Toulon.

[243] In der Nacht, den 19ten Februar.


Ich hörte Saint-Sauveurs Stimme schon im Saale bei meinem Erwachen, sprang gestärkt von meinem Lager auf und eilte zu ihm. Die Nacht war im Scheiden, als ich eintrat. Eine kühle Luft drang auf mich ein, als ich das Fenster öffnete, und verstärkte den Schauer, den der Mensch, wie die unbelebte Natur, in der Nähe der Beglückung empfindet. Desto willkommner war mir das warme Getränk, das man mir reichte. Noch dauerte es einige Pulsschläge, ehe die ersten Vorläufer des Tags den Himmel begrüßten.[243] Einzelne Vögel zwitscherten ihnen entgegen – Als aber der Saum des Horizonts sich mit einem Bande umzog, das mit Rubinen – armselige Vergleichung! – gestickt schien, bereiteten sich schon tausend singende Stimmen, blökende Kehlen, seufzende und betende Herzen, zu dem Einklange in den großen Choral, zur Zustimmung in den allgemeinen Dank vor; und als der erste kleine Bogen des Zirkels über den silbernen Wasserfall blinkte, und als er schon so feurige Strahlen ausspie, um dem geblendeten Auge für die folgenden Hinblicke bange zu machen, in denen er höher, immer brennender höher trat, und als sich nun zwischen dem Einschnitte des Gebirgs die ganze große flammende Rundung unaufhaltsam in das blaue Weltmeer des Aethers stürzte – da erwachte alles, da dankten, jauchzten, bebten ihr alle Organe der Schöpfung entgegen. Ein Kind weint bei einem heftigen Schalle – Erstaunen läßt seine Augen trocken. Der Mann von Gefühl staunt, empfindet und weint. Keine andere Sprache hatten wir jetzt, ich und mein Freund.

Die Vergoldung des Thals war vollendet – vollendet in seiner ganzen Pracht. Lasurgrün umzitterte Blätter und Bäume, ihre Schäfte waren Gold, die Dächer sprühten Funken, die Fenster flimmerten, das Gewölbe über ihnen allen glühte, und meine Brust hob sich unter den Schlägen des überwältigten Herzens. Jetzt drangen von den Hügeln die Schalmeien der Hirten in mein Ohr. Die Melodie ihres Baskischen Gesangs, die Andacht ihrer Morgenlieder ergriff mich, und ich theilte nun den Reichthum meiner von den myriadenfältigen Schönheiten überschwängerten Blicke, und warf, so viele ich deren von den Gegenständen meiner Bewunderung loszureißen vermochte, auf das freundschaftliche Wesen in mir, das jeden Thautropfen der äußern Sinne mit dürstendem Verlangen auffing, und zu einer Schnur für die Ewigkeit an einander reihte. Seines edeln Geschäftes bewußt, würde es jeden unächten Blendling, der ihm zugeflossen wäre, erkannt und verachtend weit von sich geworfen haben – den Stolz mit allen seinen Kronen und Zeptern, den Neid, den Menschenhaß und die Rachsucht. – Die Schmeicheleien der Wollust glitten von ihm ab, wie Fliegen von[244] einer polirten Stahlfläche. Ohne Gehör für die Stimme der Sirenen, ohne Augen für ihre Reize, ohne Gefühl für den Druck ihrer Hände, beantwortete es ihre zugeworfenen Küsse mit Ekel. Zu reich für das Almosen verrufener Münze, zu groß für gemeine Freuden, schwamm es in reinem Schwanengefieder weit von der schlammigen Erde, leicht, vertrauend und froh, dem Throne des Unerforschlichen zu. Seine Empfindungen waren Gebete, und der Drang seiner Wünsche war, sich mitzutheilen und wohlzuthun.

O du holder Vertrauter meines heutigen Entzückens, schöner, schlanker, süß träumender Genius, den der Zufall mit einer irdischen Hülle bekleidet hat, die seiner nicht werth ist, könntest du erscheinen, wie ich dich ahnde, und einst die Unsterblichkeit dich ausmalen und aufstellen wird; der Tyrann würde abstehen, sein Schwert, die Verleumdung, den Dolch ihrer Zunge gegen dich zu wetzen – der Geiz würde dir seine Schätze anbieten, und der Fürstenstolz selbst vor deiner Hoheit sich bücken. Möge nie ein stinkender Nebel aus den Sümpfen der Welt mir die Würde deiner Schönheit verstecken, nie ein unreiner Hauch deine himmlische Klarheit verdunkeln, und jede Perle, die du in dem Oceane der verflossenen Stunde geschöpft hast, sich in dem Hauptschmucke deiner Ewigkeit wiederfinden!

Wenn Schwärmerei Vergebung verdient, so ist es die für die Tugend, und an einem so heilig romantischen Morgen, als mein heutiger war. Ach das häßliche Toulon! Der Wagen meines Freundes hielt am Ende seines Parks. Seine Rosse schnauften und stampften und wieherten im Gefühl ihres Muths. Und ich mußte dich verlassen, Thal der Unschuld und Freude, dich, Sonne über ihm? – Ach mir war, als könnte nur Finsterniß hinter den Bergen liegen. Ich blickte noch einmal wonnetrunken in ihr heiliges Antlitz, und breitete meine Arme aus, als wollte ich den ganzen Weltkreis an mein liebendes Herz drücken – ich blickte noch einmal zu ihr hinauf, und unwillkürlich entschwebte der harmonische Ausruf meinen Lippen:


Staub, der, zu Gott empor gedrungen,

Am Fußtritt seines Thrones glimmt!
[245]

und so bot ich meinem freundlichen Geleiter die Hand, stieg hastigen Schritts aus seinem Tempel, durch den Park, in den Phaëton. Hier faßte er stillschweigend die Zügel, überließ mich ungestört der obern Region, und sorgte nur, daß wir in der untern nicht aus dem Gleise kämen. Indem wir über den Steinweg flogen, ergriff ich meine Harfe, und stimmte mit allen Saiten in den Psalm ein, der seit den zwei Noten, mit denen ich anschlug, in mir forttönte. – Jetzt waren die Beweise meiner Genesung vollständig; die Natur hatte den letzten beigebracht, denn sie hatte mein Dichtergefühl wieder erweckt. Mein Herz schwoll, meine dunkeln Empfindungen bildeten sich zu harmonischen Worten, ätherisches Feuer erhellte den Blick, den ich dankend gen Himmel schlug, eine singende Lerche stieg und funkelte mit ihm zugleich in die Höhe, und mein Lied begann.


