansehn hat, in dem Tumulte der Zeiten verloren gegangen; so bleibt mir nichts übrig, als ihren Verlust zu bejammern, und selbst so lange ihr ehemaliges Daseyn zu bezweifeln, bis sie sich wieder finden, und Gott die Ungleichheit zwischen mir und dem glücklichen Sterblichen aufhebt, der sie sehen, betasten und durchwägen konnte. Meine nächste Pflicht schien mir nun die, nach diesen heiligen Steinen bis an das Ende meiner Tage zu forschen. Ich störte alle Kabinette der Naturgeschichte – alle Sammlungen von Reliquien durch, fand wohl hier und da einen einzelnen Stein, an dessen Gewichte, Selbstständigkeit und einfachem Wesen nicht zu zweifeln war, der aber, wenn ich ihn mit zwei andern von gleichen Eigenschaften zusammen brachte, nie die Probe bestand, nach der ich ausging. – Ich betrat einen andern Weg, auf dem ich nicht ohne die höchste Wahrscheinlichkeit mich den verlornen Kleinodien zu nähern hoffte. – Gern würde ich über diesen eben so fruchtlosen Versuch stillschweigend hinwegeilen, um die jungfräuliche Seele, die ihn veranlaßte, nicht aus ihrer bescheidenen Ruhe zu bringen; aber die höhern Pflichten der Aufrichtigkeit, zu der ich jetzt vor andern aufgerufen bin, macht es mir, theuerste Klara, unmöglich, Ihrer Erröthung zu schonen.

Ich sehe, edle Richter, mit welchem Wohlgefallen sich Eure Blicke nach dieser Freundin Eures Zirkels – nach dieser frommen Mitgenossin Eurer geistigen Vergnügungen, wenden; und Ihr werdet, ich zweifle nicht, die hohe Erwartung, die ich von ihr faßte, durch die glänzenden Eigenschaften mehr als zu gerechtfertigt finden, die uns alle an sie fesseln. Das Glück der Nachbarschaft mit dieser[20] Auserwählten; die herrlichen Psalmen, unter denen mich ihre sonorische Stimme jeden Abend einschlummerte – jeden Morgen erweckte; ihre Unschuld, die aus jeder ihrer Bewegungen, aus jedem Faltenschlag ihrer Kleidung hervorstrahlte; die beispiellose Frömmigkeit ihrer Jugend – alles trug in mir zu der Ueberzeugung bei, daß die Heilige, deren Namen sie führt, deren Glauben sie ererbt hat, deren Tugend sie wieder darstellt – ihr auch wahrscheinlich die Steine zurück gelassen habe, nach deren Entdeckung meine Seele immer heißhungriger ward. Dieser Gedanke, der mächtig genug gewesen wäre, mich bis an den äußersten Pol der Erde zu treiben, um ihm Luft zu machen – wie viel dringender mußte er nicht in der glücklichen Nähe auf mich wirken, in der ich mich mit dem Ziele meiner Hoffnung befand!

In der feierlichen Stille einer hellen Nacht näherte ich mich der Thür dieser Auserkornen ihres Geschlechts – hoch pochte mir das Herz nach der Entdeckung dieses großen Geheimnisses; aber noch war es ihrer nicht werth. Die fromme Aufseherin unserer Jugend versperrte mir, wie ein Seraph, den Eingang, und wies mich als einen Ungeweihten in meine einsame Klause zurück. Dank sei Dir, würdiges Weib! für Deine Strenge, die mir damals so schwer zu ertragen fiel; sie erweckte den Trieb mich aufzurichten, indem sie mich niederschlug, und befeuerte mein Verlangen, mich der Glorie erst würdig zu machen, nach der ich hinstrebte. Das Bild meiner freundlichen Hoffnung schwebte mir vor in der Zerstreuung des Tages, in den Träumen der Nacht, erheiterte meine Einsamkeit, und fesselte mich mit Blumen an die Pflichten meines hohen Berufs. Unter dem Schutze des Purpurs meines edeln Freundes und Begleiters warf ich mich der mächtigen Genoveva zu Füßen, und vereinigte mein Gebet um Aufklärung mit dem Gebete der Gemeinde. Ich wallfahrte nach dem Grabe der Laura – stärkte meine Empfindung in den reinen Dünsten, die aus ihrer Asche emporsteigen – bereicherte mich mit den Erfahrungen ihres Wächters, und suchte auf dem Pfade, auf dem er zu seiner Ueberzeugung gelangt war, die meinige zu erringen. Ich schlich den Heiligen nach, wo ich sie fand, durch das Labyrinth ihrer Legenden[21] – auf dem geschmückten Throne ihrer Altäre – in dem Schauer ihrer Verwesung. Ihre glänzenden Feste konnten kein geweihtes Gebein ihrer Gerippe ausstellen, ich näherte mich ihm mit Ehrfurcht. Erblickte ich die Madonna als Zeichen über einem Wirthshause, so trat ich ein. Entzog sich ein Splitter des heiligen Nicaise meinen feurigen Augen – ich schlich ihm nach, und suchte wenigstens meine Hand daran zu erwärmen. Ich erkaufte mir mächtige Vorbitten bei der hochheiligen Concordia, und errang durch Gold, das zu Ehren ihres Namens geprägt ward, endlich eine der wirksamsten Reliquien, die meinen Uebergang in das Gebiet der Geheimnisse vermittelte, und den Schleier wegzog, hinter dem ich die heiligen Steine versteckt glaubte. Ich triumphirte – aber zu früh! Dürfte ich es wagen, die Holdselige, die meinen mißlungenen Eifer theilnehmend mit ihrem Mitleiden beehrte, aus dem Bezirke ihres Richteramtes in jene trauliche Stunde meiner frommen Untersuchung zurück zu führen; sie würde nicht anstehen, Euch meinen Richtern alle die Empfindungen der Kleinmuth, der Muthlosigkeit und des Kummers zu bezeugen, unter denen ich ihre Schwelle verließ.

Ein unruhiges Herz verfinstert oft den hellsten Verstand; wie viel schwärzer mußte es nicht auf ein Gehirn wirken, das noch durch Vorurtheile, Zweifelsucht und Unglauben umnebelt war! Habt Mitleiden mit mir, Ihr, die Ihr, schon fest in Eurem Glauben, allen Gegenbeweisen, Erfahrungen und Anmaßungen der Leidenschaft trotzen könnt! Der Unmuth über meinen mißlungenen Versuch – statt mich auf die wahre Ursache zurück zu führen – verwickelte mich vielmehr in neue feindselige Fehlschlüsse wider die Wahrheit Eurer Religion. Die Aufwallung meines Bluts verhinderte mich zu begreifen, worauf mich doch die Geschichte der heiligen Klara von Montefalcone hinwies, daß meine Nachforschungen zu voreilig, und es nur auf dem Wege der Zergliederung möglich sei, auf die verborgenen Steine zu treffen. So überzeugt ich auch jetzt bin, daß ihre fromme Namensschwester einst der erstaunten Erde diese verlornen Beweise der Dreieinigkeit wiedergeben, und durch den Nachlaß ihres Todes das Leben krönen[22] werde, das sie jetzt führt, so entfernt war ich damals von dieser trostreichen Aussicht. Ich glaubte in meiner fruchtlosen Bemühung keinen andern Beweis zu finden, als den: daß nicht allein die Legende der verewigten Klara erlogen, sondern alle und jede Verjährungen Eures Glaubens nicht bündiger zu beweisen sein möchten, als die Steine der Klara.

In diesem Aufbrausen eines schwachen Gehirns trat ich vor die herrliche Sammlung der geistreichen Schriften, die den größten Schmuck dieses Hauses ausmachen. Ich spottete ihrer Titel als Prahlereien eines heuchlerischen Stolzes – schalt den Inhalt, den sie ankündigten, als Verirrungen des menschlichen Geistes – entschloß mich das Lehrgebäude niederzuwerfen, das sie aufstellten, und diese Stützen des Glaubens mit dem Uebermuthe eines Heiden dem Pagoden meines Kamins zu opfern.

Aber in diesem Augenblicke schienen alle Heiligen mit Erbarmen auf mich zu blicken – mit Erbarmen gegen ein Herz, das in seinem Drange nach Wahrheit sich bis an diesen Abgrund verlaufen konnte. Ich fühlte daß mein Schutzgeist zurück kam. Meine Wünsche, ohne mich zu verlassen, nahmen jetzt einen richtigern Gang, und meine Empfindungen veredelten sich. Mitten in dem Entsetzen, das mich nun über die häßliche Gestalt ergriff, unter der die That, die ich auszuführen im Sinne hatte, auf die Nachwelt übergehen würde, entdeckte ich neben dem finstern Wege, den ich einschlagen wollte, jene feine Scheidungslinie zwischen Recht und Unrecht, die gemeine Richter so leicht und nur zu oft übersehen. Was ist der Mensch ohne eine höhere Leitung! und wie so nahe gränzt das Laster an die Tugend! Ihr, die Ihr schon längst über das Bewußtseyn der Seele, über die Beruhigung des Gewissens nachgedacht habt – Ihr, die am Feste des heiligen Crispinus mit flammenden Worten Euren Gemeinden so deutlich als mit dem Beispiele Eures Lebens beweist, warum sein Raub, statt ihn auf den Richtplatz zu bringen, ihn unter die Zahl der Seliggesprochenen versetzt hat, mein Herz schmiegt sich an das Eurige, und sucht seine Lossprechung in Euern Lehren. Ihr werdet ohne Mühe begreifen, wie dieselbe That, die mich einige Minuten[23] zuvor als einen Verbrecher würde gebrandmarkt haben, nur durch gute Absicht geleitet, durch fromme Bewegungsgründe geheiliget, sich zu einer unschuldigen, zweckmäßigen und löblichen Handlung umbilden konnte. In dem höchsten Unwillen über mich selbst, nahm ich jetzt die ungerechten Schmähungen zurück, die ich wider Männer auszustoßen mich erfrecht hatte, denen ich die Schuhriemen aufzulösen nicht werth war, und betrachtete sie, wie ich sie immer hätte betrachten sollen, als eine Gesellschaft, die der große Zweck vereinigt hat Gutes zu stiften, und segnete sie als Wohlthäter des menschlichen Geschlechts, die noch Samen über ihre Gräber streuten zu ewigen Ernten. Haben sie nicht, befragte sich meine gerührte Seele, indem ich eine ganze Reihe ihrer unsterblichen Werke umarmte, ihre Nächte mit Nachdenken verwacht, ihr schönes Leben verschrieben, um noch ihren Enkeln den steilen Weg zu erleichtern, der zur Entdeckung der Wahrheit führt? – Und ach! warf ich mir bitter vor, in der Nähe dieser sicheren Wegweiser, hast du deine kostbare Zeit ungenutzt verschlafen, und in dem Augenblicke, da du ihre Hülfe am meisten bedarfst, bist du im Begriff dich auf immer von ihnen zu trennen?

Wohl dem menschlichen Herzen – es hat seine Spannkraft nicht ganz verloren – das noch durch den Gedanken einer unwiederbringlichen Zeit erschüttert wird! Es zieht nun alle seine Kräfte zusammen, und sucht den Werth der verschleuderten Stunden in dem kleinen Zeitraume, der ihm noch übrig bleibt, einzuengen, und den Verlust von Jahren durch den mißlichen Gewinn eines nachfliehenden Augenblicks auszugleichen. – Auch das meinige arbeitete unter einem gleichen Bestreben. Schaudernd sah es in das Vergangene und auf die Sorge, die es vernachlässigte, und blickte wild auf seinen entfernten Abstand vom Ziele; aber in diesem verzweifelnden Kampfe errang es Hoffnung sich seinen Weg zu verkürzen.

Ich erinnerte mich, und nie hat mir mein Gedächtniß einen wichtigern Dienst erwiesen – daß ich in den Büchersälen Eurer Klöster, in den Schatzkammern Eurer Kirchen, Schriften sah, deren Inhalt jeder nachdenkende Mann – auch ohne Untersuchung –[24] schon als klar bewiesen annehmen, und als den lautersten Ausfluß der Wahrheit verehren wird, weil sie die kritische Prüfung, in der jedes menschliche Machwerk seinen Untergang findet, unter höherem Schutz überstanden – ich meine die Probe des Feuers. – Noch vor kurzem hatte ich in dem Schatze, der über den Gräbern zu Saint Denys aufgestellt ist, das berühmte Buch des Thomas a Kempis bewundert, das einzig aus einer reichhaltigen Bibliothek, die in Rauch auf ging, gerettet, und unversehrt aus dem Schutthaufen hervor gezogen wurde. Der fromme Mann, der es mir zum Küssen überreichte, beantwortete mir die Frage, ob denn die Tausende bei diesem Unglück verlornen Bücher nur Irrthum enthalten hätten, mit einer Erklärung, der ich damals den Trost nicht ansah, den sie mir bald in der drangvollsten Stunde meines Lebens gewähren sollte. So hängt oft die Vorsehung die wichtigsten Ereignisse unsers Lebens an unmerkliche Faden, und verbindet uns, ohne daß wir es ahnden, mit der großen Kette, die sie in ihrer Hand hält. So kann vielleicht in den fernsten Zeiten noch sich zu der allgemeinen Harmonie ein Wohlklang aus so schwachen Tönen entwickeln, als jetzt meinem Munde entfallen – so kann die Verhandlung der gegenwärtigen Stunde vielleicht noch Heiden bekehren, und ganze Länder – Gott gebe es! – dem Joche Eures Glaubens unterwerfen.

Es waren, sagte der Mann, viele Werke in dieser verunglückten Sammlung, die wohl noch vortrefflicher waren, als das gerettete; aber man kannte sie, und keine Seele bezweifelte ihren Werth. – Nur Thomas a Kempis war nicht geachtet – und sein Buch von der Nachfolge war unter allen dasjenige, dem man am wenigsten folgte. Seit dem Wunder seiner Erhaltung ist es erst in den Ruf gekommen, den es verdient – erst seitdem ist es allen Religionen ein heiliges Muster geworden. Es hat sich in unzähligen Auflagen verbreitet, und die Vorreden erzählen die Kritik, die es aushielt. – Dieses waren die belehrenden Worte, die jetzt volltönend an die Saiten meiner Seele anschlugen, und mir den einzigen Ausweg zu zeigen schienen, den ich zu nehmen hatte.

Von allen den Lehren, die jene herrlichen Werke enthielten,[25] die vor mir standen, war eine wie die andere meinen Augen verborgen. – Um keiner Unrecht zu thun zweifelte ich an allen. – Meine dringende Abreise – meine Trennung von ihnen, benahm mir die Möglichkeit sie zu erforschen, und in diesem Drucke und Gegendrucke von Wünschen und Zweifeln ermannte ich und entschloß mich, sie der kürzesten Prüfung zu unterwerfen, die mir in meiner Lage auch die willkommenste seyn mußte. In der süßen Hoffnung, sie – die eben so ungesucht, ungelesen und vergessen waren, wie der große Thomas, bald durch das Feuer bewährt wieder zu sehen wie ihn, trennte ich sie aus ihrer Hülle, häufte sie locker in diesem Kamin auf einander, beging die That, die Ihr so strafbar findet, und – o wie pocht mir das Herz! – steckte sie an. Voller Erwartung verfolgten meine Augen jede Wendung der auflodernden Flamme, die sich schnell ausbreitete, und bald über den kostbaren Stoff, den ihr mein gläubiges Zutrauen übergeben hatte, zusammenschlug. Dieser Berg von Gelehrsamkeit senkte sich – jede Minute überlieferte ein kostbares Werk mehr seiner Vernichtung. Sein Inhalt verrauchte, und beizte mir die Augen, ohne das Herz zu erwärmen. Meine Betäubung stieg immer höher – ach! sie ward zum Entsetzen, als ich an der Stelle dieser glänzenden Ueberreste der Vorzeit – endlich nichts mehr als einen gemeinen Aschenhaufen erblickte. – Ist es möglich? rief ich nun aus. So war denn auch nicht Ein Buch unter so vielen, das den unmittelbaren Schutz Gottes oder eines Heiligen verdiente? So gingen sie alle in Rauch auf, ohne mir nur Einen meiner marternden Zweifel zu heben, – nur Eine Wahrheit mir zurück zu lassen, die meinem Herzen Trost, meinem Verstande Nahrung verschafft hätte? Ach! Es bleib mir nichts übrig, als ewige Zweifel, und reuige Thränen über diesen vergeblichen Brand.