Staub, der, zu Gott empor gedrungen,

Am Fußtritt seines Thrones glimmt,

Ziel meines Psalms, im Chor gesungen,

Das jubelnd, dich umschlungen,

In deinem Aether schwimmt!


Seit du, der leeren Nacht entsunken,

Dein stolzes Licht von Ihm geholt,

Sah es in dem Gewühl der Funken,

Die durch den Luftraum prunken,

Schon manchen Stern verkohlt.


Nur deinem Urgestirn veraltet

Kein Reiz! Mit gleicher Kraft beflammt,

Treibt es sein großes Rad, entfaltet

Die Zeiten, und verwaltet,

Wie sonst, sein Mittleramt.


Und lenken aller Erden Psalmen

Gleich nicht den Ausfluß deines Strahls,

Doch überkleidest du die Palmen

Des Athos, wie die Halmen

Des rauhsten Schweizerthals!


Hat nicht ein Geist, aus dir geboren,

Der Liebe Freudenquell gewürzt,

Der aus den Urnen aller Horen,

Vertheilt – doch unverloren,

In alle Wesen stürzt?
[246]

Juwel in des Erschaffers Kranze,

Und erstes Wunder seines Hauchs,

Du leitest, schmückst, vereinst das Ganze –

Eins fehlt nur deinem Glanze –

Bewußtseyn des Gebrauchs.


So viel dir Kraft ward, doch entquellen

Dir Triebe nie, die, warm und rein,

Die Brust des edeln Mannes schwellen,

Freund seiner Mitgesellen

Am Bau der Welt zu seyn.


Du stehst im größten Wirkungskreise,

Als Sklave, der im Joche prangt –

Beherrscher seiner kurzen Reise

Durchs Leben, dringt der Weise,

Wohin sein Herz verlangt.


Er wägt sein Daseyn nur nach Thaten,

Nach Pfunden, die sein Geist erringt,

Froh, wenn der Hoffnung seiner Saaten

Auch nur ein Keim gerathen,

Der in die Zukunft dringt.


Sei größer noch! Um deine Würde

Vertauscht, selbst auf dem Weg' ins Grab,

Der Staubbewohner einer Hürde

Nicht seines Lebens Bürde,

Nicht seinen Wanderstab.


Denn bald zu höhern Geistesproben

Entrückt den Prüfungen der Zeit,

Schwingt ihn die Hand, die dich erhoben,

Von diesem niedern Globen

In die Unsterblichkeit.


Durch diesen heitern Blick ins Freie

Verliert im Nebel meiner Bahn

Sich keine Stunde mir – ich weihe

Dem Ausgang sie, und reihe

Sie meiner Zukunft an;


Daß, wenn ich einst zu höhern Sphären

Auf deinem Lichtweg übergeh,

Der Fruchtstaub vieler guter Aehren

Noch in dem Thal der Zähren

Um meinen Hügel weh.
[247]

Als meine Harfe verklungen war, und mein begeisterter Blick aus seiner Höhe zurück auf die Erde fiel, hätte ich gern meine abgestimmten Saiten aufs neue gespannt, wäre ich nicht zu erschöpft gewesen, um mich mit Hülfe ihrer Harmonie eben so vogelleicht über den rauhen Weg zu schwingen, der in einem Zusammenhange von Felsenstücken und Bergklüften vor mir lag, als sie mich unvermerkt über seine erste Hälfte gebracht hatte. Es ärgerte mich, daß mein Führer das stolze Gefühl meiner Schwungkraft durch eine Bemerkung zu necken suchte, die ziemlich spöttisch heraus kam. – »Ich sehe dir an,« sagte er, »daß du mit deinem Ausfluge in das Reich der Ideen nicht übel zufrieden bist. Ich wünsche dir Glück dazu: nur dünkt mir, du hättest besser gethan, ihn auf den schicklichern Zeitpunkt aufzuschieben, in den wir jetzt eintreten. Erst hier, wo leider der Weg äußerst schlecht zu werden anfängt, hätte auch deine Verzückung anheben sollen. Hier würdest du so viel dabei gewinnen, als du auf dem eben zurück gelegten dadurch verloren hast. Ich kann dir, da ich dich jetzt nicht störe, wohl sagen, daß es einer der angenehmsten ist, den ich kenne, nicht nur die ungleich bessere Hälfte des Ganzen, sondern an romantischen Aussichten und lachenden Gegenständen fast so reich, als das Thal meiner Bastide. Alle diese freundlichen Winke der Natur sind dir, während deiner Unterhaltung mit der Sonne, entschlüpft. – Es ist,« fuhr er mit einem philosophischen Seitenblicke fort, »nur zu oft der Fall bei euch sublimen Leuten, daß ihr eure geistigen und leiblichen Gelüste nicht haushälterisch genug gegen einander abzuwägen und nach dem jedesmaligen Stundenbedürfnisse zu vertheilen versteht. Ein gen Himmel geschlagenes Auge nimmt offenbar eine falsche Richtung, wenn fröhliche Kinder, farbige Blumen unter ihm spielen und sprossen, oder menschliches Elend um seinen theilnehmenden Blick bettelt. So lange Milton noch sehen konnte, überließ er sich allen sinnlichen Freuden des irdischen Paradieses seiner Heimath, und dachte nicht eher daran, sich eins zu dichten und seinen Verlust zu besingen, als bis ihm seine Blindheit keinen andern Zeitvertreib zuließ. Auch euer Kleist, wie mir seine Freunde erzählt haben, sog mit thierischem Wohlbehagen jeden Balsamtropfen[248] des Frühlings ein, so lange er dauerte. Erst in den rauhen Wintertagen wiederkäute und malte er ihn. Die Dichtkunst, wie jede Schwelgerei des Geistes, sollte dem Weltbürger zu keiner andern, als zur Zeit der Entbehrung, unter dem Drucke des Müßiggangs, oder wenn sonst irgend ein Zufall seine äußern Sinne gelähmt hat, zur Krücke dienen.« – Bei meiner dichterischen Erhitzung, die mir noch im Blute lag, mußte mich ein so kalter gemeiner Ausdruck nothwendig verschnupfen: doch fehlte mir in diesem Augenblicke die Stimme, nur ein Wort dagegen vorzubringen; so sehr wurde ich durch einen jähen Abgrund erschreckt, an dem wir nahe vorbei schwebten. Ich schmiegte mich, so lange dieser furchtbare Anblick dauerte, mit klopfendem Herzen an den Marquis, und erst als wir hinter Aubogne in einen Hohlweg lenkten, kam ich wie der zur Sprache. – »Du hast mich mit deiner vorigen Aeußerung,« wendete ich mich nun zu ihm, »ganz in Erstaunen gesetzt, lieber Saint-Sauveur, weil ich sie dir am wenigsten zutraute. Ich habe immer die Entwickelung großer Gedanken durch Philosophie oder Dichtkunst, jenes Nachspüren unserer feinen Empfindungen, jenes Brüten über uns selbst, und alles, was du Krücken des Müßiggangs zu nennen beliebst, für die nützlichste Beschäftigung, für die edelste Bestimmung des Menschen gehalten; und ich kann meine wichtigen Zweifel gegen deine Behauptung ...« – »Nicht leicht,« fiel mir der Marquis in das Wort, »unter einem stärkern Widerspruch von Umständen vortragen, als so kurz nach dem Schrecken, den du gehabt hast. Müßig und dem Schicksale überlassen, wie du neben mir da sitzest und zitterst, was könnte ich dir besseres für deine Beruhigung empfehlen, als eben die Krücke, die auf jenem gebahnten Wege dir ganz entbehrlich war? Wie hinderlich hingegen müßte sie nicht einem in Thätigkeit gesetzten Manne werden, der, wie ich zum Beispiele, unvernünftige Geschöpfe vor sich, ihr Lenkseil in Händen, einer Menge Gefahren auszuweichen, mit Einem Worte, statt in dem Empyreo, auf der Erde zu thun hat!« – »Du hast vollkommen Recht,« antwortete ich unter Zittern und Beben; denn in der Hitze des Streits – wie dankte ich Gott, daß er in einem Hohlwege vorfiel! – hob[249] und schwenkte mein Opponent seine Peitsche. Es war nur ein Luftstreich, eine von den unwillkührlichen Bewegungen, die wohl einem Redner entwischen können, der Eindruck zu machen sucht: aber selbst mit dem scharfsinnigsten Vorbedachte würde er schwerlich vermocht haben, zur Unterstützung seines Satzes einen kräftigern Beweis aufzutreiben, als diesen Hieb in den Wind; denn seine vier Schweißfüchse verstanden diese Redefigur unrecht, bäumten sich, schlugen über die Stränge, und wollten sich lange nicht besänftigen lassen. Ich verlangte es weiter nicht bewiesen zu haben, daß Philosophen so gut wie Dichter bedenkliche Führer, und in Vorfällen des täglichen Lebens nicht halb so viel werth sind, als ein besonnener Mann. Aber – mein Gott – dachte ich so vor mich hin – warum fährt doch der liebe Marquis selber, und läßt seinen Kutscher hintenauf stehen, der doch sicherlich den Müßiggang nicht zu benutzen weiß, den er ihm läßt?

Unter diesem Selbstgespräche, das ich so oft wiederholte, als der Wagen schief ging, erkletterten wir endlich die Höhe eines steilen Berges, von der sogleich unser leichtes Fuhrwerk über Stock und Stein in den Kessel einer rußigen Stadt rollte, die man Ollioules nennt. Hier, wo wir einige Stunden anhielten, nahm ich die Gelegenheit wahr, mich heimlich von dem Marquis weg in den Stall zu meinem Landsmanne zu stehlen – nicht so wohl um sein Deutsch, als seine Meinung über die Statthaftigkeit meiner Besorgniß an der Seite meines vornehmen Führers zu hören. Nachdem er meine freundliche Ansprache höflich beantwortet, mir seine Pferde von den Zähnen an bis zum Schweife, wortreich wie ein Roßtäuscher, gerühmt, und mir im Verfolg seiner Dienstgeschäfte alle die Wagen nach ihren verschiedenen Benennungen an den Fingern hergezählt hatte, die außer dem Phaëton noch unter seinem Hauptschlüssel ständen, dachte ich, ich müßte mich doch auch zeigen. Ich fing also damit an, meinem Schulfreunde Ovid die Trauergeschichte des jungen Waghalses, der unserm heutigen Fuhrwerke den Namen gegeben, sehr gelehrt nachzuerzählen, und so kam ich denn ganz natürlich, wie Du selbst siehst, auf den Hauptknoten. – »Ich bin zwar nicht furchtsam,« sagte ich, »doch muß[250] ich gestehen, daß ich mich sehr ungern von jemanden fahren lasse, dessen Beruf es nicht ist. Es bleibt immer, zumal bei schlechtem Wege, ein Wagstück.« – »Das läßt Sie Gott reden,« versetzte der Thüringer und klopfte mich auf die Achsel. »Was deines Amts nicht ist, sagt das Sprichwort, laß deinen Vorwitz. Wer denkt, daß ich Gefallen an so einer Fahrerei habe, betrügt sich. Es geht einem ehrlichen Kutscher, der das Seinige gelernt hat, bitter ein, wenn er von hinten her zusehen soll, wie vorn alles der Kreuz und der Quere geht. Die Regierungskunst – in dem Sinne, wie ichs nehme – fliegt niemanden an, er mag so vornehm seyn als er will. Er muß sie aus dem Fundamente gelernt, muß den Blick frei, Ehre im Leibe, Augen im Kopfe haben, und ein handfester Kerl seyn. Ich sage immer: Der Stein weicht nicht aus, du mußt ihm ausweichen, und wer sich in die Gefahr begiebt, der kommt darin um. Mit meinem gnädigen Herrn wagt man zwar weniger als mit andern seines Gleichen. Er versteht sich so ziemlich auf die Pferde, und, sehen Sie, ich spanne ihm keins vor, das nicht auf den Wink gehorcht; und so geht es denn toll genug, so lange er nur nicht mit der Peitsche vagirt, wie vorhin; denn das können nun einmal meine Füchse nicht leiden. Da war ich aber, noch als ein junger Kerl, in Franken, bei einem, – Gott vergebe mir die Sünde! – fürstlichen Marstall angestellt. Die Gespanne waren gut und brav, das muß ich sagen, und der Kutscher ... doch Eigenlob stinkt. Mein damaliger Herr aber glaubte in seinem Dünkel, das Handwerk, das mir manchen sauern Schweißtropfen gekostet hatte, wäre ihm angeboren, und verstand doch, wenn ich hinten auf der verteufelten Perutsche stand, nicht einmal meinen Zuruf. Es war zum Wälzen. Nicht zehn Schritte konnte er fahren, so waren auch schon die Zügel verwickelt. Nun verlor er den Kopf – nun legte er sie, statt mir das Wort zu gönnen, in die Hände seiner Frau Gemahlin, die ihm nie von der Seite wich. Die wirrte sie nun, daß Gott erbarm, so aus einander, daß mir grün und gehl vor den Augen ward; denn nun wußte gewiß weder das Handpferd noch das Sattelpferd, welchen Strang es anziehen sollte, und doch sollte unser eins Acht geben,[251] daß die Räder im Gleise blieben. Der Teufel hätte das gekonnt und ich nicht! Wenn ich hotte schrie, lenkten sie wüste. Rief ich: Vorgesehen Ihre Durchlaucht, es kommt ein Graben! so waren die Vorderpferde schon drin; denn es ging rasch, müssen Sie wissen. Blieben nun die gnädigsten Herrschaften mit der Axe hängen oder kippten um, so gaben sie es nicht ihrer Ungeschicklichkeit, mit allem Respekt gesprochen – sondern lieber dem Kutscher und den Pferden Schuld, zogen jenem an Lohn, diesen an Hafer ab, weil der eine zu dumm, die andern zu muthig wären. Wie das ewige Umwerfen endlich dem Wagen bekam, das können Sie Sich vorstellen. Alles ward morsch, brach, und zerriß. Nun trommelte man Sattler und Wagner, die nicht bezahlt wurden, zusammen, um das Zerbrochene zu flicken und das Geflickte zu lakiren. Deßwegen hielt es nicht eine Minute länger, als Wurm und Rost wollten. Um es kurz zu machen da das hohe Ehepaar, trotz der täglichen Erfahrung, sich weder rathen noch warnen ließ, und ich mich vor den fremden Kutschern, die von dieser Stallwirthschaft hörten, und davon einige mit mir zugleich in der Lehre gestanden hatten, zu schämen anfing, legte ich eines schönen Morgens meine Striegel und Peitsche vor das Schloßthor, machte mich mit meinem Schnurrbart aus, dem Staube, und, so viel ich weiß, liegt Perutsche und Staatswagen noch heutiges Tages in der Reparatur. Wie es mir nachher erging, ist auch drollig. – Das lassen Sie Sich noch erzählen ...« – »Auf ein andermal,« unterbrach ich ungern den treuherzigen Schwätzer; aber ich durfte mich doch länger nicht vor meinem Freunde versteckt halten, der schon ein paarmal nach mir gerufen hatte.