Indeß – der Lauterkeit meiner Absicht bewußt, kam es mir nicht von fern ein, daß etwas Straffälliges in meiner Handlung liegen könne. Es gilt den Ersatz dieser Bücher, sagte ich zu mir; und ich errieth nicht eher, unter welchem schwarzen Anstriche auch dem billigsten Gemüthe meine Feuerprobe erscheinen könnte, als bis mich der Eifer der frommen Aufseherin dieser Stiftung nur zu[26] sehr davon überzeugte. Aus der nachtheiligen Vorstellung, unter der ihr meine That erschien, aus dem Hasse, womit sie ihr tugendhaftes Gemüth und die edeln Seelen meiner Richter zur Rache entflammte – sind die traurigen Folgen entstanden, unter denen ich bis zu der Stunde meines Verhörs geseufzet habe. Ihr glaubtet berechtigt zu seyn einen Mann von Ehre – einen Reisenden von unbescholtenem Rufe – einen Unterthan eines großen Monarchen, und einen Eurer Freundschaft empfohlnen Fremdling, als einen Verbrecher zu behandeln – glaubtet es dem Ansehn der Tugend und dem Vortheile Eurer Kirche zuwider, den erbotenen Ersatz anzunehmen. Ein gemeinschaftlicher Irrthum vereinigte die besten, edelsten Herzen zu meiner Bestrafung. Noch jetzt, vortreffliche Richter, nachdem ich Euch die wahren Triebfedern meiner Handlung entwickelt, und die geheimsten Winkel meines Herzens geöffnet habe, muß es Euch – so schwach sind die Kräfte selbst der scharfsichtigsten Menschen der Wahrheit auf die Spur zu kommen – muß es Euch, sage ich, ungewiß bleiben, ob nicht betrügerische Beredsamkeit Eure Beurtheilung zu blenden suche – ob nicht der Mann, der so dreist von seiner Unschuld spricht, in geheim über Eure Leichtgläubigkeit spotte, und ob Ihr nicht einen Verräther Eures Glaubens entlassen würdet, indem Ihr mitleidig meine Fesseln löset. Aber auch diese Fehlschlüsse, wenn es Euer trauriges Loos seyn sollte, ihnen unterzuliegen, würden dennoch der Achtung nichts benehmen, die ich Eurem Amte, Eurer Gewalt, und Eurer Rechtschaffenheit schuldig bin. Ich würde nur mein finsteres Schicksal – den dunkeln Zusammenhang meiner Rechtssache, und den Zufall bejammern, der die Gerechtigkeit so sehr mißzuleiten, und Freunde einer und derselben Wahrheit so weit von einander zu entfernen vermochte. – Dank sei der allmächtigen Hand, die auch diese letzte Decke, die uns noch scheiden konnte, von Euren Augen wegzieht! Der Augenblick ist da, der meiner Rechtfertigung sein glorreiches Siegel aufdrücken – jede Trennung unserer Gemüther aufheben – meine Unschuld durch Eure Freundschaft belohnen, und Eure Tugend von der Furcht eines verfehlten Urtheils befreien wird.

Bitter waren freilich die Stunden, die mich bis an das Fest[27] brachten, das meiner wartet – an das Fest Eurer brüderlichen Umarmung! – Ueberseht noch einmal mit mir die ganze Trauer meines gestrigen Tages, als ich, im Begriff meiner Abreise, ausgeschlossen von aller menschlichen Hülfe – bewacht von Bewaffneten – eingekerkert in eine einsame Wohnung – unter den Zurüstungen eines furchtbaren Gerichts – ach! vielleicht meinem letzten Schlummer entgegen ging. Stellt Euch ... nein! Ihr vermögt es nicht! – das Schrecken der folgenden Nacht vor, als ich mit müden Schritten nach meinem Lager, den Trümmern derer vorbeischlich, deren Stimme ich in Rauch erstickt – deren Daseyn ich in Asche vergraben hatte! Ihre Schatten schienen fürchterlich mich zu umschweben, die Klagen der bedürftigen Seelen, die ich um ihre Tröster betrogen, bestürmten meinen Schlaf, und mein zweifelndes, unbefriedigtes und muthloses Herz vermehrte noch meine innere Marter. – Unter diesen Schrecknissen verging die Nacht – in diesem Wirbel von Unruhe beschlich mich die Morgenröthe meines Gerichtstages. Ernste Blicke in mein Innerstes, wehmüthige Hinsichten auf Euch – waren meine ersten Empfindungen, und jener schon erkaltete Aschenhaufen der erste Gegenstand meiner erwachten Sinne.

Ich blickte noch einmal mit schwermüthigem Herzen in diese Gruft verblichener Wahrheiten, und hätte mit der Vorsehung rechten mögen, daß ihr meine Bekehrung zu unwichtig schien, um dem Feuer seine verzehrende Gewalt zu benehmen, und die Ordnung der Natur zum Vortheil meiner Ueberzeugung zu ändern. – O ihr Unsterblichen, rief ich aus, die ihr uns euren Geist in diesen Schriften zurück ließet! warum beschütztet ihr nicht euer Vermächtniß? – O ihr Heiligen und Verklärten! wie? hielt es denn keiner von euch der Mühe werth seine Legende zu retten? O, möchtest nur Du – vor allen nur Du, selige Klara, dein Visum repertum.. Ein Geräusch gleich einem gewaltigen Winde unterbrach hier den Lauf meiner Worte, und hemmte meine Stimme. – Meine Blicke fuhren nach dem Kamine hin, von wannen es her kam. – Was sah ich! was sträubte mein Haar! Könnte ich euch jetzt um mich her versammeln, daß euer Ohr meine Rede[28] vernähme – ihr stolzen Widersacher jenes großen Geheimnisses, das ihr mit euren Zirkeln zu verspotten – mit eurem Einmal Eins zu vernichten glaubt! Ich sah – hört es, meine Richter und folgt meinem Erstaunen – Ich sah, und ich glaubte ein Schattenspiel der Auferstehung zu sehen – den Staub der Verblichenen sich von dem Herde erheben – sich bewegen – sich ordnen; ich sah die Wahrheiten, die in jenen heiligen Schriften einzeln zerstreut lagen, sich aus ihrer Vernichtung erheben, und sich zu einem Monumente derjenigen bilden, die dem menschlichen Verstande die wichtigste, wie die unerreichbarste ist. In einem schnell vorüber fliegenden Augenblicke war ihrer aller Asche zu einer selbstständigen Säule zusammen gedrängt, die dreiseitig, und wie aus ätherischem Porphyr gehauen, meinem entzückten Auge erschien. Es war die höchste Ueberraschung – ich glaube es mit Grunde, sagen zu können – die einer menschlichen Seele begegnen konnte, und die keine Zeit vermögend seyn wird aus meinem Gedächtnisse zu verlöschen. Aber leider! dauerte diese anstaunungswürdige Erscheinung nur einen Augenblick – die Säule zerfiel als wäre sie nie da gewesen. – Und wer würde mir jetzt glauben, daß es nicht ein Traum, nicht ein Blendwerk der Sinne war – wenn diesem Phänomene nicht unmittelbar ein anderes gefolgt wäre, das wie die Sonne einem sehenden Auge keinen Zweifel erlaubt, und einen Beweis zurückließ, der von jeher für unumstößlich anerkannt wurde, und die unbegreiflichsten Begebenheiten so klar macht wie die gemeinsten Ereignisse – den großen Beweis – meine ich – des Augenscheins?

Es erhob sich jetzt – könnte ich es doch dem Erdkreise ankündigen! – aus dem Staube der vor mir lag – aus dem Chaos jener mystischen Säule, erhob sich jetzt das Phänomen eines glühenden Blattes. In einen Rahm gefaßt, der wie aus Sternen zusammen gesetzt schien, schwebte es über dem Herde, und das milchweiße Licht, das es ausströmte, stärkte mein verklärtes Auge zu dem hohen Genusse seiner Betrachtung. So leuchtete es mir einige selige Stunden. Mein Herz pochte vor Staunen – meine Brust dehnte sich unter dem Drange der Freude – Ach! in welch[29] einem Meere von Empfindungen badete sich nicht meine Seele! In Entzücken und in Anstaunen dieses Wunders verloren, vergaß ich mein Daseyn – vergaß Euch, meine Richter, und die übrige armselige Welt. Und wäre die Thür meines Kerkers auch unverschlossen und der Weg zu Euch frei und offen gewesen – die Selbstgenügsamkeit meines Gefühls würde mir allein schon verwehrt haben, von meiner geweihten Stelle zu weichen, und andere Zeugen meines Glücks zu suchen als Mich. – Nie wurden wohl die stillen Fortschritte der Zeit mit so glänzenden Punkten gemessen, und ihr Uebergang in die Ewigkeit so lieblich bezeichnet, als in diesen gebenedeiten Stunden. – Mit jeder Minute, die mich meinem ernsten Verhöre näher brachte, verlosch ein Stern an dem Rahmen des brennenden Blattes. Es verlosch der letzte daran, und abgekühlt senkte es sich in meine hinstrebenden Hände. Ein Blick aus meinen beseelten Augen, der in der Eil des Blitzes darauf stürzte, war genug. – Er predigte mir die verkannte Wahrheit in ihrem ganzen Umfange, erschütterte und überzeugte mein Herz. Ich hatte nur noch Zeit, das aufgefangene Blatt an meinem Busen zu bergen, als der Augenblick eintrat, der mich vor die Schranken Eures Gerichts zog.

So habe ich Euch denn, meine Richter, durch die Irrgänge meiner Gedanken und Empfindungen bis zu dem letzten Beweise geführt, der zwischen mir und meinem Ankläger entscheiden soll. Dank sei aber zuvor noch der heiligen verewigten Klara! Mein Nachforschen nach ihren Edelgesteinen war nicht umsonst. Das Feuer, das aus den Augen der Geweihten spricht, die ihren Namen führt – das begeisterte Blut, das ich während meiner Rede ihre schönen Wangen durchziehen sah – sagt es Euch laut, meine Richter, daß ich den lange verborgenen Ort entdeckt habe, der jene Kleinodien verwahrt – den unerreichbaren Ort Eurer täglichen Wallfahrten, und den stillen Weg, der dahin führt – den Ihr ehrwürdige Männer dieses Gerichts mir noch lange unter heiligen Betrachtungen nachwandeln werdet, wenn ich schon längst von meiner Entdeckungsreise zurück, meinem Vaterlande wieder gegeben seyn, und nur in Gedanken noch die schattige Gegend umschweben[30] werde, die dem Erdkreis sein größtes Wunder verbirgt. – Mag indeß die Zeit der Erfüllung noch so weit in der Zukunft liegen, wir wollen uns in gläubiger Zuversicht an das schon vollendete Wunder halten, das uns heute zu Theil ward – an das Zeugniß der Wahrheit, das, durch das Feuer bewährt, jede fromme Ungeduld hinhalten – jede Hoffnung beleben – jeden Zweifel an die hochgelobte Dreieinigkeit bei allen denen zerstreuen wird, die meine Aussage hören. – Das Visum repertum der Heiligen, die einst jene wundervollen Steine in ihrem Schooße trug, und seitdem, um nie verloren zu gehen, unter ihren Schwestern bis zu derjenigen forterbte, deren jungfräulicher Schooß sie noch heute verschließt – dieser Beweis ihres ehmaligen und jetzigen Daseyns ist an diesem Tage glänzend und unverletzt aus den verzehrenden Flammen hervor getreten – Seine Wahrheit ist gerettet. Hier, meine Richter, hier ist das heilige Blatt – Fallet nieder und betet an!«

Mit diesen Worten zog ich jenes in ein feines Papier geschlagenes Blatt aus meinem Busen, das ich, wie Du weißt, um es als Beleg zu gebrauchen, aus der Legende der heiligen Klara von Falkenstein und in dem kritischen Augenblicke aus dem Feuer riß, als die Sammlung Pater Martins von Cochim schon lichterloh brannte. Welch einen ungleich wichtigern Dienst leistete es mir jetzt! Ach daß Du nicht bei mir warst, Eduard! und die sonderbaren und verschiedenen Bewegungen nicht mit ansehen konntest, die dieser unerwartete Ausgang meiner Rechtfertigung auf jedes einzelne Mitglied dieses hohen Gerichts hervorbrachte! Der Domherr stürzte mit einem Ungestüm herbei, der nur zu sehr den leidenschaftlichen Antheil verrieth, den er an diesem Wunder nahm. Thränen traten ihm in die Augen, als er die Lieblingsstelle seiner Erbauung in so unversehrtem Drucke, auf diesem an den Rändern versengten Bogen entdeckte. Er benedeite in der Unordnung seines Verstandes alles was ihm in den Mund kam, – das Haus, wo dieses Wunder geschah – die Asche, aus der sich dieser Phönix erhoben hatte – mich, dem die Vorsehung das unverbrennliche Blatt einhändigte – besonders aber sich, der zur Entstehung dieses erstaunlichen Phänomens die erste Gelegenheit[31] gab. – »Nun,« rief er ohne seine Phrasen zu enden, »ist der große Beweis gerettet – die Nachforschungen der Schriftgelehrten werden ... die heiligen Steine liegen ... ja ich hoffe sie noch mit eigenen Augen ...« Doch indem schien er sich zu besinnen, wie anstößig dem guten Klärchen ein Kompliment vorkommen müsse, das auf ihre Sektion gebaut war. Er ließ seinen Enthusiasmus nicht weiter laut werden, hüllte sich in seinen Purpur, und warf sich erschöpft und athemlos auf den Lehnstuhl.