Er erwartete mich an einer runden Tafel, die, mit einem Schinken zwischen zwei Weingläsern besetzt, wie ein Stillleben von de Herem aussah. Der Hunger würzte indeß die mäßige Kost, und ich setzte mich eine Stunde nachher gesättigt und um vieles beruhigter zu meinem Führer in den Phaëton. Der Kutscher war mein Freund geworden, die Pferde waren erfrischt, und gegen den Weg war nichts einzuwenden. Sobald wir auf die Höhe kamen, sah ich Toulon mit seinen Thürmen und Wällen hinter einem Haine von[252] Oelbäumen hervorschimmern. Die Straße zog sich, wie der Gang in einem Englischen Garten, sanft durch ihre Beschattung hindurch, die Strahlen der Sonne brachen sich an ihren Zweigen, und die schönen Aussichten nahmen an Mannigfaltigkeit, wie mein Herz an Frohsinn, zu, je näher wir der Stadt kamen. Desto mehr befremdete mich die Stille des Marquis, und der Ernst, den ich auf seinem sonst so heitern Gesichte bemerkte, und ich weiß mir es auch jetzt noch durch nichts zu erklären, als durch die mir unbekannten Geschäfte, die ihn nöthigten, sein schönes Thal diesen Morgen, und diesen Abend seinen Freund mit dem Rücken anzusehen; denn sobald wir in dem silbernen Anker abgestiegen waren, kleidete er sich nur um, übergab mich dem Wirthe, und ließ mich in einer großen Stube allein.

Ob wohl, dachte ich, indem er sich eiligst mit dem Wunsche einer guten Nacht von mir entfernte, die Langeweile, in der er dich da in einem fremden Hause sitzen läßt, auch zu deiner Nachkur gehören soll? und that durch den Sinn dieser Frage wohl niemanden mehr Unrecht als mir selbst. Bin ich denn nicht Philosoph? bin ich nicht Dichter? empfindsam im höchsten Grade, und mir selbst Gesellschafter genug? Das kann vielleicht wahr, diese Hülfsmittel können auch vortrefflich seyn, davon ist die Rede nicht; nur kann man sie, wie ich das heute schon einmal erfahren habe, meistens nicht so geschwind herbeischaffen, als man ihrer benöthigt ist. Was aber ein Deutscher zu allen Zeiten bei der Hand hat, ist die fruchtbare Mutter so vieler Raritäten und Sammlungen, ist die Neigung der Seele, die man Liebhaberei nennt. Wenn er diese zu befriedigen Gelegenheit findet, ist er an jedem Orte geborgen. Sie macht in unserm National-Charakter unstreitig einen Hauptzug aus, der, ob er schon den kultivirten Klassen anderer Völker nicht ganz fehlt, doch bei ihnen ungleich oberflächlicher, und lange nicht so ausgebreitet ist als bei uns. Wer kann die Spur dieses Naturtriebes in unsern Kabinetten und Bibliotheken verkennen? Ohne bloß bei dem ersten Endzwecke der Anhäufung litterarischer und artistischer Schätze stehen zu bleiben, hat der Deutsche gewiß immer noch ein Lieblingsfach nebenbei.[253] Hier ist das gemeine Nützliche oft den unbrauchbarsten Dingen untergeordnet, sobald sie nur ein Zeichen des idealischen Werths an sich tragen, den ihnen der Sammler beilegt. Daher sucht der eine vorzüglich alte Drucke, der andere nicht sowohl Meisterstücke des Grabstichels, als Blätter, die sich manchmal nur dadurch rar gemacht haben, weil sie bei ihrer ersten Erscheinung nicht geachtet oder zu Pfefferdüten verbraucht wurden. Wird nicht oft das Bildniß eines Feldherrn, Arztes und Fürsten, das sich aus angeführter Ursache verlor, theurer bezahlt, als sein ganzer Nachruhm werth ist, nicht des schönen Stichs, sondern der Vollständigkeit der Sammlung wegen, in der es eine Lücke ausfüllen soll? Nur ein Deutscher kann auf den Einfall kommen, Bibliothecam Donquichottianam anzulegen, und mit der mühseligsten und kostbarsten Beharrlichkeit die Bücher, die der Autor des Romans dem Museo seines Ritters andichtete, wirklich in ein Kabinet zu vereinigen.1 Nur die Festigkeit, Geduld und Zeit eines Deutschen konnte hinreichen, den umfassenden Plan auszuführen, nicht allein ein grundgelehrtes neun Bände starkes Werk eigenhändig zu schreiben, und ihm zu Gefallen eine eigene Druckerei in seinem Hause zu errichten, sondern, um es sogleich zu dem seltensten aller Bücher und Druckschriften zu erheben, der Zeit durch den listigen Ausweg zuvorzukommen, daß er nur ein einziges Exemplar davon abziehen ließ.2 Ich will zwar nicht läugnen, daß dieser schöne heimische Aufbewahrungs- und Erhaltungstrieb, wenn er nicht auf ein festes Gehirn trifft, leicht in die fixe Idee eines Wahnsinnigen ausarten kann; aber genug, er mag sich zeigen wie er will, daß er da ist, das Herz seines Besitzers füllt und erwärmt, und ihn, wie die[254] Tugend, auf allen seinen Wegen begleitet. Kein Städtchen ist so klein, das nicht mehr als einen Spießbürger einschließt, der mit dem Scharfblick einer Spinne auf Beute lauert, die in das Gewebe seiner Liebhaberei taugt; und Du wirst selten ein Putzzimmer wohlhabender Handwerker ohne einen Glas- und Karitätenschrank antreffen, auf dem Platze, wo in andern Ländern ein Schlafstuhl oder sonst ein brauchbares Möbel steht. Wer an Münz-Muschel- und Steinkabinetten keine Freude findet, setzt an ihre Stelle Sammlungen von Pfeifenköpfen, Siegeln, Visitenbillets, oder Reliquien. Ich will keiner – sie mag bestehen aus was sie will – ihren Nutzen absprechen; aber Du kennst die meinige, Eduard, und ich frage Dich auf Dein Gewissen, ob es wohl viele giebt, die ihr an Merkwürdigkeit gleich kommen? Jedes einzelne Stück derselben ist ein Exemplar unicum, ein Autographum, und um so viel mehr der Aufbewahrung werth, weil es oft die opera omnia eines berühmten Mannes, oder doch eine momentane Empfindung desselben, authentisch und diplomatisch darlegt, und zuweilen selbst wichtige historische Zweifel auflöst. Daß mir eine solche Kollektion am Herzen liegt, ist mir wohl nicht zu verdenken.