Die innern Rührungen der alten, frommen, erstaunten Bertilia zeigten sich lange nur in den stillen Verzerrungen ihres scheußlichen Gesichts. – »Ich bin,« ergriff sie endlich mit heulender Stimme das Wort, »grau bei Wundern geworden; aber keines – nein! keines hat mächtiger noch mein Herz gerührt. Wie werden meine Nachbarn – wie werden alle die neidischen Weiber im Hospitale – wie wird Stadt und Land über das Heil erstaunen, das diesem Hause, und eben in der Zeit widerfuhr, da es – o ihr Heiligen! der Aufsicht eurer Magd anvertraut war!«

Doch wie mag ich nur einen verlornen Blick an diese Furie wenden, da die Graziengestalt ihrer Nichte dicht neben ihr steht, die mir in der Gruppe meiner Bewunderer doch immer die liebste Figur – aber eben darum auch am schwersten zu zeichnen ist! Ach! es wäre wohl der Mühe werth, wenn ich es nur vermöchte, Dir die mancherlei Schlangengänge ihrer Empfindungen, mit allen den feinen Schatten zu schildern, die auf ihrem Gesichtchen spielten, als sie dasselbe Blatt zu solchen Ehren erhoben sah, bei dem sie ihren Puder verlor. Ein verstohlner Blick ihrer schönen Augen, der über den Sektionsbericht ihrer Namenschwester nach dem Domherrn hingleitete, und die Erröthung auf beiden Gesichtern, die nachfolgte, würden mich, wenn es nicht schon der Epilogus zur Genüge gethan hätte, genau auf die Spur ihrer ersten Lehrstunde gebracht haben. Jene älteren Erinnerungen schienen alle Gewalt aufzubieten, um das frische Andenken ihrer jüngern Erfahrungen aus ihrem Blute zu treiben, oder ich müßte das Farbenspiel ihrer Wangen – müßte den beredten Ausdruck ihres Gefühls nicht verstanden haben, den ich doch deutlich in ihren Mienen zu lesen[32] glaubte. Doch setzte sie – wenn ich recht sah – der schnelle Uebergang des so sehr gedemüthigten Mannes zu der Glorie eines Wunderthäters mehr noch in Verlegenheit als alles übrige. Sie wendete ihre Augen so schüchtern nach mir, als hätte sie ihnen aufgetragen, mir in ihrem Namen das Unrecht abzubitten, dessen sie sich schuldig gegen mich fühlte. – Da sie ihr aber keinen Blick der Vergebung aus den meinigen mitbrachten, so nahm sie ihre Sirenenstimme zu Hülfe. – »Wer hätte das gestern noch denken sollen!« tönte sie mir sonorisch in's Ohr, daß es nicht anders möglich war, der Stimmhammer mußte mir dabei einfallen. Ihr rechter Fuß, über den das Band der unbefleckten Jungfrau gegürtet war, zitterte zugleich als ob er im Fieber läge, und der heilige Nicaise war im Steigen und Fallen. Abscheulich schönes Mädchen! dachte ich, und beinahe glaube ich, sie errieth meine Gedanken: denn so geschickt auch die Wendung war, mit der ihr Blick von mir seitwärts nach ihrer Tante überging, so schien er mir doch zu abgebrochen um ganz natürlich zu seyn. – »Ich sehe im Geiste,« sagte sie mit einem unterdrückten Seufzer zu ihr, »welch einen Segen die Begebenheit dieses Morgens über das Haus meiner Wohlthäterin bringen wird. Von den fernsten Orten her werden Wallfahrten nach dem unverbrennlichen Blatte geschehen, und ach! wie hoch werden nicht Ihre Miethen im Preise steigen! – Aber,« fuhr sie mit niedergeschlagenen Augen fort, »wohin, ihr Jungfrauen des Himmels! wohin werde ich mich alsdann verstecken, wenn, als Erbin der heiligen Klara, auf mich aller Augen gerichtet sind? – Ach mein Herr!« drehte sie nun wieder ihr Köpfchen zu mir, ergriff meine Hand, und drückte sie vor überströmender frommer Empfindung und im Angesichte des Propstes an ihren schwellenden Busen. Aber kein Mensch gab jetzt etwas auf diesen Vorsitzer meines peinlichen Gerichts. Kalt und ernsthaft stand er mit verschlossnen Lippen vor dem Tische. Der Mann am Protokolle stand lange wie versteinert neben ihm. – Endlich ermannte er sich, und fragte mit leiser Stimme seinen Patron, ob er den Vorgang zu Papiere bringen sollte? Da ihm dieser aber aus übler Laune nicht antwortete – hielt er es länger nicht aus, setzte sich, und that[33] es ungeheißen, indeß der Domherr, dem alles an der Ausbreitung des Wunders gelegen zu seyn schien, die Thür aufriß, und meinen Bastian und meine Wache herbei rief. Eine neue auffallende Scene für einen so ruhigen Beobachter als ich jetzt war. Die beiden Bärmützen, die sich zu nichts geringerm als zu dem schrecklichen Befehle abgerufen glaubten, mich in ihr ehemaliges Gefängniß zu begleiten, stutzten gewaltig, als sie mich nur mit gerührten und freundlichen Gesichtern umringt fanden – trauten ihren Augen und Ohren kaum, als sie die Ehrerbietung sahen – und die süßen Worte hörten, mit denen mich meine Kläger und Richter überhäuften. Der Domherr mußte sie mehr als Einmal erinnern, dem neuen Wunder des unverbrennlichen Blattes zu huldigen, ehe sie begreifen konnten was er wollte, und was es eigentlich mit der schnellen Veränderung meines Zustandes für eine Bewandtniß habe. – Als sie es aber endlich begriffen, so stürzten desto freudigere Thränen von ihren brüderlichen Wangen herab. Der Prologus drückte mir die Hände, der Epilogus küßte mir sie – beide winkten mir ihren Beifall zu, und selbst in ihren nassen Augen flimmerte das lachende Geständniß, daß sie mich für ihren Meister erkannten.

Alles das rührte und belustigte mich wechselweise: doch Bastian, der in der Schwärmerei seiner Jugend und Frömmigkeit den Vorgang wie ein Evangelium glaubte, und sich selig pries einem solchen Herrn zu dienen – Bastian allein kam, ohne es zu wollen, auf die rechte Spur mich aus meiner Fassung zu bringen. »Ach!« sagte er mit schmelzender Stimme, »was wird nicht meine gute Schwester Margot und mein Schwager für Freude haben, wenn sie das hören!« Ich erschrak, wie ein Dieb, der seinen Steckbrief in den Zeitungen liest, bei dieser Erwähnung. – »Gott, Gott!« sagte ich heimlich zu mir, »wie unabsehlich weit hast du dich in diesen sieben Tagen von den unschuldigen Hüttenbewohnern des ehrlichen Caveracs und von dir selbst entfernt! – von einem natürlichen guten Manne – zu einem religiösen Betrüger!« ... Mir war zu Muthe wie einem Juden, der Schinken verkauft. Ich hatte einen Abscheu vor meinem Handel. – Da aber der Vortheil mir – der Nachtheil meinen Feinden zufiel, so fand ich hierin einen[34] doppelten Bewegungsgrund, mich geschwind genug zu beruhigen, und ließ es einstweilen damit gut seyn. – Bastian war inzwischen zur Thüre hinaus gewischt, und stürmte, wie der Diener eines Zahnarztes das Volk zu der Boutique seines Patrons. In wenig Augenblicken waren Zimmer, Vorsaal und Treppe voll von Neugierigen und Andächtigen, die mir alle vorkamen als wären sie dem Tollhause entlaufen. Bei einem solchen Getöse muß man der Wunder besser gewohnt seyn als ich – muß man, glaube ich, ein Geistlicher seyn, um sich nicht bange werden zu lassen. – Während dieses Tumults hatte sich der Propst fortgeschlichen – sein Waffenträger ihm nach. Ich war heilfroh darüber, denn so lange sich dieser Schwarzkünstler noch in meiner Nähe befand, schien mir immer noch etwas im Wege zu stehen. Nun erst ward mir recht leicht um das Herz. Ich sah mit wahrem Entzücken, daß mein Gericht aufgehoben – meine hämischen Ankläger zum Schweigen gebracht – was mir aber mehr als alles dieß den Gewinn meines Prozesses versicherte, ich sah daß die Volksstimme auf meiner Seite war. Eine halbe Stunde hielt ich noch das Anstaunen der Menge – ihre unbesonnenen Fragen, und die ekeln Ausbrüche ihrer Verehrung aus: da ich aber zuletzt dieser albernen Scene höchst müde war, und mich besann, daß ich vor meiner Abreise noch andere wichtige Geschäfte abzuthun hatte, so wendete ich mich mit dem Anstande eines Mannes, dessen Bitten Befehl sind, an den buntscheckigen Haufen, äußerte mein Verlangen, daß man mir nun auch einige Ruhe gönnen möchte, packte mein Zauberblatt wieder ein – und machte ihnen Hoffnung, es nächstens der allgemeinen Andacht öffentlich auszustellen. Diese höfliche Erklärung that ihre Wirkung – und um ganz sicher vor weiterem Anlaufe zu seyn, befahl ich meinen Grenadieren, sich vor das Haus zu stellen – und, bei Strafe der Kassation, keine Seele sich dem Thürklopfer nähern zu lassen.

Sobald ich mich mit meinem Erretter, dem Domherrn, und meinen beiden frommen Nachbarinnen allein sah – mir die Ehre ihrer Gegenwart bei meinem letzten Mittagsmahle ausgebeten, und meinem Bastian eingeschärft hatte, es mit verständiger Rücksicht[35] auf meine vornehmen Gäste zu besorgen, ging ich nun als der obsiegende Theil ohne weitere Umstände an ein Geschäft, das oft selbst bei einem gewonnenen Prozesse noch seine großen Schwierigkeiten hat, ich meine den Ersatz der Schäden und Kosten. Ungeachtet ich gestern mich selbst dazu erbot, fühlte ich mich doch heute verwegen genug mein Wort wieder zurück zu nehmen; so sehr hatten sich seitdem die Umstände geändert. Ich fand es meiner moralischen Denkungsart ganz zuwider, jenes Schlachtvieh, das ich der unreinen Herde der Kasuisten entführt hatte, um es dem Andenken Rousseau's zu opfern, in der Nähe von schwachen Menschen wieder aufzustellen – fand es viel edler, diesen Gewinn meiner Börse einer guten Handlung zu widmen, und machte mir nicht das geringste Bedenken, es auf Kosten der milden Stiftung zu thun. Sonach wendete ich mich an den Domherrn: »Ich begreife, wie weh es den hiesigen gläubigen Seelen thun würde, wenn ich das Dokument der Dreieinigkeit dem Lande entziehen wollte, in welchem es die Vorsehung ausgefertigt hat..« – »Nein bei Leibe,« unterbrach mich der erschrockene Domherr, »das darf nicht geschehen!« – »Zumal da niemand,« fuhr ich fort, »dafür stehen kann, daß nicht das Volk, dem ich die Ausstellung dieses Wunderblattes schon halb und halb versprochen habe, über dessen Verlust in Aufruhr gerathen könne..« – »Freilich, freilich!« schrie der Domherr darein, »es würde alles drunter und drüber gehen.« – »Und doch,« fuhr ich jetzt schon um vieles herzhafter fort, »können mir Ihro Weisheit nicht absprechen, daß mir dieser Schatz ohne Widerrede zusteht, sobald ich den Scheiterhaufen der Kasuisten vergüten soll, der hier nur als ein Vehikel dieses Wunderblatts zu betrachten ist, so wie dem Scheidekünstler das Gold gehört, der das Erz, worin es lag, erkauft hat.« – »Lieber Freund und Gönner,« fiel mir hier der Prälat wieder in das Wort, »sollte denn nicht ein Ausweg zu finden seyn? Ich bitte Sie bei allem was heilig ist, denken Sie doch auf einen Ausweg!« – »Das habe ich schon gethan,« versetzte ich, und schlug ohne Respekt für seinen Purpur meine Arme kreuzweis in einander. »Wäre es mir gegeben mit heiligen Sachen zu wuchern – wäre der Ersatz der Kosten nicht gemeiniglich schon ein halber Beweis[36] unrechter Handlung, und machte es mir nicht eine geheime Freude, diejenigen mit Großmuth zu bestrafen, die mich zu verfolgen gedachten; so würde ich, unter uns gesagt, theuerster Freund, etwas geiziger handeln – würde die verbrannte Sammlung für ihren geringen Ladenpreis wieder herstellen, und mich und mein Vaterland mit einem Blatte bereichern, das einem wohldenkenden Herzen mehr werth seyn muß als alle Bibliotheken der Welt. – Aber ich entsage gern meinem Eigenthume daran ...« – »Das ist schön und groß gedacht,« tönte hier Klärchen – und: »Ach! es fällt mir ein Stein vom Herzen,« krähte die Alte darein, die bis jetzt in ängstlicher Erwartung des Ausgangs von weitem mit ihrer Nichte mir stillschweigend zugehört hatte. – »Dagegen,« fuhr ich sehr anmaßlich fort, »verlange ich die Befreiung von allen niedrigen Unkosten als Bedingung, und nebenbei das Versprechen von Ihnen allen, bei Ihren künftigen Nachforschungen nach jenem großen Geheimnisse des Mannes in Segen zu gedenken, der sich um die dunkle Lehre der Dreieinigkeit vielleicht verdienter gemacht hat, als alle Gottesgelehrten, die bis jetzt, ohne sonderlichen Erfolg, daran gearbeitet haben.«

Der Domherr, in der Freude seines Herzens, bestätigte nicht allein auf das höflichste die Komplimente, die ich mir selbst machte, sondern er dankte mir auch im Namen aller Gemeinden der christlichen Kirche – deren er doch keiner einzigen vorstand – für mein großmüthiges Erbieten. – Er zweifle nicht, sagte er, daß es auch der Legat im Namen des heiligen Vaters thun, und mit dankbarer Freude meine so billigen Bedingungen genehmigen werde. – Er eile jetzt zu ihm, um unser aller Angelegenheit in Ordnung zu bringen; denn mit Kanzlei-Geschäften müsse man einem geistlichen Herrn früh kommen. Er hoffe in einigen Stunden damit fertig zu seyn, und alsdann – hier küßte er mich mit der freundschaftlichsten Wärme – den schriftlichen Erlaß meines Haus- und Stadtarrests und aller Schäden und Unkosten, so viel ihrer auch seyn möchten – gegen ein gutes Glas Wein an meinem Tische auszuwechseln. – Er ging, und, nach einigem Fispern mit ihrer Nichte, verließ auch die alte Bertilia das Zimmer, um, wie sie sagte, in das ihrige[37] beten zu gehen. Klärchen, die sich nun auf einmal mit mir wieder so allein sah als an dem Namenstage ihrer Tante, ward roth bis über die Augen, und wie man nur zu oft, in der Absicht sich aus einer kleinen Verlegenheit zu ziehen, in eine noch größere fällt, so bat sie mich, sie aus der einsamen Stube in die bewußte Bibliothek zu führen, die doch sicher der geheimste und einsamste Winkel im ganzen Hause war. »Sie wolle noch einmal,« gab sie vor, »in meiner Gegenwart den merkwürdigen Platz aufsuchen und bezeichnen, wo die Legende ihrer verklärten Namensschwester, bis zu ihrem Hingange in den Kamin, verweilt hätte.« Ohne mich lange über ihr geschwindes Vergessen des Lokals zu verwundern, reichte ich ihr den Arm. – Sobald wir aber beide vor dem Bücherschranke ankamen, überraschte sie mich – nein, es ist nicht auszusprechen wie? Du könntest Jahre darauf sinnen ohne es zu errathen.

Als wenn sie mir in das Herz geblickt – als wenn sie die ganz unbeschreibliche Erniedrigung gekannt hätte, in der mir ihr Bildniß erschien – unternahm sie, zu meinem Erstaunen, sich aus dieser tiefen Herabsetzung zu erheben, und meinem Menschenverstande zum Trotz alle die gründlichen Versuche umzustoßen, die mir über ihre Heiligkeit, Unschuld und Sittsamkeit die Augen nur zu sehr geöffnet hatten. – »Nun das gestehe ich,« sagte ich bei mir selbst, sobald ich ihre Absicht merkte, »dieser äußerste Grad der Unverschämtheit hat noch gefehlt, um die Mißgestalt ihres Charakters vollends auszumalen!« – Aber es währte nicht lange – solltest Du es glauben Eduard? – so fingen mir an meine gewissen Erfahrungen von ihr problematisch zu werden – meine Versuche kamen mir einseitig, und die Schlüsse, die ich daher folgerte, willkührlich und übereilt vor. – Ich vergebe Dir, wenn Du über diese Nachricht lachst. Ich bin der erste, der eingesteht, daß, nach allem dem, was unter uns vorgegangen, mir von ihr zu Ohren gekommen, und noch heute meinem Geiste so gegenwärtig war als gestern meinen Augen – es etwas höchst unerwartetes sei, daß mich dasselbe Mädchen, so kurz vor meiner Abreise, eines bessern von ihr überzeugen solle. – Aber genug! es gelang ihr. – Das Kind erschien mir heiliger und unbefangener als jemals, und so[38] sehr ich mich Anfangs auch sträubte, trat ich doch zuletzt freiwillig den sublimen Vorstellungen bei, die sich Herr Fez – ein braver, gescheidter Mann, von ihr macht, der sie von Jugend auf in den Augen gehabt, und sie wohl richtiger als ich zu beurtheilen Gelegenheit hatte.

Ich sehe, Du bist nach diesem Geständnisse im Begriff mir Deine Freundschaft aufzukündigen, schiltst mich einen Schwachkopf, und magst nichts weiter mit mir zu thun haben. – Aber warte nur noch einen Augenblick und höre! –

Anstatt das Fach zu bezeichnen, wo die Legende der heiligen Klara kürzlich noch stand, wendete sie sich sogleich, als wir vor den Schrank traten, mit unbeschreiblicher Anmuth nach mir, ohne es anzublicken, und legte mit kindischer Gutherzigkeit ihre beiden Händchen in die meinen. – »Ich habe Sie aus keiner andern Absicht in dieß abgelegene Kabinet gelockt,« sagte sie, »als mein Herz, das mir zu voll ist, ungestört vor Ihnen auszuschütten. – Halten Sie mir meinen kleinen Betrug zu Gute, mein bester Herr! Wie viel,« fuhr sie äußerst gerührt fort, »habe ich Ihnen nicht seit der vergangenen Stunde zu danken! Es haben sich seit meiner Geburt manche gute Menschen meiner angenommen – haben in Unschuld und Tugend für mich gesorgt – mir über vieles Rath und Trost ertheilt, und meinen Verstand erweitert – aber dennoch bin ich bis heute mir selbst immer noch unbekannt geblieben. – Ihnen war es vorbehalten, mir diese Kenntniß zu geben. Sie, mein Herr, sind der erste, der mich über meinen innern Werth belehrt, und mich in meinen eigenen Augen zu einer Würde erhoben hat, mit der ich kaum weiß was ich anfangen soll. Das süße Bewußtseyn, die heiligen Steine in mir zu tragen, die bis jetzt allen menschlichen Nachforschungen entgangen sind – o daß es mich nicht übermüthig und stolz – und nur nicht der Erbschaft meiner höchst seligen Schwester unwürdig mache!« – »Wie? Klärchen!« sagte ich höhnisch: »Hatten Sie denn vor meiner Rede nie einige Ahndung davon? – fühlten nie ein sanftes Drücken in der heiligen Gegend, wo sie liegen?« – »Auch nicht das geringste!« antwortete sie mir mit einer Unbefangenheit, die allerliebst war. – »Hat Sie denn,«[39] fuhr ich schalkhaft fort, und ich dachte sie würde über und über roth werden, »auch Herr Ducliquet nicht auf die Spur gebracht?« – »O!« sagte sie, ohne im mindesten aus der Fassung zu kommen, »vor einigen Jahren zwar hat mir dieser gute würdige Mann die Lebensgeschichte meiner verklärten Namensschwester zur Erbauung und Nachahmung vorgestellt. – Es war sogar sein erstes Gespräch mit mir. – Aber ich war damals ein Kind – hatte keine Acht darauf, und schlief über seinem Unterricht ein. Lange fand ich keine Gelegenheit, meine Unachtsamkeit wieder gut zu machen. – Vorgestern erst glückte es mir. Erinnern Sie Sich wohl noch, wie begierig ich in einem Buche las, das ich Ihnen nicht sehen ließ? – Jetzt kann ich es Ihnen sagen; aber legen Sie mir es nicht als Stolz aus! Es war die Legende dieser Heiligen – war eben das Blatt, das Gott im Feuer erhalten hat.« – »So?« sagte ich, »aber wie kam es denn, daß Sie das erstemal dabei einschliefen?« – »Weil es sehr spät war,« antwortete Sie. »Sehen Sie – es war Mitternacht..« – »Aber um des Himmels willen, Klärchen,« fiel ich ihr ein, »wie trafen Sie denn so spät mit dem Domherrn zusammen?« – »O,« antwortete sie, »das hängt ganz natürlich an einander. Soll ich es Ihnen erzählen?« – »Wenn ich bitten darf, liebes Kind,« lächelte ich sie an, »so thun Sie es so genau als möglich und mit allen Umständen.« – »Nun gut,« fing sie schwatzhaft an. »Meines Vaters Schwester zu Cavaillon – die Wirthin in dem Propheten, hatte uns hier besucht, und nahm mich mit sich, als sie zurück ging. Wir trafen das ganze Wirthshaus übersetzt an, da wir ankamen. – Es war schon spät, und ich konnte vor Müdigkeit kein Auge mehr aufhalten. – Das gute Weib machte auch alle Anstalt, um mich bald zur Ruhe zu bringen – führte mich in eine große leere Stube, und wies mir ein Bett an. Ich hatte mich noch nicht ganz aus meinen Reisekleidern geworfen – so brachte mein Vetter einen Passagier in dieselbe Kammer. – Es war Herr Ducliquet. – Er erkundigte sich, was das für ein Kind wäre. – Mein Vetter nannte mich, und wünschte uns eine gute Nacht. Der liebe fromme Herr, wie Sie ihn kennen, nahm sogleich Gelegenheit, mir recht viel Erbauliches über meinen Namen[40] und meine Patronin zu sagen. – Aber, wie Kinder sind – ich hörte die Sache nur halb und schlief darüber ein. Bald nachher.. doch das ist eine Geschichte, die weiter hieher nicht gehört..« – »O das thut nichts, Klärchen,« sagte ich: »erzählen Sie nur immer fort – ich könnte Ihnen einen ganzen Tag zuhören.« – »Nun denn, mein Herr,« erwiederte sie, »so ist es Ihre eigene Schuld wenn ich Ihnen lange Weile mache. Ich schlief also, wie Sie wissen – aber es währte nicht lange, so erweckte mich ein Getös von der andern Welt. – Ich fahre schlaftrunken in die Höhe – und sehe – stellen Sie Sich das Erschrecken eines Kindes vor – den Teufel vor meinem Bette.« – »Gott sei bei uns!« unterbrach ich die Schwätzerin. – »Ach! fürchten Sie nichts,« fiel sie mir hastig in's Wort: »Er war es nicht leibhaftig – es war nur ein Komödiant, der ihn den Abend vorgestellt hatte, und jetzt sein Bette suchte – und, was Sie erst recht verwundern wird, mein Herr – es war einer von den Soldaten, die Sie bewacht haben!« – »Unmöglich!« rief ich aus. – »O, verlassen Sie Sich darauf!« versetzte sie: »Sie können ihn selbst darum befragen. Das Schrecken,« fuhr sie fort, »war nicht geringe; aber die Folgen davon waren doch gut. Ich lag die ganze Nacht durch in einem Fieber, und war so in Furcht gesetzt, daß ich den Morgen darauf nicht länger in Cavaillon aufzuhalten war. – Ich weinte so lang und so jämmerlich, daß endlich meine Verwandten sich heraus nahmen, den Herrn Ducliquet, der wieder nach Avignon reiste, um einen Platz für mich in seinem Wagen zu bitten. Er bewilligte ihn auf das gütigste – und dieser Zufall, mein Herr, dieses Schrecken und diese Reise machten mein Glück. – Unterweges examinirte mich der würdige Mann über meine Glaubenslehren, ließ mich ein Morgenlied singen, und meine Stimme gefiel ihm. – Als wir hier ankamen, überlieferte er mich meinem Vater – denn keine Mutter hatte ich mehr – und suchte ihn zu bereden, mich die Noten und das Singen lernen zu lassen. Der hätte es auch gern gethan; aber er war zu arm um etwas auf meine Erziehung verwenden zu können. Da schlug sich der wohlthätige Herr in's Mittel – und, wie manchmal ein geringer Umstand in unser ganzes Leben[41] eingreift, erbot sich nicht allein, mir auf seine Kosten im Singen einen Lehrmeister zu halten, sondern auch in allen andern nützlichen Dingen Sorge für meine Bildung zu tragen. – So kam ich in das Domstift, wo er mich der Aufsicht seiner Haushälterin übergab, die wie eine Mutter für mich gesorgt hat. – Ach! ich wäre gewiß noch in dem Hause dieses guten Herrn, wenn ich nicht selbst mein Glück verscherzt hätte.« – »Wie denn so?« fragte ich lächelnd, und glaubte nun gewiß das Mädchen auf einer Unwahrheit zu ertappen, die ich mir schon vornahm sie recht fühlen zu lassen, aber es war nicht möglich. – »Sehen Sie,« fuhr sie fort, »Herr Ducliquet hatte ausgewirkt, daß die gefährlichen Menschen, die mir so ein Todesschrecken eingejagt hatten, der Folgen wegen, nicht weiter mit lebendigen Personen spielen durften. Da legten sie nun ein Puppenspiel an. – Einmal, da ich ausgeschickt war um Semmel zu holen, ging ich eben vorbei, als sie ein geistliches Stück aufführten. Ich glaubte nicht unrecht zu thun – wendete einige Sous daran und ging hinein. Man wies mich auf die hinterste Bank, wo ich weder etwas hörte noch sah. Gern wäre ich wieder heraus gewesen; aber das war bei dem Gedränge schon nicht mehr möglich. Ich kam neben einem Officier zu sitzen, und saß wie auf Kohlen. – Er hatte die Barmherzigkeit, mir den Arm zu geben und durch das Volk zu helfen, als das Spiel vorbei war. – Aber mein Gott! wie war die Zeit vergangen! Es war ganz dunkel, wie ich zurück kam, und vor Angst hatte ich die Semmel vergessen. – Ach wie theuer mußte ich diesen kindischen Einfall und diese Vergessenheit büßen! Meiner Pflegemutter war das Ragout verdorben, und der Herr, der den Koch nach mir geschickt hatte, mußte hungrig zu Bette gehn. – Meine Entschuldigungen halfen nichts; denn sie waren beide keine Liebhaber vom Schauspiele. – Sie sagten sich von mir los, und ich mußte noch diesen Abend aus ihrem Hause. Was sollte ich anfangen? Seit acht Wochen war ich eine Waise. Es blieb mir nur die einzige Verwandte übrig, zu der ich flüchtete, und die mich mit Erlaubniß des Herrn Propsts aufnahm. Nun geht es mir zwar ganz gut hier – aber was ich kann das kann ich – denn mit meinen schönen Lehrstunden hat es ein Ende.«[42]

Ich ward über die natürliche Erzählung des armen Kindes, die der Sache ein ganz anderes Licht gab, schon etwas nachdenkend. – »Klärchen!« sagte ich, und sah ihr scharf in die Augen, ohne daß ich, Gott weiß, die geringste Verlegenheit darin erblickte, »damals waren Sie ein Kind; das entschuldigt viel: aber wie sind sie denn nachher ...« und ich hielt inne, weil ich selbst nicht recht wußte was ich ihr zuerst vorwerfen sollte. – »Was denn, mein lieber Herr?« fragte sie hastig, und starrte mich dabei mit ihren großen unschuldigen Augen an – und ich fuhr, selbst und allein außer Fassung gesetzt, stotternd fort – »zu den Kreuzen gekommen, die ...« – »Das,« fiel sie mir ganz verwundert in das Wort, »das wissen Sie ja! die malt mir der Herr Propst meistens einen Tag um den an dern.« – »Aber um Gottes Willen,« erwiederte ich und schüttelte den Kopf, »wie mag ein so frommes blühendes Mädchen so etwas erlauben?« – »Wie so?« fragte sie erstaunt: »Es geschieht ja zu meinem Besten, um mich, wie der Herr Propst und meine Tante sagen, die immer dabei steht, vor allem zu bewahren, was mir die Stimme verderben kann; und finden Sie denn nicht, mein Herr, daß es geholfen hat? – Ach, diese heiligen Zeichen – Sie mögen sagen was Sie wollen – sind von erstaunlicher Wirkung.«

Ich sah das Mädchen mit stiller Verwunderung an. Wäre es möglich! dachte ich, faßte Herz – und that ihr noch eine Frage. – Aber die war umsonst – denn sie verstand sie nicht. Ich sann und sann, und konnte so wenig aus diesem sonderbaren Geschöpfe als aus mir selbst klug werden. – »Es ist doch,« sagte ich in stiller Ueberlegung, »nicht so ganz platterdings unmöglich, daß ihr der Propst entweder so etwas weiß macht, oder es auch wohl selbst glaubt – denn was glaubt man nicht alles in dieser Religion! – und daß beide nichts weiter dabei denken, als ein anderes, das Handschuh anzieht um sich vor der Luft zu bewahren. Indeß ... wundershalber will ich sehen, was sie mir darauf antworten wird!« – »Klärchen,« erwiederte ich mit zunehmendem Interesse an ihren naiven Antworten, setzte mich dabei auf den nächsten Stuhl, und zog sie wieder, wie das letztemal nach Auswechselung[43] unserer Bänder, an meine Kniee, mit denen ich sie traulich umfaßte. – »Nehmen Sie mir nicht übel, Klärchen, daß ich auf eine alte vergessene Geschichte zurück komme. – Gestern, Kind – ich kann nicht ohne Entzücken daran denken – was dachten Sie denn gestern – als ich mir die Erlaubniß des Pater Lessau und Bauny so gut zu Nutze machte?« – »O, da,« antwortete sie, »war mir nicht wohl zu Muthe – das gestehe ich Ihnen. Ich dächte Sie hätten gesehen, wie angst mir um meinen heiligen Nicaise war. – Ich erwartete immer, Sie würden ihn noch in tausend kleine Bißchen zerstückeln.« – »Weiter, liebes Klärchen!« indem ich sie sanft mit meinen Knieen drückte. – »Ja – und als Sie mir,« fuhr sie mit einem Blicke fort, der gar drollig war, »das Kreuz der Cäcilia verlöschten, war mir noch weniger wohl um das Herz; doch verließ ich mich noch auf die Wiederherstellung und auf meinen hübschen Vorrath von geweihter Farbe. – Als Sie aber auch diese verschütteten – nein! ich läugne es nicht – da war ich so toll und böse auf Sie, als ich noch in meinem Leben auf niemanden gewesen bin. Ich dachte gewiß, es wäre nun um meinen Discant geschehen – und ich würde nicht einen Psalmen mehr zur Naht bringen – das Schmählen des Propstes und meiner Tante ungerechnet, das ich voraus sah. Heute mache ich mir freilich weniger daraus, da ich nichts wüßte, was Sie mir nicht durch die heiligen Steine zehnfach ersetzt hätten.«

Diese unbegreiflich unschuldige Erzählung, durch die das liebe Kind, so als wenn es nichts auf sich hätte, meine Einbildungskraft entflammte, und in die reizendste Gegend zurück brachte, die ich wohl behaupten kann in meinem Leben gesehen zu haben, setzte mich erst ganz außer mir, als sie schwieg; denn jetzt sprach die gefährliche Stille, die uns umgab, nur desto vernehmlicher. – Ich sprang wie verwirrt von einem Stuhle auf, und mit dem Gefühl eines Wunderthäters war ich eben im Begriffe, den Riegel an der Kammerthür vorzuschieben – als sie Bastian mit der einfältigen Frage halb öffnete: was für Wein er diesen Mittag aufsetzen solle? – Wie er seinen Kopf so vorstreckte, hätte ich ihm lieber in diesem Augenblicke seinen Abschied gegeben; denn die vermaledeite Aehnlichkeit[44] mit seiner Schwester verjagte mir wieder alle die muthigen Gedanken, die mir Klärchen eingab. Ob ich nun gleich kurz nachher froh war, so kam mir doch jetzt diese Unterbrechung meiner Ideen zu unerwartet, um mir nicht weh zu thun. Ich blickte einige Minuten schweigend gen Himmel – wendete dann mit Ernst und Mitleiden meine Augen gegen das liebliche Mädchen – »Hier ist,« sagte ich heimlich zu mir, »tausend- ja millionenmal mehr als Margot!« und halb betäubt führte ich sie nun in die Stube zurück, wo der Tisch schon gedeckt stand. Ich zog, nachdenkend, die Hände auf den Rücken gelegt, ein paarmal meine Zirkellinie um ihn, ehe ich einen herzdrückenden Seufzer, an dem ich arbeitete, los werden konnte, der aber auch dafür mehr Erleichterung nachließ, als keiner, der bis jetzt in meinem Tagebuche vorkommt; und indem ich mich mit diesem Bogen zur Aufnahme meiner Beichte an einen Nebentisch setzte, fertigte ich auch Bastian ab, der immer noch keine Antwort auf seine ungelegene Frage erhalten hatte. – »Rechne auf die Person, wir sind unser Viere,« sagte ich ihm, »eine Flasche Burgunder, und eben so viel Champagner – kann doch jedes seinem Nachbar abgeben was es daran zu viel hat. – Aber von der besten Sorte,« rief ich ihm nach, »denn wir haben einen Domherrn bei Tische.« – Ich habe, kann ich mit Wahrheit sagen, noch nie in besserer Laune ein berauschendes Getränk bestellt. Indeß nun das arme Kind da mir ungewiß gegen über sitzt – auf jeden Zug meiner Feder schielt, und in meinen Augen vergebens zu lesen sucht was in mir vorgeht, bittet mein gerührtes Herz, so oft ich hinblicke, ihr alle die Beleidigungen ab, die ich ihr anthat, und, empfiehlt in stiller Andacht diese schöne nackende Seele dem Schutze Gottes und aller Heiligen. Ach! nie ist eine, bei dieser namenlosen Einfalt, in einer so verdorbenen Welt als die unsere ist, dieses Schutzes so bedürftig gewesen!