Als ich in Berlin zum Thore heraus fuhr, schwebte mir, Gott weiß, kein anderes Bild lebhafter vor der Seele als sie, und von allen den seltenen Gegenständen, mit denen ich hoffte, auf meiner Reise bekannt zu werden, waren es die beschriebenen Fensterscheiben, die mir am meisten in die Augen blinkten. Auch Du, mein guter Eduard – um es nur ehrlich zu bekennen – würdest nicht so leichtes Spiel gehabt haben, mich aus meiner hypochondrischen Lage zu bringen, wenn nicht ins geheim meine Liebhaberei Deine beredten Vorstellungen unterstützt hätte. So wenig ein junger Botanist ohne die Ahnung, unbekannte Pflanzen mit nach Hause zu bringen, sich in Wildnisse wagen würde, die oft kein menschlicher Fuß noch betreten hat, so wenig würde auch ich, ohne die höchste Wahrscheinlichkeit, meine Sammlung sehr ansehnlich zu bereichern, von der Stelle gewichen seyn. Jetzt kann ich's sagen, da meine heimlichen Wünsche über alle Erwartung gelungen sind.

Um nur bei meinem heutigen glücklichen Fund stehen zu bleiben,[255] so war ich noch keine zwei Minuten allein in der Stube, als meine spionirenden Blicke ihren Gang, und die Urkunden der Fensterscheiben in Untersuchung nahmen. Ich mußte erst eine Menge unbedeutender Maximen, elender oder schmutziger und mit einem Demant in das Glas eingegrabener Verse durchlaufen, ehe ich in dem wehmüthigen Eheu fugaces, Postume, Postume des Horaz auf Worte traf, die mich fest hielten. Was mir aber die Scheibe erst lieb und meiner Sammlung würdig machte, war die Unterschrift. Sie erregte alle meine Empfänglichkeit, zauberte mich in vergangene glückliche Zeiten und in den Zirkel meiner würdigsten Freunde. Johann George Sulzer, stand darunter, Toulon den 31. Oktober 1775. – Meine Augen feuchteten sich an, als sie diesen geliebten Namen, diese bekannte Handschrift eines verlornen Freundes erblickten, und ihnen, mit der Uebersicht des bemerkten Jahres und Tages, zugleich die folgenden wenigen vorschwebten, die, wie ein kleiner ermüdeter Nachtrupp, hinter den schnell voraus gelaufenen herschlichen. – »Guter Mensch!« stand ich vor diesem zerbrechlichen Monumente, drückte mir gerührt meine eigenen Hände, und seufzte: »Ach du glaubtest damals noch nicht deine Forderungen an das Leben schon so weit abgetragen und den Abschluß deiner Rechnung so nahe; ob du gleich mit dem bangen Vorgefühl eines Zwiefalters, der, durch die Annäherung seiner Auflösung gedrückt, noch einmal seine schlaffen verschossenen Flügel in den Sonnenstrahlen auszudehnen versucht, dem warmen Aether dieses Landes zuschwebtest. – Aber welche Luft ist balsamisch genug, den durch den Wurm des Todes benagten Lebenskeim wieder in Saft zu setzen! – O wer hätte dir nicht gern noch länger den Genuß des königlichen Geschenks deiner kleinen Spreeinsel gegönnt, in deren duftendem Bezirke dir deine und der Natur Freunde so willkommen waren, und wo du – indem meine frohe Erinnerung seine freundlichen Anlagen durchstrich – unter den Gesträuchen des Auslandes nur nicht den Giftbaum hättest aufnehmen sollen, der sich über Gebühr ausbreitete, und so weit um sich wurzelte, daß deine geheime Sorge vor Unglück mit jedem Frühlinge zunahm! Ich sehe dich noch, mit welcher ängstlichen Güte du die unerfahrnen Kleinen abwehrtest,[256] wenn sie unter dem Schatten seiner glänzenden Blätter ihren Spielplatz suchten. Aber du, ehrlicher Schweizer, hattest ihn in der Unbefangenheit eines Naturforschers, in der Herzenseinfalt gepflanzt, mit welcher der gutmüthige Träumer Lafontaine seine schlüpfrigen Erzählungen, und – wie weit können uns nicht unsre zufälligen Gedanken verschlagen! – und ich noch im vergangenen Monate mein Tagebuch schrieb. Gott sei Dank, daß die gefährlichen Auswüchse desselben in der Asche liegen! Doch ich muß mich von dir los reißen, liebe Scheibe, damit ich nicht die Zeit verschwatze, die mir zum Auftrocknen einer bessern Lebenspflanze in meinem heutigen Tage für das Herbarium vivum meines Eduards nöthig ist – und damit du auch nicht mich zu einer so moralischen Betrachtung verleitest, als die von Swift über einen Besenstiel.