Es ist mir für meine Schreiberei lieb, daß ich noch eine Weile der albernen Gespräche, die ich mit der Zurückkunft des Domherrn erwarte, entübrigt, und unter der stillen Aufsicht Klärchens so gut wie allein bin – denn so habe ich doch noch Zeit die mancherlei wider einander laufenden Gedanken für Dich noch durchzufegen,[45] die von allen Seiten her sich immer mehr anhäufen. – Meine schwankende Denkungsart – laß mich zuerst von der sprechen – die ich mir wohl sonst, nicht ganz ohne Grund, vorwarf – ärgere mich dermalen nicht im geringsten. Ein ehrlicher Mann, wenn er es wirklich seyn will, muß schwanken, sobald sich an dem Objekte über das er nachdenkt, die Farben ändern; und ich kann die klugen Leute vor meiner Sünde nicht leiden, die sich selbst da ihrer Festigkeit rühmen, wo es offenbar ein Fehler ist fest zu seyn. Es ist ein wahres Glück für die praktische Philosophie, daß ich durch meinen Arrest so lange hier aufgehalten wurde, um noch im Zeiten gewisse Vorurtheile zurück zu nehmen, die schon tiefe Wurzeln zu schlagen anfingen, und die ihr so nachtheilig hätten werden können als dem guten Rufe dieses vortrefflichen Mädchens. – Und noch glücklicher trifft es sich, daß ich, Gott Lob! von dem gewöhnlichen Eigensinne spekulirender Köpfe frei bin – denn sonst hätte ich mich gewiß auch jetzt noch nicht aus der Schlußfolge gefunden, die ich einmal glaubte mir bewiesen zu haben. – Die Wahrheit wäre mir entwischt, wo ich ihr am nächsten war, und Du, lieber Eduard, wärest so gut als ich um das Resultat meiner mühsamen Experimente gekommen, das ich Dir doch nun, auf das feinste entwickelt, als die lehrreichste Entdeckung meiner Reise mitbringen kann. Das Vorgeben unserer großen Menschenkenner, daß jedes Mädchen – unschuldig oder nicht – in ihren eigenen Angelegenheiten dem scharfsichtigsten Manne eine Nase drehe – ist aus der Luft gegriffen, wie viele solcher Sentenzen. Versteht nur erst, ihr guten Leute, ein weibliches Herz – ohne Einmischung eures eigenen – zu entfalten, so wird euch auch keins so leicht über seinen Werth oder Unwerth betrügen! – Freilich ist es eine kitzliche Sache damit; das kann ich nicht läugnen, denn mein Beispiel beweist es zu klar. War ich nicht drauf und dran, das schuldloseste Geschöpf zu verdammen, das vielleicht in unserm Welttheile zu finden ist? – und wer hätte mich einer Uebereilung dabei zeihen können? Traten nicht so viele Anzeigen wider sie auf, die mein Urtheil vor jedermann rechtfertigen mußten? – Und doch war ich in Irrthum, und wäre es auch, ohne das letzte zufällige[46] Gespräch mit ihr, immer und ewig geblieben. Das mag wohl nicht selten der Fall bei unsern systematischen Grillen seyn. Wenn wir uns mit vieler Mühe die Augen verkleistert haben, öffnet sie uns ganz unerwartet das Geschwätz eines Kindes. Ist die Schamlosigkeit, die ich der guten Seele, nach der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes, vorwarf – ist sie bei ihr wohl etwas anders als der höchste Grad paradiesischer Unschuld? Wie lange hat es nicht gewährt eh' ich das begriffen habe! Nur die Seltenheit der Sache kann mir zu einiger Entschuldigung dienen. Bei den Wilden zwar, sagt man, fänden sich Spuren davon – aber in einem kultivirten Lande! – nach dem Sündenfalle! – ist es das erstaunungswürdigste Phänomen das sich denken läßt. Konnte ich denn nicht gleich vom Anfange Klärchens Betragen aus diesem Gesichtspunkte betrachten? Ach, wie viel geschwinder würde ich alle jene Abweichungen von dem Gewöhnlichen bei ihr enträthselt, und die undankbare Mühe erspart haben, ein so liebenswürdiges Geschöpf – bei beständigem Widerspruche meines Herzens – in meiner Vorstellung so abscheulich tief zu erniedrigen! – Aber unsre liebe, herkömmliche, Europäische Denkungsart – die doch selbst im Grunde nichts anders als Abweichung von der Natur ist – steht uns immer bei metaphysischen Auflösungen im Wege.

Drollig genug, daß ich durch ein vorgebliches Wunder hinter ein wahres gekommen bin! Aber was soll ich nun – da die Sachen bis auf diese Spitze getrieben sind – anfangen? – Auf der einen Seite – fühlt sich das fromme Kind so glücklich in dem Besitze der heiligen Steine; auf der andern habe ich alle hirnlose Köpfe – das heißt alle Einwohner der Stadt – damit erhitzt. – Wird das nicht zu den tollsten Planen und Nachforschungen Gelegenheit geben, über die eine Tugend so leicht zu Grunde gehen kann, die durch weit größere Seltenheiten die Ehrerbietung der Erde verdient? Wirklich, es wird mir ganz bange um das Herz, wenn ich das so recht überlege.

Das reizende Mädchen! wie lieb ist sie mir nicht seit einigen Minuten geworden! Ich kann es nicht ausdrücken wie lieb! Wenn ich so von meinem Bogen auf in die Höhe blicke, und diesen schönen[47] großen Augen begegne, aus denen die ganze Reinigkeit und Energie ihrer Seele wiederstrahlt – so kann ich nicht – nein! wahrlich ich kann mich nicht eines Gedankens erwehren, den mir mein guten Genius gewiß nicht umsonst so warm an das Herz legt. Bei der kleinen Margot ward er schon einmal ziemlich laut bei mir – aber Du weißt, wie flüchtig er damals und wie wenig überdacht er war. Hier aber finde ich ungleich mehr Ursachen ihm nachzuhängen. – Ernstlich, Eduard! Ich kann mir doch an den Fingern abzählen, daß ich über lang oder kurz – wie man sagt, heirathen werde; und wie wird das geschehen, wenn ich nicht zuvorkomme – als auf die gewöhnliche Weise, die so albern als mißlich ist? Hier hätte ich nun einen Gegenstand gefunden, wie ihn nur die begehrlichste Liebe eines Philosophen verlangen kann, und als keiner – ich bin es versichert – mir je wieder so vollkommen aufstoßen wird. Ich mag um ein Mädchen werben wo ich will, wird mir wohl eins seinen Körper und seine Seele so aufrichtig und so befriedigend enthüllen, als es dieß Kind gethan hat? Ach! ich werde nicht besser als andere auf geradewohl einschlagen müssen, und alles das zu spät erfahren, was doch so gut wäre vorher zu wissen. Die seltene Gelegenheit, die ich in diesem Stücke bei Klärchen gefunden – kommt mir nicht wieder. Warum will ich mich also noch bedenken? Besitzt sie denn nicht alles, was ich manchmal in Sommernächten von meiner künftigen Gattin erträumte? Und Gott! im welchem Maße besitzt sie es! Lauterkeit des Herzens – hohe Einfalt eines herrlichen Verstandes – ächte Unschuld – eine nie berührte Stimme – und einen Gliederbau, wie er nicht oft der Natur gelingt. Ihr Herkommen mag freilich nicht vornehm seyn – aber das ist auch das letzte, worauf ein Mann zu sehen hat, der seinen wahren Vortheil versteht. Ihre abergläubische und schwärmerische Religion – o die war ihr während ihres Jungfrauenstandes recht nützlich, und nach der Trauung, denke ich, will ich sie ihr schon mit guter Art aus dem Kopfe bringen. – An die heiligen Steine – mag sie meinetwegen noch eine Weile glauben – die sollen mich an nichts hindern, und ich hoffe noch manche glückliche Stunde mit ihr über ihr gütiges Zutrauen in ihre Schiedsrichter[48] zu lachen. Daß der Propst ihr mit seinen Augen und Händen so nahe gewesen – könnte mir unter jeden andern Umständen anstößig vorkommen – hier wäre es eben so lächerlich, als wenn sich einer dabei aufhalten wollte, daß ein Priester seine Geliebte bei der heiligen Taufe schon vor ihm in den Armen gehabt habe. Ohnehin – wäre es auch nur um der einfältigen Nachfragen wegen der Dreieinigkeitssteine – würde ich das Mädchen eben so wenig ihren vorigen Bekannten unter dem Gesichte lassen – als sie jemals nach Berlin bringen, das auf keine Art dieser Perle werth ist. – Nein, Eduard! fern von euern Vorurtheilen – euern Etiquetten – euerm Neide und euren Sarkasmen – will ich mit Freuden mein Abzugsgeld in die königliche Invaliden-Kasse bezahlen – und in einem weniger sandigen und undankbaren Erdstriche als dem eurigen meiner Einkünfte und meines Lebens in den Armen dieses Engels genießen, ohne mich nur nach euch umzusehen, als in den Zeitungen. Mit meinem runden Charakter, zufriedenen Herzen, und mit der philosophischen Laune, die mich nirgends verläßt, will ich das Ding, das den meisten Leuten so schwer wird, schon möglich machen, und will es in Ruhe erwarten, was Du zu dem Plane meines Glücks sagen wirst, wenn Du mich einmal, wie ich hoffe, in meinem Winkel besuchst.

Da meine Feder – wie gewöhnlich, wenn sie das Herz führt – so voll und so geläufig ist, so will ich Dir ein Projekt mittheilen, das zu gut in meine Absichten paßt, um es nicht so bald als möglich – vielleicht schon morgen – in's Werk zu setzen. – Als ich letzthin von Vauclüse zurück kam, begegnete mir nicht weit von Lille ein Mann, der, den Hut tief in die Augen gedrückt, die Arme in einander geschlagen, trocken und ernst einher schritt. Eine dänische Docke, die traurig ihm nachschlich, und nicht den Muth hatte, einen Sprung in das Feld zu thun, war sein Begleiter. Das letztere fiel mir zuerst auf. Ich denke immer nicht gut von einer Haushaltung, wo ich die Freundschaft zwischen Herrn und Hund gestört finde. Ich erkundigte mich nach diesem Fremden – erst bei einem Bettler, dem er trotzig etwas in den Hut warf, und nachher bei einigen Bauern, denen er nicht dankte,[49] als sie ihn grüßten – und so erfuhr ich gar bald seine Geschichte. Er war ein Graf aus Kopenhagen, welcher dort der Regierung einen Dienst erwies, der ihm durch eine große Geldsumme belohnt wurde. Wie es aber manchmal mit solchen Belohnungen geht sie füllen den Beutel und belasten das Herz. – Es ward ihm zu enge in der Königsstadt. – Er gab es der dicken Luft Schuld und flüchtete sich hieher, wo er in der herrlichen Gegend so laut störte, bis er ein Dörfchen fand – so freundlich und wohl gelegen, als man sonst nur in Kupferstichen zu sehen bekommt. Hier ließ er sich nieder und baute sich an. – Aber was half es? Seine Unruhe ist noch immer dieselbe, und es fehlt ihm auch hier der Athem. – Klärchen könnte ihm begegnen, er sähe sie nicht. Immer in tiefen Gedanken, sprachlos und mürrisch, starrt er die reizensten Gegenstände der Natur an, ohne Gefühl, ohne Genuß: und doch, wie ich Dir schon gesagt habe, ist der Mann reich sein eigener Herr – und machte sich schon in seiner Jugend so verdient um den Staat; denn er verrieth Struensee, der sein Freund war. Sobald er sein Haus gebaut, eingerichtet, und sein Garten in englischem Geschmacke gepflanzt hatte, stand ihm an schon alles wieder zum Verkauf, und er beut es noch aus. Ich kann gewiß einen guten Handel thun, wenn ich es ihm abnehmen und ich zweifle nicht, daß er mir auch seinen armen traurigen Hund überläßt. Was ein unruhiges Gewissen baut, habe ich immer bemerkt, ist gemeiniglich prächtig und schön; es wird nichts gespart, um das Auge zu befriedigen und durch Bequemlichkeit und Anmuth den Sinnen zu schmeicheln – und wenn die Absicht sich schlägt, bekommt es ein anderer um das halbe Geld. Dann kommt es nur darauf an, daß der zweite Besitzer ein zufriedenes Haus mit in den Ankauf bringt, um der Hoffnung habhaft zu werden die dem ersten mißlang, und das, was die Natur und die Künste gewähren, mit freudigem Dank gegen sie zu genießen. Nun kann ich wohl sagen – wenn ich vollends mein Unrecht gegen Klärchen wieder gut mache – daß ich in der Welt Gottes nicht wüßte was ich mir vorwerfen sollte. Es geht mir mit meinem Gewissen wie einem Gesunden mit seinem Magen: ich fühle gar nicht[50] es liegt. Ich habe mich immer in Acht genommen dem Staate wichtige Dienste zu leisten; und die Hypochondrie, die ich mir nur durch mein einfältiges Studieren zuzog, ist Gott sei gelobt! in der heitern Luft dieses Landes verdunstet. – Bei diesen Vorzügen, was für eine allerliebste Wirtschaft kann ich mir nicht einrichten, und welche gute Menschen um mich her versammeln! Da ist mein alter Johann – der schickt sich ganz vortrefflich zu einem Haushofmeister – und die kleine Margot wäre zur Kammerjungfer bei meiner Frau wie gefunden. Nach Klärchen wird sie immer die erste Zierde meines Hauswesens seyn, und es ist mir beinahe nothwendig, daß ich sie mir in die Nähe bringe – denn sonst geht es mir gewiß zeitlebens mit ihr, wie es unserm alten Freunde, dem Major, mit dem Neidnagel an seinem Daumen geht, der ihn noch immer schmerzt so oft das Wetter sich ändert, ob er gleich schon im siebenjährigen Kriege die Hand sammt dem kranken Finger verlor. Nehme ich nun noch – wie ich Willens bin – den Prologus und seinen Bruder in meine Dienste – so habe ich auch ein Theater, und will sicher vergnügter und glücklicher leben, als selbst Voltaire zu Fernay gelebt hat: denn ich hätte, neben allem dem was er besaß – außer seinem Genie – obendrein eine junge liebenswürdige Frau, deren er auf keine Weise werth war, und läge nicht, wie er, mit Monarchen – Schriftstellern und Buchhändlern beständig im Streite. – Herr Fez würde sich gewiß lieber, glaub' ich, todt schlagen lassen, als daß er meine erreurs herausgäbe.

Wie doch oft das ganze Gewebe eines zufriedenen Lebens an dem flatternden Faden eines Augenblicks hängt! Wohl dem, der ihn noch zu fassen weiß, ehe er entwischt. Bester Eduard! Seit ich durch das Leben schlendere – doch schon eine hübsche Zeit! – habe ich noch nicht halb so viel Wohlbehagen empfunden, als in dieser laufenden Stunde. Mein Herz ist weder trotzig noch verzagt – weder gleichgültig noch trunken; – aber es ist gerührt, zum sichersten Beweise, daß es auf der rechten Spur ist. Durch wie manche unmuthige Jahre und manche Irrthümer des Verstandes, theuerster Freund, habe ich mich nicht durcharbeiten müssen,[51] ehe ich an dem großen Rade meines Schicksals den Punkt traf, auf dem alles beruht! Wie froh bin ich, daß ich jene windschiefen Anlagen unserer bürgerlichen Verfassung hinter mir habe, in denen ich so lange den Plan meines Glücks suchte! Mein Gott! wie viel verderben wir nicht Zeit, um richtig sehen zu lernen! Es liegt doch so wenig Belohnendes und dabei so viel Unedles in allen den leidenschaftlichen Blicken, die wir bald in diesen bald in jenen magischen Spiegel thun, in der Hoffnung es werde noch Einer, statt leerer Schatten, uns eine selbstständige Zufriedenheit zurück strahlen – daß es kaum zu begreifen steht, wie sich so mancher vernünftige Mann länger dabei herum treiben kann, als nöthig ist um ihn von der Eitelkeit seines Bestrebens zu überzeugen. Diese Ueberzeugung muß doch gewaltig schwer seyn, da sie, trotz der ewigen Beispiele, so wenig Menschen eher gelingt, als bis ihre Laufbahn geendigt und es zu spät ist. Warum, ich bitte Dich, unterscheiden wir das Glück durch Beinamen? – Giebt es denn, wenn wir philosophisch auf den Grund sehen, mehr als Eine Art? – Häusliches Glück ist auf dieser Welt das einzige, was der Mühe lohnt. – Alle übrige Spielarten sind eben so viele Aftergeburten, die einzeln nirgends hinreichen, und nicht verdienen den Stammnamen zu führen, ehe sie nicht mit jenem auf das genaueste verknüpft sind.