« – Ich rufte jetzt nur noch den Wirth herein, und fragte ihn, ob er sich wohl des Mannes noch erinnere, der jenen Tag dieses Zimmer bewohnt habe. – »Warten Sie einen Augenblick,« ich darf nur mein Kontobuch nachschlagen. – Hier habe ich das Blatt. Ach mein Herr! von diesem flüchtigen Passagier läßt sich nicht viel sagen. Es ist nicht der Mühe werth, was er in den paar Stunden verzehrt hat, die er hier war. Ich habe von seinem Gekritzel auf meiner Glastafel nichts gemerkt, sonst hätte ich sie ihm gewiß angerechnet: denn Sie müssen wissen, daß ich allen den schreibsüchtigen Herren, die, um ihren Namen glänzen zu sehen, meine Scheiben verdunkeln, eine verhältnißmäßige Abgabe für künftige neue mit in Rechnung bringe.« – »Das finde ich nicht mehr als billig,« antwortete ich; »und damit Sie auf keine Weise zu kurz kommen, übernehme ich den schuldig gebliebenen Beitrag meines Landsmannes und das verdorbene Glas für ein neues auf meine Kosten.« – Der Wirth – klug wie ein Professor – da er an der angefüllten Scheibe nichts mehr gewinnen konnte, war froh eine tabula rasa an ihrer Stelle zu sehen. Ich war es nicht weniger; und da kein Hanwerker geschwinder zu haben ist als ein Glaser, so sah ich mich schon nach zehn Minuten im Besitz des ganzen Namenregisters, aus welchem gemeinen Wuste ich die Handschrift unsers Freundes, in Form eines Oktavblatts, behutsam[257] heraus schneiden ließ. Es ist die vierhundert und ein und dreißigste Nummer meiner Sammlung, die neune mitgerechnet, die ich – – da sehe man nur! Ich möchte mich auf's Maul schlagen – die ich Dir verheimlichen wollte, bis ich sie zu Berlin meinen herbei strömenden Freunden – Dich, als den neugierigsten, an ihrer Spitze – zur Schau vorlegen, und mich mit eigenen leiblichen Augen an euer aller Erstaunen ergetzen könnte. Ist denn aber ein Mensch, der von den Gegenständen seiner Liebhaberei spricht, Herr seiner Worte? Was kann ich nun thun als fortplaudern? Du würdest es sonst gewaltig übel, oder ich müßte einen andern Bogen und mich besser in Acht nehmen. Beides wäre der Mühe nicht werth. Erfahre denn meinetwegen die ganze weitläuftige Geschichte.


Ich war, als ich durch Paris ging, noch keine Stunde daselbst, als der Wirth de quatre nations es schon weg hatte, zu welcher ich gehörte, und seinen Zuschnitt darnach machte. Er fing von weitem an von dem Charakter und dem Kunsttriebe der Deutschen und ihren mancherlei Kabinetten zu sprechen, und da ließ ich mich denn nicht lange bitten, ihm das meinige zu beschreiben, hatte aber Mühe, ihm zuvor den Einfluß meiner gläsernen Urkunden auf Politik, Historie, Chronologie und Kenntniß des menschlichen Herzens begreiflich zu machen, ehe er den Nutzen einer solchen Sammlung einsah. Mit seiner Ueberzeugung erwachte auch der Französische Diensteifer. Nachdenkend nahm er eine Prise Tabak um die andere, schlug dann die Dose mit dem Versprechen zu, sogleich Stube für Stube seine Fenster in Betrachtung zu ziehen. Es war nicht ganz umsonst. Der gute Mann brachte mir bald nachher die Handschriften dreier merkwürdigen Reisenden, die vormals hier eingekehrt waren, auf eben so viel wohl erhaltenen Scheiben. Schade nur daß ich keine verstehe; denn, außer dem Namen eines Türkischen Gesandten auf der einen, enthält die andere, wie es mir vorkommt, das Russische Einmal Eins, oder sonst eine Rechnung von Peter dem Großen, und die dritte ein Motto aus den Hetären des Lucian von der Hand der Königin Christine. – Das war doch gewiß schon ein ganz artiger Erfolg meines Geplauders,[258] aber für gar nichts gegen den Gewinn der folgenden Stunde zu rechnen; denn da trat der Wirth zum zweitenmale mit einem andern freundlichen Manne und den Worten in mein Zimmer: »Gestehen Sie, mein Herr, daß mein Schild mich nicht umsonst auffordert, jeden Passagier nach seiner Landesart zu bedienen. Hier stelle ich Ihnen einen meiner Hausfreunde vor, dem eine Fundgrube für Ihr Kabinet offen steht, als sich wohl keine mehr so ergiebig in der Welt finden möchte; denn noch hat niemand gewagt, sich ihr mit seiner Wünschelruthe zu nähern, oder nur den Verstand gehabt, den Schatzgräber zu benutzen, der Ihnen hier seine Dienste anbietet.«– »Und wer, um Vergebung, ist dieser gütige Herr?« fragte ich. – Beide nahmen einander das Wort aus dem Munde: – »Der Glaser aus der Bastille.« –