Wollen wir unserm Stolze und unsern leidigen Vorurtheilen nicht das Wort reden, so müssen wir alle über die Zusammensetzung menschlicher Glückseligkeit darin übereinkommen, daß sie in nichts anderm bestehe, als – in einer einfachen Lebensart – einem mäßigen Auskommen – einer leidlichen Gesundheit, und in den Freuden und Folgen einer keuschen Liebe. In meiner Jugend, wo ich mich stark auf die Physik legte, konnte ich es lange nicht ausgrübeln, woher wohl die Temperatur meiner Studierstube käme? ob davon, daß die Wärme hinauszog? oder davon, daß die Kälte herein drang? Nun kann ich es zwar auch jetzt noch nicht auf das schärfste demonstriren; aber so viel habe ich doch gemerkt, daß man wohl thut beides anzunehmen und darnach zu handeln, wenn man frei und gesund athmen will. Denselben Versuch werde[52] ich für das Künftige auch auf mein geistiges Daseyn anwenden – und es müßte nicht gut seyn, wenn ich nicht zuletzt – wo nicht nach der Theorie, doch nach der Erfahrung – den Grad von Behagen herausbringen wollte, der den Organen meiner Seele am angemessensten und zuträglichsten ist. – O Klärchen! Was hätte ich nicht alles in dir verloren, wenn ich nicht, selbst noch auf der letzten Linie, die schon zu unserer ewigen Scheidung gezogen war, schnell umgekehrt wäre – wenn ich mein Endurtheil über dich nicht wieder zurük genommen, und mich nicht zu einer Denkungsart ermannt hätte, die zu deinen ungewöhnlichen Tugenden paßt, und wie ich sie gegen Gott und die Welt verantworten kann! – Dank sei dem ewigen Urheber der Natur, der dich in dem Raume meiner Zeit werden ließ, und das seltenste Geschöpf seiner Hand für einen guten Mann aufhob!

Bastian soll in Gottes Namen die Postpferde wieder aufsagen. Der Reisepaß, den mir der Domherr mitbringen wird, kann noch einige Tage liegen, bis ich meine Angelegenheit mit dem dänischen Grafen und mit Klärchen in Ordnung gebracht habe. Nach Tische will ich mit dem Engel sprechen, und mich ohne weitern Aufschub ihrer lieben, kleinen, schreckhaften Hand versichern. – Es wird eine rührende Scene geben. Sie, die nichts im geringsten von dem Glück ahndet, das ihr bevorsteht – wie wird sie nicht über den schnellen Uebergang aus der Aufsicht einer grämlichen Tante in die Arme ihres Wunderthäters erstaunen! Ihres Wunderthäters? Nun das wollen wir weiter nicht rügen! Ein liebendes Weib, Eduard, ist wie das Reich Gottes. – Trachtet am ersten nach diesem, so wird euch das übrige schon zufallen. Auf die Fortsetzung meiner frohen Gemälde mußt Du nun in Geduld warten, bis die Tafel aufgehoben seyn wird. – Geht es mir selbst doch nicht besser. – Jetzt muß ich dem Domherrn entgegen gehen, den ich die Treppe herauf kommen höre – – –


Mein Abschiedsschmaus ist beinahe vorbei. Ich habe mich von der muntern Gesellschaft, die noch um den Tisch sitzt, weggestohlen, um Dir alles noch frisch aus dem Gedächtnisse zu erzählen, wodurch[53] sich dieses Fest vor andern auszeichnet, und um erst alle Nebendinge bei Seite zu schaffen, ehe ich in der Geschichte meines Herzens den Faden wieder aufnehme.

Daß mir der Domherr meinen Reisepaß und eine Quittung über das unverbrennliche Blatt, nebst der Lossprechung von allen Schäden und Unkosten, mitbrachte, versteht sich. Er übergab mir eins wie das andere im Namen des Legaten, unter wiederholter Versicherung seines Dankes und seiner Ehrerbietung, während Bastian meine Tafel anordnete, und ein so prächtiges Versöhnungsmahl auftrug, als es je eines gegeben hat, und das gewiß der Einweihung eines jeden Wunders würde Ehre gemacht haben. – Du verlangst wohl nicht, daß ich Dir, von der Suppe an bis zum Desert, jede Schüssel beschreibe? – Genug! der Speisewirth hatte sich angegriffen, da er hörte, daß die Gerichte für einen so wichtigen Mann als mich – und zu der Glorie der heiligen Dreifaltigkeitssteine bestimmt wären. Nur über den Wein, den wir tranken, mußt Du mir erlauben ein Wort zu sagen.

Bastian hatte ganz meinen Willen, und, wie ich bald nachher sah, auch den Geschmack meiner Gäste getroffen. Außer einem feurigen Burgunder, mit dem er mich mein Gastmahl eröffnen ließ, durfte ich auch nicht fürchten, wie auf der Hochzeit zu Canaan, mit einem schlechtern zu enden; denn es warteten schon auf einem Nebentische eben so viel andere Flaschen Vin de Sillery auf die Auswechselung, die ihnen bevorstand. Ehe noch dieser herrliche Wein an die Reihe kam, empfahl er sich schon, als ein alter guter Bekannter, meinem Gedächtnisse. Er erinnerte mich scherzend an die Wirkung, die er den Abend auf mich that, wo ich den ersten Sturm auf Klärchen wagte, den die fromme Tante so unfreundlich abschlug. Eben so ernst aber erinnerte er mich auch an den Augenschein, den er mir damals von der strengen Zucht verschaffte, in der mein Klärchen stand – die mir eine so beruhigende Rücksicht als glückliche Aussicht gewährte, und für die nur Gott unsere gute Alte belohnen kann. Wie viel mag die rechtschaffene Frau nicht Liebhaber vor der Thüre dieses Engels so gut abgewiesen haben wie mich. Ich sehe sie noch in Gedanken mit ihrem Wachsstocke[54] vor mir stehen, und überlege jetzt mit billigerm Gefühle alle die eindringenden Worte, die meine wilde und nach Verdienst bestrafte Leidenschaft so übel aufnahm, ob sie gleich nichts enthielten als Klärchens Lob. Unter diesem Selbstgespräche im Angesichte meiner Flaschen hob ich eine davon in die Höhe, um die gedruckte Etikette zu lesen, die daran war. – Gewiß habe ich nie eine mit mehrerer Achtung gelesen. Denke Dir nur, ich fand auf ihr den Namen einer Frau, die, nicht minder tugendhaft als unsere Bertilia, ihre Nichten auch eben so sorgfältig erzieht – einen Namen, der vor vielen der trefflichsten Schriften steht, wie hier vor dem geistreichsten Getränke – mit Einem Worte, den Namen der ehrwürdigen Genlis, die, wie Du vielleicht nicht weißt – die besten Rebenberge von Sillery im Besitz hat. Wohl dem, der einen guten Ruf vor sich her trägt! – Eine Weinflasche sogar, die uns darauf zurück weist, kann dadurch einem verständigen Manne interessant werden. Als ich nachher bei Tische meiner kleinen Unschuldigen das erste Glas davon weihte, war mir wirklich, als hätte ich es aus dem heiligen Brunnen der Vesta geschöpft, um eine ihrer schönsten Dienerinnen damit zu laben. Doch wenn ich so fortfahre, möchte wohl am Ende meine Erzählung nicht undeutlich verrathen, wie bunt es alleweile in meinem Kopfe aussieht; und doch darf ich mit gutem Gewissen es nicht einmal dem Weine Schuld geben, den ich lobe – denn Du mußt wissen, Eduard, daß, wenn ich eine Gesellschaft bewirthe, welche Aufmerksamkeit verdient, ich bei so vielen Eigenheiten auch die an mir habe, daß ich den Wein kaum koste, den ich meinen Gästen in vollen Gläsern zubringe, weil ich immer gefunden habe, daß der Geist meiner Flaschen geschickter ist als mein eigener, um den ihrigen zu entwickeln, und mir das Spiel des menschlichen Herzens frei zu geben, in dessen Beobachtung ein Kopf wie der meinige ein ungleich größeres Vergnügen findet, als in seiner Berauschung. Der schöne Plan meiner Zukunft, mit dem ich mich zu Tische setzte, erwärmte auch ohnehin mein Blut zur Genüge. – Alles was ich sprach, sah und hörte, und aus meinen Bemerkungen abzog – hatte immer einen geheimen Bezug auf ihn. Zuerst fing ich an für mein Hoftheater zu sorgen. – »Ein so[55] festlicher Tag als der heutige,« wendete ich mich an meinen Nachbar, indem ich ihm zugleich ein Glas Vin de St. George reichte, »sollte alle Feindschaften aufheben – alle Gefangenen los und ledig lassen. – Allen Sündern« – übersetzte ich ihm aus Schiller – »soll vergeben, keine Hölle soll mehr seyn.« – »Das ist recht!« erwiederte mir der Domherr, und stürzte das volle Glas hinunter, das ich ihm geschwind wieder füllte, um ihn nicht lau werden zu lassen. – »Sie sehen,« fuhr ich nach dieser Einleitung fort, »hinter ihrem Stuhle« – er sah sich um und erkannte die Puppenspieler – »ein paar Unglückliche, die ehemals, ich will nicht sagen wie zweckmäßig – mit lebendigen Personen die Hölle – und das Paradies mit Puppen vorstellten, und sich durch beides – wie es voraus zu sehen war – den Haß Euer Hoch-Ehrwürden zuzogen. Wie lange ist es nicht schon her, Klärchen, daß die armen abgesetzten Teufel Ihretwegen im Elende schmachten? Bitten Sie mit mir Ihren würdigen Nachbar, daß er die Strafe aufhebe. Es ist einem Manne in Purpur so anständig, Gnade für Recht ergehen zu lassen..« – Hier schlürfte der Prälat mit stolzem Hinblick auf seinen Mantel das dritte Glas langsam über die Zunge, und ich fuhr schon traulicher fort: – »Ja, bester Freund, thun Sie es mir zu Liebe! Wirken Sie den beiden Brüdern – wäre es auch nur weil sie bei dem heutigen großen Wunder an meinen verschlossenen Thüren auf der Wache standen – ihren Abschied aus! Keiner, der zur Zeit einer heiligen und übernatürlichen Erscheinung auf dem Posten gestanden, sollte nachher noch zu gemeinen Diensten erniedrigt werden, wenn sie auch dem Staate noch so nothwendig wären. Das besagen selbst die kanonischen Rechte, und es schlägt sogar, lieber Herr Domherr, ein wenig in die Immunitäten der Geistlichkeit ein. Für das ehrliche Unterkommen dieser Leute übrigens wollen Wir« – kam mir der Pluralis in geheimer Beziehung auf meine Nachbarin in den Mund – »schon sorgen;« aber ich lenkte eben so geschwind wieder ein: »Ich, theuerster Mann, wollte ich sagen, will schon sorgen, daß ihnen so leicht kein Kind in den Weg kommen soll.« – Der Domherr nahm ein Amtsgesicht an. – »Das wäre wohl alles ganz gut,« antwortete er mit vieler[56] Behutsamkeit: »aber wir müssen die Sache doch erst aus ihrem rechten Gesichtspunkte betrachten. – Das ist meine Art so. Die Leute da – stehen in päpstlichem Solde. – Ihre Bestrafung gehörte zwar wohl in mein Fach, aber nicht ihre Begnadigung.« – »O,« fiel ich ihm ruhig in's Wort, »das Militär des heiligen Vaters – so wie auch ihr Hauptmann, der sie der Armenkasse abkaufte, sollen nicht im mindesten dabei zu kurz kommen. – Seine Auslage – so weit sie nicht schon abverdient ist – bin ich erbötig ihm von meinen eroberten Proceßkosten zu ersetzen: und wenn der Hauptmann sein Handwerk versteht, wird er mit beiden Händen zugreifen; denn ich dächte man sähe den guten Leuten die Schwindsucht so ziemlich schon an, die ihnen ohnehin die Bärmützen bald abnehmen wird.« – »Ja, wenn das ist,« besann sich der geistliche Herr, »so ist mir selbst zu viel daran gelegen, nur freundliche Gesichter in meinem heutigen Zirkel zu sehen, als daß ich nicht gern eine Sache vermitteln sollte, die mir im Grunde ganz gleichgültig ist; ob ich gleich nicht begreife, wodurch sich diese leichtsinnigen, liederlichen Bursche..« – Hier fielen die beiden Brüder dem gestrengen Herrn so demüthig zu Füßen, daß er inne hielt, und nicht das Herz hatte ihr Porträt auszumalen; vielmehr entstand nun, durch sie, ein Streit der Großmuth unter uns beiden; denn der Prälat wies sie mit ihrem feurigen Danke an mich. Da ich aber ohnehin überzeugt war, daß ihr Gefühl sich nicht irre, so verbat ich alle unnöthige Aeußerungen desselben, und, indem ich den Prologus abschickte, um eine der Flaschen mit der vornehmen Aufschrift – den Epilogus aber, um frische Gläser zu holen, drückte ich zugleich meiner heimlichen Braut, voller Vergnügen über dieß erste, für unsere Haushaltung gelungene Geschäft, zärtlich die Hand, und sah im Geiste schon die Lichter auf unserm Theater brennen. – »O, du liebe kleine Unwissende!« richtete ich meine süßen Gedanken an sie, »wie will ich alle schöne Künste zu deiner Unterhaltung und zur Bildung deiner Seele aufbieten! Wie wirst du deine mächtigen blauen Augen aufreißen, wenn ich dir an manchem fröhlichen Abende auf meiner kleinen Bühne die Scenen der großen Welt und die Thorheiten der Höfe zur Schau stelle, wovon du[57] noch keinen – zum Glück für deinen Zeitvertreib – noch keinen Begriff hast; denn wärest du damit schon so bekannt wie ich, würden sie dir nur Langeweile verursachen. – Für geputzte Drathpuppen, und was sonst von Dekorationen dazu nöthig ist, will ich schon sorgen. Habe ich doch meinen Eduard dort, der mir zu Liebe die Lieferung gern über sich nehmen, und darauf Acht haben wird, daß sie auf das getreuste nach der Natur kopirt werden. Es ist eine leichte Sache, daß er sie mir alle Jahre erneuert; so verlör ich selbst – noch so fern vom Hofe – keine Veränderung, die unter den Hauptpersonen vorfällt, und könnte sonach, mit Beihülfe der öffentlichen Blätter, der Illusion und meiner Vorkenntnisse, immer noch mit meinem lieben Vaterlande in einiger Verbindung bleiben. – Das wenige, was allenfalls mir ein Heimweh verursachen könnte, wirst du, bestes Mädchen, mir zehnfach ersetzen. Wie werden mich nur allein deine kindischen Erinnerungen an die vorigen Zeiten ergötzen, wenn – wie ich mir launig ausgedacht habe – der Sündenfall unser Theater eröffnen soll, über den du – wie wir alle – deine Semmel vergessen, und aus dem sich – nicht anders als bei uns – alles dein Glück und Unglück entsponnen hat! Das zweitemal sollst du dieses herrliche Stück nicht bloß von der hintersten Bank aus lorgniren – das verspreche ich dir, armes gutes Kind!«

Es ist doch gewiß, Eduard, daß die Hoffnungen der Liebe auch der gemeinsten Sache einen eigenen Reiz geben! Ich glaube, mein Herz hätte noch eine Stunde mit seinem kleinen Abgotte so forttändeln können, ohne es müde zu werden! hätte nicht der belobte Wein, der nun aufgesetzt war, mich an meine Gäste erinnert. Mit allen den verborgenen Kräften, die der Geist der Natur in ihn gelegt hat, stand er freundlich in unserm Kreise, und wurde nun ... Ja freilich, wenn ich mir es bequem machen wollte, dürfte ich Dir jetzt nur in zwei Zeilen sagen, wie viel Flaschen davon getrunken wurden, und Du müßtest wohl damit zufrieden seyn. Mancher andere würde glauben sich an der Präcision zu versündigen, wenn er ein Wort mehr darüber verlöre. In seinem Tagebuche kann er auch wohl Recht haben – das will ich ihm nicht abstreiten.[58] In dem meinigen aber ist es, glaube ich, schon nothwendiger, daß ich die Mühe der Pünktlichkeit, die ich bis jetzt nicht gescheut habe, am wenigsten bei dieser Gelegenheit aus der Acht lasse, und jedes einzelne Glas, das meine Gäste tranken, mit meinen Anmerkungen begleite, um Dir den Stufengang der Empfindungen auf das genaueste zu schildern, die es in ihren Seelen erregte, da es doch sicher und gewiß ist, daß für einen Beobachter auf dem Grund einer Flasche ganz andere Erscheinungen liegen, als in der Nähe des Stöpsels, und daß man sehr übel thun würde, sie unter einander zu mengen. Aus dem Schaume des ersten Glases – wenn ich anders richtig gesehen habe – breitete sich ein Schimmer natürlicher Fröhlichkeit aus, der, nach meinem Urtheile, den beredtesten Dank für die Wohlthaten Gottes enthielt. Klärchen sah dabei allerliebst aus. Das zweite entwickelte zu meinem Vergnügen jene Lebhaftigkeit des Geistes, die uns zu witzigen verwegenen Scherzreden oft herzhafter macht als es gut ist. Der Prälat brachte zuerst eine hervor, die für diejenigen, die den kühnen Schwung davon einsahen, viel Salz hatte. Die fromme Bertilia selbst ward ganz munter darüber; für ihre unschuldige Nichte freilich war das feine Räthsel so gut wie verloren, und mir ward schon angst, wie ich auf eine gute Art dem fröhlichen Drange ihres Bluts einen Ausgang verschaffen sollte, als ihm glücklicher Weise der Epilogus Luft machte. Er reichte ihr zwar nur einen Teller – aber wenn das Gemüth einmal zur Freude gestimmt ist, bedarf es auch nur einer Kleinigkeit um ihr Spiel in Bewegung zu setzen. Es fiel ihr, wie sie uns zur Entschuldigung sagte, seine komische Figur vor ihrem Bette zu Cavaillon, und ihr kindisches Schrecken ein, das ihrem Bedürfnisse zu lachen jetzt ungleich besser zu Statten kam, als damals ihrem Bedürfnisse zu schlafen. Ich kann Dir nicht sagen, Eduard, wie gut ihr diese kleine körperliche Erschütterung stand! Es war das erstemal, daß ich die Perlen ihrer Zähne, wie an eine Schnur gereiht, zu sehen bekam, und es war zu verwundern, wie, nach so vielen Entdeckungen in dem Gebiete ihrer Schönheit, mich diese noch so angenehm überraschen konnte. Diesen hübschen Anblick, dachte ich, willst du dir oft verschaffen; und um ihn mir[59] auch jetzt noch eine Weile zu erhalten – schenkte ich geschwind – Reihe herum noch einmal ein, und gewann dadurch – zwar nicht gerade was ich hoffte – aber dafür einen Anblick von einer – wenn es möglich ist – noch lieblichern Art. – Die funkelnden Augen meines Klärchens und des Domherrn geriethen an einander. – Das alte Mißverständniß des geistlichen Herrn, der bis jetzt noch immer ein wenig vornehm und zurückhaltend gegen seine schöne Nachbarin geblieben war, schien schnell dem holden Gedanken der Vergebung zu weichen. Er schlürfte seinen Wein mit bedächtigerm Hinblick auf das sanfte Spiel der Wellen hinunter, die den heiligen Nicaise höchst malerisch schaukelten, und gerieth dabei, wie es mir vorkam, in jenes gutmüthige Erstaunen, das unserm großen Friedrich so oft in die Augen steigt, wenn er eine beim Antritte seiner Regierung magere und kahle Gegend – angebaut und in blühendem Zustande wieder sieht. Er reichte seiner ehmaligen Pflegetochter die Hand, die, äußerst gerührt, mir sogar die ihrige entzog, die ich zärtlich in der meinen gefangen hielt, um ihm mit beiden für die Wiederkehr seiner väterlichen Liebe dankbar zu schmeicheln.

Es war, wenn Du mir nachrechnen willst, das zwölfte und letzte Glas der einen Bouteille – (hier, mußt Du wissen, ist in allem größer Gemäß als zu Berlin) – das mir zu dieser höchst rührenden Scene verhalf. Gott sei gelobt und gepriesen, daß es nicht auch die letzte Flasche war! In der zweiten, die ich mir zur Fortsetzung meiner stillen Bemerkungen geben ließ, lagen noch ganz andere Erscheinungen verborgen. Der gelüftete Pfropf flog mit einem Knalle – der in der Welt schon manches Mädchen erschreckt hat, und dem Ohre eines Kenners so wohl thut – an die Decke, und der Wein hielt, was sein Herold ankündigte; denn zweimal mußte ich geschwind hinter einander die Flötengläser Reihe herum füllen, um dem tobenden Schaume seinen Willen zu thun, ohne in diesen theuern Minuten Zeit zu haben auf meine Gäste zu achten. Desto mehr überraschten sie mich, als ich meine Flasche neben mich setzte, und mich nach ihnen umsah. Ach, mein Gott! wie hoch waren inzwischen nicht ihre Empfindungen gestiegen! – Ich erstaunte über die unglaubliche Veränderung, die ich antraf. Ist[60] das mein Klärchen, fragte ich still vor mich hin, die so freundlich den unzähligen Küssen zusieht, die der entzückte Prälat ihren Händchen aufdrückt? – Sind das die Augen eines Kindes, das sich gegen seinen Vater entschuldigt? Sind das die Blicke eines beleidigten Wohlthäters, der seiner Pflegetochter verzeiht? Hurtig! sagte ich zu mir selbst, schüttelte meine Bouteille, und füllte auf's neue die Gläser bis an den Rand; und nun sah ich noch deutlicher, wie weit das Geschäft ihrer Versöhnung gediehen war. Sie konnten schon nicht mehr das Glas mit Vergnügen trinken, wenn es nicht unter ihnen ausgewechselt und von den Lippen des andern berührt war. Erst alsdann stürzten sie es – mit buhlerischem Gelächter, sage ich Dir, stürzten sie es hinunter, und der Traum – ach Gott, wie soll ich meine Schamröthe verbergen? – der Traum meiner häuslichen Glückseligkeit war dahin! Die Wiedervereinigten achteten nicht mehr der Augen, die sie belauschten, noch der aufmerksamen Ohren, die ihnen zuhörten. Sie verhandelten ihre Angelegenheiten so offen, daß der Prologus und sein Bruder mich anlächelten, und mir fragend zuwinkten, ob sie nicht recht gehabt hätten? – O, ja! ihr guten Leute, dachte ich, ihr habt nur mehr als zu wahr gesprochen. Und da ich sah, daß der Domherr nicht aufhörte dem lachenden Mädchen in die Ohren zu flüstern – die Perlen ihrer Zähne immer näher betrachtete, und mir sogar für die Sicherheit des Orts bange ward, der die heiligen Steine verwahrte, so fing ich – nicht mehr für mich, das wirst Du mir zutrauen – aber für die armen Puppenspieler fing ich zu fürchten an. Wenn er, sagte ich heimlich zu mir, das Glas noch trinkt, bei dem ich eben im Einschenken war, so bist du um dein gutes Werk, und deine Hofakteurs sind auch noch um ihren Abschied betrogen, wie sie es schon um ihr neues Theater sind. Ich faßte, Herz – zog das Glas zurück, und – »Sie dürfen es wahrlich nicht eher trinken, lieber Mann,« sagte ich, »bis Sie meinen Grenadieren ihre Entlassung zur Stelle gebracht haben. – Alsdann aber trage ich Ihnen auch dafür noch zwei – drei Bouteillen von diesem guten Weine auf, der Ihnen nur desto besser schmecken wird, wenn Ihnen kein anderes Geschäft mehr abzuthun bleibt[61] als Ihr eigenes.« – Diese kurze, unversehene Anrede brachte ihn auf die Beine. – »Gut, gut,« sagte er, »davon will ich bald genug wieder zurück seyn. Hüten Sie mir indeß das Glas, liebes Klärchen, das ich stehen lasse,« – und so küßte er noch einmal ihre Hand, nahm seinen Hut und ging.

Jetzt, dachte ich, wird sich das Mädchen besinnen, und von Scham vor deinen Augen vergehen. – Aber ich dachte nicht klüger als vor drei Stunden, als ich mit ihr in der Bibliothek war. – »Das ist heute,« drehte sie sich zu mir, »ein glücklicher Tag. Der gute würdige Herr! Wir haben uns über das Vergangene besprochen. – Er hat mich tausendmal um Verzeihung gebeten, und wir sind nun bessere Freunde als jemals. Und wissen Sie wohl,« wendete sie sich gegen ihre Tante, »ich ziehe noch diesen Abend zu ihm? – Er verlangt es durchaus. – Wenn Sie also, meine Beste, so gut seyn wollten, mir mein Paket zusammen zu schnüren..« – »Siehst du wohl,« fiel ihr die Tante in's Wort, »daß ich Recht hatte, wenn ich Dir manchmal Behutsamkeit anrieth, und. Dir die Rückkehr Deines alten Freundes wahrsagte? Ich verstehe, Gottlob! den Rummel.« – »Ganz gut!« antwortete ihre unbefangene Nichte: »aber ohne die Vermittlung dieses fremden Herrn,« o, wie gab mir ihr Lob einen Stich in das Herz! »wer weiß, wie lange Ihre Prophezeihung noch außen geblieben wäre!« – »Uebrigens,« fuhr die Alte fort, »wüßte ich nichts was ich lieber zuschnürte als Dein Paket; denn der Propst schien heute grausam aufgebrach über Dich wegzugehn, und ganz sicher müßte ich wieder in das Spital wandern, wenn Du meine einzige Nichte wärest.« – Mit diesen Worten, die ich mit einer Verschämtheit anhörte, die Dir einem Menschen wohl zutrauen darfst, der weder in Berlin noch anderwärts – und auch hier ganz unschuldig, in so ein Haus gekommen, stand das scheußliche Weib auf, wodurch sie meinen Augen gewiß keinen Possen that. Indeß beunruhigte mich ihre Entfernung auf einer andern Seite, da ihre schöne Nichte, die ich von Abscheu nicht mehr ansehn konnte, wieder mit mir allein blieb. Doch mein Freund, der Zufall schlug sich auch dießmal in's Mittel. Indem die Alte zur Thür hinaus trat, war Bastian im Hereintreten[62] – »Herr Fez,« rief er mir zu, »bittet sich die Erlaubniß ...« »Geschwind laß ihn ein,« fiel ich ihm in's Wort; und der wackere Mann näherte sich mit einer tiefen Verbeugung. Wir haben uns immer, wie Du weißt, mit halben Worten verstanden – so auch jetzt. – »Ich habe nicht versäumen wollen, an diesem frohen Tage..« – »Ja wohl, ja wohl, lieber Herr Fez! Glücklicher habe ich in meinem Leben noch keinen..« – »Könnte ich denn nicht, mein Herr, das unverbrennliche..« – »O, das Wunderblatt! das sollen Sie gewiß.. Aber jetzt nehmen Sie nur Platz, lieber Herr Fez, – hier, neben Klärchen – und Sie, liebes Kind, bringen Sie doch dem Herrn das Glas zu, das vor Ihnen steht!« – Ohne sich zu besinnen, reichte sie es ihm, so wie es ihr der Domherr zu hüten gegeben hatte – und mit der sichtbarsten Freude nahm er es aus ihrer Hand. Und ich, Eduard, freue Dich, bekam dabei einen Einfall, der, wenn er auch sonst nichts werth ist, Dich doch wenigstens über meine aufrichtige Verachtung für dieses Geschöpf vollkommen, wie ich hoffe, beruhigen soll. – »Sie haben,« redete ich den Buchhändler an, »immer so viele Achtung und Liebe gegen das fromme Kind gezeigt, das Sie unter Ihren Augen aufwachsen sahen, daß es Ihnen gewiß eine herzliche Freude machen wird, zu erfahren, wie hoch zu Ehren ... Doch, liebe Kleine!« unterbrach ich mich selbst, »es fällt mir schwer auf's Herz, daß ich vor meiner Abreise noch vieles zu berechnen habe. – Sie könnten mir ja wohl die Erzählung abnehmen, die dem Herrn Fez aus Ihrem Munde viel lieblicher klingen wird als aus dem meinigen. Zeigen Sie doch dem wackern Manne den Ort, wo das berühmte Buch stand – und seyn Sie.. trinken Sie aber noch erst jedes ein Glas von meinem freundlichen Weine – ein wenig gefällig gegen seine Neugier. Ich habe – Sie wissen wohl, liebes Klärchen, noch mancherlei kleine Ansprüche an Sie – und kann sie wirklich nur gern an einen Mann abtreten – dem ich so vielen Dank schuldig bin, als dem Herrn Fez. – Hauptsächlich aber, bitte ich Sie, in Erwägung zu ziehen, daß zur Ausbreitung eines Wunders die Freundschaft eines Buchhändlers der sicherste Weg sei.« Meine[63] Vorstellung machte Eindruck bei ihr, wie bei einem Gelehrten. Sie dachte jetzt nur an ihre Legende, stürzte ihren Wein hinunter, und trat voller Begeisterung der wartenden Nachwelt entgegen.

Es ist mir zwar nicht mehr möglich genau nachzukommen, das wie vielste Glas es war, das sie zuletzt trank; aber so viel kann ich, nach der leichten Art, mit der sie mein Vorwort zu Gunsten des Herrn Fez aufnahm, doch berechnen, daß ein Gemisch darin müsse gegohren haben, vor dem schon jedes nicht ganz verlorne Mädchen den stärksten Ekel verrathen würde, ehe sie es an den Mund brächte. Und dieses Geschöpf – rief ich ihr nach, wie sie dem armen Fez den Weg wies – konntest du, durch eine Kette von Sophistereien, deinen besten Wünschen so nahe bringen? konntest – ohne betrunken zu seyn – das Ideal einer würdigen Gattin in ihr entdecken, und hast es bloß einer Flasche Champagner zu danken, daß du deinen Freunden – daß du dir selbst nicht verächtlich, und das Gelächter des ganzen Comtats wirst? Was wäre aus dir geworden, wenn die Heuchlerin deinen schon gefaßten Entschluß errathen – deine Händedrücke besser verstanden, und dir selbst die Gläser eingeschwatzt hätte, die du ihr zutrankst! – O, was für ein armseliges Ding ist es um den menschlichen Verstand! und wie begreiflich wird es mir in dieser Nachmittagsstunde, daß so viele tapfere, gelehrte und würdige Männer von meiner Bekanntschaft – ich müßte ein Ries Papier an ihren Namen verschreiben – das eheliche Eigenthum einer Buhlerin wurden! Arme dänische Docke! du würdest noch einen unfreundlichern Herrn an mir bekommen haben als dein jetziger ist! Und du, mein Johann, und meine gute Margot, in was für eine verstörte Haushaltung hätte euch mein trauriges Geschick bringen können! O, daß ich nie dieser entscheidenden Stunde vergesse! sie jedesmal in meinem Tagebuche nachlese, wenn mich ein frisches unschuldiges Gesicht in solche Lavaterische Trugschlüsse verwickelt, und mir je wieder die Luft ankommt, meine verwegene Hand an eine schreckhafte zu schmieden! Bastian mag mich so oft an seine Schwester erinnern, als ich eine Kammerthür zuriegeln will, und der Prologus und Epilogus mögen so lange meine Leibwache bleiben, als ich noch einer Wache[64] benöthigt bin; und damit ich endlich einsehen lerne, daß Unschuld und Paradies längstens zum Teufel gingen, sollen sie mir von Zeit zu Zeit ihre Knittelverse vordeklamiren, in denen wahrlich mehr Menschenverstand liegt, als in allen Trauungsformeln und hochzeitlichen Reden.