Wie sehr gleicht doch der Eindruck unerwarteter Freude dem heftigsten Schrecken! Die Wichtigkeit dieser Bekanntschaft trat mir auf das anschaulichste vor die Seele; und ob mir wohl mein Vortheil immerfort zuflüsterte, meine innern Bewegungen zu verbergen, so zitterte ich doch an allen Gliedern, als er zu seiner Beglaubigung eine Schachtel hervor zog, und mir sechs kleine runde Scheiben in die Hand legte, die vor Alter in die Farben des Regenbogens spielten, und deren ich nicht viele von gleicher Seltenheit besitze. Ich hätte sie mir für keinen Preis entgehen lassen, und erhielt sie – ich schäme mich es zu sagen, wie wohlfeil. Was aber diesem Handel erst die Krone aufsetzte und mich unendlich beglückt, ist ein Kontrakt von den erstaunlichsten Folgen, den er auf die billigsten Bedingungen mit mir einging, unterschrieb und besiegelte. Ich habe schwerlich je einen klügern abgeschlossen, den – wenn Du willst – komischen Anstrich abgerechnet, den er unvermerkt von der guten Laune annahm, mit der ich ihn zu Papier brachte; denn meine Zufriedenheit während dieser glücklichen Verhandlung war so ausschweifend lebhaft, daß, wenn Heinrich der Vierte, als er Paris belagerte, den Kommendanten der Bastille durch Bestechung gewonnen hätte, die seinige nicht größer hätte seyn können. Und ist es denn zu verwundern? Ueberlege nur selbst, Eduard; der Mann, der den stillen Herzensergießungen so[259] merkwürdiger Menschen, als wofür Staatsgefangene überall gelten, näher auf der Spur ist als kein andrer – dem jeder geheime Wunsch, den diese Unglücklichen gebären, und, gleich Findelkindern, auf diesen zerbrechlichen Fahrzeugen aussetzen, über lang oder kurz in die Hände läuft – der selbst, so oft er will, über diejenigen, die dem Strudel der Zeit entrannen, sein Strandrecht ausüben kann – dieser Mann, sage ich, steht bei mir als Kabinetsminister in Eid und Pflicht – ein Titel, den ich ihm im umgekehrten Verhältnisse gegen manche Fürsten, die ihn austheilen, ernsthafter beilegte, als er ihn annahm. Wie der gemeinste Glaser, bedachte er nur bescheiden sein Handwerk; ich hingegen würdigte ihn nach seinem gewaltigen Einflusse auf mein Kabinet, und konnte in dieser Beziehung ihn nicht genug ehren. Denn welch eine Ausbeute wird seine fleißige Hand nicht aus jenem bis jetzt unbenutzten Schachte der dort seit Jahrhunderten verhaltenen Klagestimmen zu Tage fördern! Welches Licht wird nicht mein glänzendes Museum über jene politischen Todesgewölbe verbreiten! Nicht nur die armen Eingesperrten werden durch Wegräumung der alten verblichenen Glasscherben heller sehen, sondern auch unsre blinden Geschichtsschreiber, die über den Seelenzustand eines Staatsverbrechers, über seine Empfindungen in der Einsamkeit des Gefängnisses, selten so viel zu sagen wissen als solch eine Fensterscheibe. Wäre es in der Mitternachtsstunde, die mir über den Hals gekommen ist ich weiß nicht wie, für den Spaß nicht zu spät, einen Catalogue raisonné von diesen biographischen Bruchstücken zu fertigen, deren jedes sein eigenes Blatt verdient, so würdest Du in den freien, bittern und großen Gedanken, mit welchen hier ein Montmorency, ein Retz, Richelieu, Fouquet und Voltaire ihren gepreßten Herzen Luft schafften, schon erstaunenswürdige Belege meiner Angabe finden. Und doch sind selbst diese Denkmäler der Vorzeit für nichts in Vergleichung einer fast unglaublichen Urkunde zu achten, die in einer, wenn ich nicht irre, aus den Menechmen des Plautus genommenen Zeile das größte Geheimniß der vergangenen Zeit enthüllt, mit der Unterschrift, statt des Namens, Vultus tyranni. Diese zwei mystischen Worte, dieser schlau gewählte Spruch des Dichters, zusammen[260] gehalten mit der unbefangenen Aussage des Glasers, der diesen höchst merkwürdigen historischen Splitter aus dem Fenster eines seit hundert Jahren leer gelassenen Gefängnisses, in das ihm ein Schlossenwetter verhalf, genommen hat, verwandeln meine erstaunende Vermuthung in eine Gewißheit, vor der jeder Geschichtsforscher seine Knie beugen sollte. Sie zeigen unwidersprechlich, daß sie nur von einem verheimlichten Menschen, verstoßenen Bruder, vernichteten Fürsten, und von keinem andern als der Masque de fer herrühren können, und vermuthlich auf der Oberfläche der Erde der einzige Nachlaß dieses unbekannten Gefangenen sind. Was für Feste erwarten Dich, Eduard, wenn ich diese Schätze einmal vor Deinen Augen auspacken, wenn ich künftig bei jeder ankommenden Pariser Post Deinen Beistand anrufen werde, die eingelaufenen Dokumente zu ordnen und zu schichten! Wie mag sich nicht schon ihr Ertrag während meiner Reise angehäuft haben, den meine, Gott gebe, glückliche Zurückkunft sogleich flott machen wird! denn das war die letzte Verabredung mit meinem Minister. Seitdem ist kein Tag vergangen, wo ich nicht die Masse meines zunehmenden Reichthums mit kindischer Freude berechnet, mich nach dem Stapelorte, wo er anlanden wird, zurück gesehnt, und vor den schönen Mahagonischrank hingeträumt hätte, der ihn aufnehmen soll. – Allerliebst! Da verplaudere ich nun schon wieder einen Umstand, den ich Dir bis jetzt höflich versteckt hielt – den wahren Grund nämlich meines Heimwehs. Keine Vorwürfe, lieber Eduard. Freundschaft und Patriotism haben viele anziehende Kräfte, aber – was wollen wir es läugnen? – Liebhaberei hat deren noch mehr.

Als einen nothwendigen Nachsatz zu meiner Geschichte muß ich Dir doch noch sagen, daß, sobald ich mich mit meiner Ueberlegung allein sah, ich die rechtliche Gültigkeit meines Traktats in genauere Untersuchung nahm, denn das fällt einem Sammler immer am letzten ein. Sie lief indessen ab wie ich wünschte. Mein Kabinetsminister steht zwar bereits als Glaser in königlichen Pflichten: da ihm aber herkömmlich – ein Wort, das wohl ganz andere Abweichungen entschuldigt – alle und jede alte Scheiben[261] ohne Ausnahme, sobald er nur neue an deren Stelle einzieht, eigenthümlich zufallen; so dürfte sich wohl unter allen Dienern des Staats schwerlich Einer noch finden, der die Nebenvortheile seines Amts mit so gutem Gewissen rechtfertigen könnte als er; und da mir ohnehin diese Abfälle der Bastille mein bares Geld kosten, so ging ich damals so ruhig und zufrieden mit mir zu Bette – als heute.


Den 20sten Februar.