Während daß die Schöne die Verbindlichkeiten, die mir Herr Fez auferlegt hatte, in dem Maße als sie es werth waren erwiederte – mich an meinem stolzen Feinde, dem Probst, rächte, und dem heuchlerischen Domherrn den ersten Unterricht vergalt, den er ihr, wie es der nun klar ausgesponnene Faden seiner Geschichte bewies, in der Kunst zu betrügen gegeben, freute ich mich über das schöne Verhältniß der Belohnungen und Strafen, die hier der Gott meiner Ode, der Zufall, vertheilte, und dankte ihm herzlicher als jemals für das nicht zu berechnende Gute, das er mir, seitdem mein Mund ihn besang, in dem päpstlichen Gebiete erwiesen.

Ich sah nach meiner Uhr. Wenn du heute noch über die Gränze willst, sagte ich mir, so hast du keine Zeit mehr zu verlieren, und ich pfiff meinen Leuten. »Dort, Bastian, neben dem schlafenden Engel, liegt mein Reisepaß. – Trage ihn auf die Post, und bestelle mir sechs tüchtige Pferde, damit ich vom Flecke komme! – Und nun ein Wort mit euch beiden andern – In der Hoffnung, daß ihr ehrliche Bursche seid – vielleicht die letzten, die noch hier sind, und die Gott noch aus diesem Sodom zu retten gedenkt, ehe er es unter Feuer und Schwefel begräbt – will ich euch in meine Dienste nehmen.... Laßt mich ausreden und erspart euern Dank! Nun ist es aber – ohne daß ich weiter mit euch Staat zu machen gesonnen bin – nicht möglich, daß ihr mich in diesen päpstlichen Lumpen begleitet; denn alle Leute müßten glauben, ich hätte den heiligen Vater ärger gelästert, als Doktor Luther, und man führte mich deßwegen als Gefangenen nach der Engelsburg oder nach der Inquisition. Eben so wenig ist es meine Gelegenheit, so lange noch hier zu verweilen, bis eine Livree für euch fertig seyn kann – ich sehe also kein anderes Mittel, als daß ihr euch bei dem ersten besten Schneider in Ordnung bringen[65] laßt, und mir nach Marseille nachkommt.« – »Ach mein gütiger – ach mein großmüthiger Herr!« nahmen hier die beiden Brüder einander das Wort aus dem Munde. »Sollten wir,« fing der Prologus an, »ohne Ihren Schutz nur eine Stunde länger hier bleiben müssen – so ist,« setzte der Epilogus nach, »Ihre gute Absicht so gut wie verloren.« – »Müßt ihr denn beide zugleich sprechen?« fragte ich ungeduldig; und nun schwiegen sie aus Höflichkeit beide, bis ich dem ersten befahl, seinem Range nach fortzufahren. – »Wir haben hier von unsern glücklichen Zeiten her,« nahm er das Wort für seinen Bruder mit, den er treuherzig anblickte, »noch einige Schulden – die würden sicherlich aufwachen, und uns auf's neue in's Gefängniß bringen, wenn unser Abschied bekannt würde; denn wenn der Soldatenstand auch sonst zu nichts gut wäre, so ist er es doch darin, daß man seine bürgerlichen Schulden nicht zu bezahlen braucht, so lange man Uniform trägt. Aber ich wüßte wohl einen Ausweg. Bei dem getauften Juden, mit dem auch Sie einigen Verkehr hatten, stehen seit jener Zeit ein paar ganz neue Anzüge, noch nicht für den halben Werth versetzt. – Wir gedachten sie – aber es kam nicht dazu – bei einem Vorspiele zu gebrauchen. Wenn Sie uns nun – bester Herr, behülflich wären sie einzulösen, so wären wir auf einmal gekleidet, und die Farben würden sich nicht übel zu Ihrer Equipage schicken.« – »Und was wären denn das für Anzüge?« fragte ich. – »Es sind,« antwortete der Narr, »ein paar Masken; die eine für mich, stellt einen Satyr, die andere für meinen Bruder, den Jocus vor.« – »Nein! das ist nichts, ihr guten Leute,« antwortete ich lachend. »Ich reise inkognito – und auch ihr müßt euer voriges Handwerk in meinem Dienste vergessen lernen. Aber ist denn,« mußte ich schreien, weil eben mit allen Glocken in die Vesper geläutet wurde, »keine Trödelbude hier?« – »O, mehr als Eine!« antwortete er. – »Nun!« sagte ich, »so geht denn gleich hin, und stoppelt euch in der Geschwindigkeit etwas zusammen, das einigermaßen zu meinen Farben paßt. – Ein grauer Rock – eine rothe Weste – das ist vor der Hand genug, wenn auch übrigens keine Achselbänder dabei sind.« – Ich gab ihnen Geld zu dem Handel, und[66] die beiden Brüder sprangen fort, als wenn ihnen das Unglück nachsetzte. Jetzt wäre es ein Spaß, dachte ich, wenn ihr Hauptmann Schwierigkeit mit dem Abschiede machte, und ihnen die Verrätherei gegen Klärchen nachtrüge. – Doch damit hat es wohl keine Noth. – Hingegen mag Gott wissen, was ich mir selbst mit meinem guten Werke für eine auf den Hals lade. Der Theatergeist steckt ihnen noch gar zu fest im Kopfe. Ganz gut, daß sie mir die Sonntage, wo ich etwa einmal die Kirche versäume, ihr Paradies und ihre Hölle vorstellen – doch das wird man in der Komödie am Ende so überdrüssig, als in der Predigt. – Wenn aber nun vollends in den Werkeltagen der eine meinen Hofmarschall wie ein Harlekin, der andere wie ein Cato meinen Kammerherrn machen – dieser wie ein Alexander mir vorschneiden – jener mir mit der Laterne des Diogenes leuchten wollte, so hielt ich das, wie ich mich kenne, in der Länge nicht aus. Das klügste wäre wohl, ich dächte in Zeiten darauf, sie in ein Fach zu bringen, wozu sie Genie haben. Eben fällt mir eins bei. – So viel ich weiß, ist noch keine solche Truppe in Berlin gewesen, wie ehemals die Nicolinische zu Braunschweig. Wie wäre es, wenn die beiden Brüder während meiner Reise durch Frankreich eine Anzahl hübscher Kinder zu einer Pantomime anwürben? – Die Kosten wollte ich allenfalls vorstrecken, ohne daß ich viel dabei wagen würde, zumal wenn ich ein Auge darauf hätte, daß die Aktricen etwas für das künftige versprächen. Das könnte wirklich ein Geschenk werden, das schon verlohnte seinem Vaterlande zu machen. – Doch ich vergesse über diesem weit aussehenden Projekt den guten Herrn Fez, Klärchen und ihren Domherrn. – Wären nur meine Pferde da, und meine Leute beisammen! ich wollte gern die Rückkunft jener nicht abwarten, und weiter ihre Namen in meinem Tagebuche nicht nennen, möchte doch aus ihnen werden was wollte. Meine gegenwärtige Lage fängt an mir recht ernsthaft schlecht vorzukommen, und macht mich ungeduldig und wild. – Thue nur einen einzigen Blick her, Eduard, und sprich, ob ich mir unter solchen Aussichten, als mich alleweile umringen, gefallen kann? – Hier vor der Nase ein unterbrochenes Bacchanal, das nächstens wieder angehen wird –[67] dort, hinter der einen Wand das Betzimmer der Alten, die ihre Nichten berechnet, und hinter der andern meine ehrliche Schlafkammer, die schon seit einer Viertelstunde entweiht wird. Wahrlich, ich komme mir vor wie der heilige Antonius unter den Teufeln. – Holla! da kommen doch endlich die Figuren aus der Bibliothek! – Auf das Mädchen ist es mir unmöglich einen Blick zu werfen, aber den armen Fez, der sacht zu meinem Schreibtische herschleicht – muß ich doch wohl zur Kompletirung meiner Akten noch abhören. –

Der gute buckelige Mann! Ich merkte es ihm nur zu sehr an, daß er für alle Höflichkeit, die er mir erwiesen, mehr als zur Genüge bezahlt war. Er drückte mir dreimal hinter einander stillschweigend die Hand, wie man sie in Golconda den Mäklern drückt, die Diamanten verkaufen. – Das war doch gewiß kein schlechtes Gebot, und auch verständlich genug. – Aber nein! meiner Eigenliebe war es zu wenig. Ich hätte gern umständlichere Nachrichten von meiner Zeichnung gehabt – hätte gern gehört, daß sie richtig – ähnlich – von großer Kraft und ein Meisterstück der ewigen Kunst sei. Kommt es Dir nicht wie im Traume vor, als ob diese kostbaren Ausdrücke schon irgendwo einmal Deinen Ohren wohl und weh gethan hätten? Besinne Dich! – Nun? – O Freund! wie kannst Du die Lehrer Deiner Jugend so gänzlich vergessen? Erinnerst Du Dich denn gar nicht mehr unsers gemeinschaftlichen, vermuthlich längst selig verstorbenen Zeichenmeisters, Theodor Sperling? – der immer mit seinem berühmten Verwandten in Anspach prahlte, dessen Namen er zwar – an seinen Talenten aber nicht schwer trug. Man sollte nicht denken, daß man einige zwanzig Jahre hinterher noch Freude haben könne, gelobt zu werden, wie ein Kind – und doch erfuhr ich die Wahrheit davon an mir. Ich ging so lange mit meinen immer näher tretenden Fragen um den blöden lakonischen Mann herum, bis ich ihn endlich auf meinen Stimmhammer brachte, und gewiß erfuhr, daß er ihn gesehn und bewundert hatte, und ruhte nicht eher bis ich ihm alle die süßen Worte entlockte, durch die der gute Sperling mich über mich selbst erhob, indem er Dich niederschlug, wenn mein Pinsel[68] etwas erschuf, das Du nicht erreichen konntest – und das einer Tulipane oder einer Schneeglocke ähnlich sah. – »O,« sagte Herr Fez, »ich – – auf meine Ehre, versichere ich Sie, daß mich zeitlebens kein Kabinetsstück so entzückt hat.« – »Also haben Sie wirklich einige Ähnlichkeit gefunden, lieber Herr Fez?« schmunzelte ich ihm zu. – »Da müßte man,« erwiederte er, »doch mehr als blind seyn, wenn man sich irren könnte. Es ist so viel Leben, Ausdruck, Wärme, Kolorit, und eine so sanfte Haltung in diesem Bilde, daß ich es, ohne Schmeichelei, für eins der schönsten und kräftigsten unsers Jahrhunderts halte.« – »Dieser Ausspruch, würdiger Mann,« antwortete ich, »kann mir von einem solchen Kenner gewiß nicht gleichgültig seyn. Ich wünschte nur, daß alle diejenigen, die mir gern abstreiten möchten, daß ich malen kann, meine Zeichnung mit so guter Laune und so verständigen Augen betrachteten, als Sie, lieber Herr Fez!« – »Ihnen abstreiten, daß Sie malen können?« fragte er voller Verwunderung. »Wäre es möglich, daß es so gefühl- und geschmacklose Menschen gäbe?«

Indem hörten wir den Domherrn auf der Treppe, und der rechtschaffene Mann machte sich aus dem Staube. Ich sah mit Vergnügen von meinem Schreibtische, daß Klärchen eilig das Glas wieder füllte, das ihr Freund ihrer Bewachung empfahl, und fand nach meiner Einsicht in dieser kleinen Handlung so viel reife Ueberlegung und weibliche Klugheit, daß ich ihres künftigen Schicksals wegen ganz außer Sorgen bin. Ich stand, wie der Prälat athemlos hereintrat, einen Augenblick auf, berichtigte in möglichster Eil meine Rechnung mit ihm, die er mir zugleich mit dem Abschiede der beiden Soldaten einhändigte, und begleitete ihn unter seinem beständigen Geschwätz, auf das ich nicht hörte, bis an das Ziel seiner Wünsche – an seinen Stuhl. Er übernahm sein Glas, wie ein Maurer seine Kelle, die er als Zeichen da ließ daß er fortarbeiten wolle, und schlürfte es mit sichtbarem Wohlgeschmack und dem zärtlichsten Hinblicke auf Klärchen hinunter. – O des menschlichen Glücks! Wie hängt es fast immer von unserer Unwissenheit und Einbildung ab! Hätte dem guten Manne nur das mindeste von dem geahndet, was sich Herr Fez in seiner Abwesenheit[69] mit seinem Glase und seiner Geliebten heraus nahm, wie würde es ihm nicht alles verbittert haben, was jetzt seinen Lippen und seiner Vorstellung so süß dünkte! Er hätte darauf geschworen, daß es derselbe Wein sei, den er stehen ließ, fand ihn, auf meine leichtfertige Frage, weder frischer noch matter als er seyn sollte, und behauptete mit der Miene des Kenners, seine Zunge sei fein genug, um immer zu wissen, das wie vielste Glas aus einer Bouteille es sei, das er tränke. Es würde mir, bei dem Bewußtseyn, das mich drückte, schlecht zu Gesichte gestanden haben, über die so zuverlässige Unterscheidungskraft seines Geschmacks zu spotten. Klärchen fand noch weniger Beruf dazu, und war so gefällig mir das Amt seines Mundschenken abzunehmen, da sie sah, daß ich von ihr weg nach meiner Schreiberei schielte. Ich kann also die letzte Seite, der ich noch mächtig bin, ruhig ausschreiben, da nun alles für mich hier abgethan ist. Meine beiden komischen – oder willst Du lieber burlesken Bedienten, sind, leidlich genug gekleidet, vom Trödel zurück, und tragen meine Sachen in den Wagen – und meine sechs Pferde sind auch da. Auf die beiden Bacchanten gebe ich selbst weniger Acht als auf die gelbsüchtige Bertilia, die ihrer schönen Nichte das Nachtpaket gebracht, und sich nun leider Gott erbarm es! nicht weit von mir auf ihren frühern Gerichtsstuhl gestreckt hat, um ihren Rausch zu verschnarchen. Diese Harmonie, wenn es möglich ist, verstärkt noch mehr die Ungeduld, die ich habe, aus diesem Sumpfe an Gottes freie Luft zu kommen. Da es zu spät ist, noch vor Nacht Aix zu erreichen, so soll es meine Abendbeschäftigung seyn, diesem Bogen den Beschluß meines heutigen reichhaltigen Tages in dem Wirthshause noch anzuhängen, wo ich etwa übernachten werde, und mit Dir den Austritt aus dem päpstlichen Gebiete und aus einer Woche zu feiern, die der Anfang des Jahrs höchst niederschlagend für den prahlenden Stolz meiner Tugend eröffnet, und das erste Blatt meines neuen Kalenders gewaltig beschmutzt hat.

Meine einzige, zwar immer leidige Tröstung ist, daß es wohl keinen in der Welt giebt, worin von den zwei und funfzig Wochen die er enthält, nicht Eine wenigstens, so gut wie die meinige, verdienen[70] sollte ausgestrichen zu werden. Wenn ich nur die übrigen im Jahre, wie ich im ganzen Ernst hoffe, nach der Kritik der reinen Vernunft anwende, so denke ich bei Gott und der Welt – bei den Sitten- und Kunstrichtern noch immer Gnade und Erbarmung zu finden.


Fußnoten

1 Messieurs, quand je régarde avec exactitude

L'inconstance du monde et sa vicissitude,

Lorsque je vois, parmi tant d'hommes différents,

Pas une étoile fixe, et tant d'astres errants,

Quand je vois le Césars etc.


Racine – les Plaideurs Act. 3. Sc. 3.


Quelle:
Moritz August von Thümmel: Werke, 4 Bände, Band 3, Stuttgart 1880, S. 71.
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