Das schauderhafteste Gemälde von Breugeln, dem Kabinetsmaler der Hölle, kann kein so auffallendes Gegenstück zu einem Claude-Lorrain, dessen Pinsel in die Sonne getaucht scheint, abgeben, als mein heutiger Morgen zu meinem gestrigen. Saint-Sauveur, der, wie ich es erst dadurch erfuhr, als ein vertrauter Freund des Intendanten, bei ihm einkehrt, so oft er hierher kommt, trat früh in mein Zimmer, brachte mir eine Einladung von ihm für den Mittag, und, zu meinem Zeitvertreibe für den Morgen, seine schriftliche Erlaubniß, das Arsenal zu besehen. Ich legte den Zettel neben mir auf das Kaffeebret mit aller der Gleichgültigkeit, die ich für solchen militärischen Prunk habe, die aber dafür den Brigadier desto mehr verschnupfte. – »Ich sehe wohl,« sagte er empfindlich, »du erkennst den Vorzug nicht, wie du solltest, den dir dieß Einlaßbillet vor so vielen tausend durchreisenden gelehrten Wanderern verschafft, die vergebens darnach angeln. Du mußt wissen, daß Herr von Saintaignan es selbst meinen Bitten nicht eher zugestand, als bis ich für dich gut sagte. Warum rümpfst du die Nase? Glaubst du etwa, daß unsere Zeughäuser so zugänglich sind, als unsere Theater und Kirchen? O nichts weniger. Dafür wirken sie aber auch mächtig auf unsere Imagination, wie alles Große, das sich versteckt hält, und der Glückliche, dem es vergönnt wird sie in der Nähe zu bewundern, trägt für sein übriges Leben einen auszeichnenden Glanz davon.« – »Du sprichst,« erwiederte ich, »wie ein Soldat; ich aber denke wie ein Magister, der lieber während seiner Morgenbetrachtungen einer Liqueurbouteille in den Hals sieht, als einer Kanone, und ungern der leidigen Neugier einen Mundbissen von seinem Frühstück aufopfert.«[262] – »Kürze es heute immer ein wenig ab,« versetzte der Marquis, »und hebe auch, wenn ich dir rathen darf, deinen philosophischen Senf bis auf ein andermal auf. Die kritischen Betrachtungen eines Magisters über die Kriegskunst ändern den Lauf der Welt nicht um ein Haar breit; sie stören aber leicht den guten Humor. Davor mußt du dich aber heute besonders in Acht nehmen; denn die Tafel des Kommendanten erwartet an dir einen muntern Gast, und das schöne Korps unserer Damen einen witzigen Gesellschafter. Hier ist Stock und Hut. Rühre dich, Wilhelm. Der lahme Gefreite, den ich dir zu deiner Begleitung mitgebracht habe ...« – »Du also,« unterbrach ich ihn, »hast keine Lust?« – »Meine Geschäfte,« zuckte er die Achseln, »wollen mir es nicht erlauben. Doch wirst du mich auch nicht vermissen. Ich habe dir einen gesprächigen und pünktlichen Mann ausgesucht, der selbst in dem Palaste wohnt, wo er dich einführen soll, der das weitläuftige Inventarium davon unter seiner Kreide und Aufsicht, und für keine andern Merkwürdigkeiten der Welt einen Sinn hat. Ich wünschte nur, dein Verlangen sie zu sehen wäre so groß, als seine Freude sie dir zu zeigen.« – Ich fühlte, ob ich meinen Beutel in der Tasche hätte. – »O nicht etwa,« widerlegte der Marquis meinen Gedanken, »als sei es ihm um ein gutes Trinkgeld zu thun. Für einen so gewöhnlichen Cicerone darfst du deinen Führer nicht halten. Viel zu stolz, neben der königlichen Pension von einem andern einen Groschen anzunehmen, plaudert er sich heiser, und schleppt sein gelähmtes Bein nach – ächt Französisch, bloß zur Ehre seines Monarchen, von dessen Bewunderung er voll ist. Ich will nicht zweifeln, daß selbst ein Preuße dieses Gefühl mit ihm theilen kann, wenn er die Docke zum Schiffbau, den Waffensaal, die ungeheuern Vorräthe in den Magazinen an Tauen, Ankern und Segeln, die Werkstätte des Schreckens in voller Arbeit, das viele kostbare Geschütz und mehrere andere Wunder unsers Arsenals zu Gesicht bekommt. Es ist unmöglich, hier nicht von dem höchsten Erstaunen ergriffen und von der Größe eines Königs von Frankreich durchdrungen zu werden. Gönne immer deinem Begleiter dieß Schauspiel deines erregten Enthusiasmus zur Belohnung für[263] seine angestrengten Flechsen. Ein Französischer Invalid verlangt keine andere. – Ach! ehe ich gehe, noch ein Wort von unserer morgenden Spazierfahrt nach Hieres. – Diese müssen wir einstellen. Wir sind zu einem Schmause am Bord der Vengeance gebeten, den die Seeofficiers zur Einweihung dieses neuen Kriegsschiffs veranstalten. Mich freut es, daß so manches Ungewöhnliche zusammen trifft, um dir den Aufenthalt in Toulon unvergeßlich zu machen – Lebe wohl!« – –

Der liebe Brigadier! Ich verkenne zwar keineswegs seine guten Absichten; aber die Anordnung meines Zeitvertreibs versteht er nicht. Mir will nun einmal die große enthusiastische Ehrfurcht für einen Monarchen, wenn er sie mir nicht, wie unser Friedrich auf eine feinere Art abzulocken weiß, als mit Kanonen und Schiffen, so wenig in den Kopf, als mich witzige Einfälle reizen, auf die man in voraus bei mir Bestellung macht. Und wie könnte ich mich vollends über den Verlust der Hierischen Gewürzinseln trösten, die mir ein Soldatengelag an einer schwankenden Schiffstafel, an die ich nicht denken darf ohne mich schon in voraus seekrank zu fühlen, so vor der Nase wegnimmt!

Nach einem solchen grillenhaften Selbstgespräch war es wohl nicht zu erwarten, daß ich mich den Anmaßungen meines Führers geduldig preis geben würde. Auch trat ich ihm, um seinem prahlenden Gewäsche in Zeiten vorzubeugen, mit Worten entgegen, die zur ersten Ansprache wohl etwas freundlicher hätten seyn dürfen. – »Hinken Sie nur ohne Bedenken und Komplimente vor mir her, Herr Unterofficier, und lassen Sie mir Ihre Merkwürdigkeiten jetzt unbeschrieben. Ich bin für den Augenschein, und auch mit dem hat es keine Eile.« – So trollte ich ihm mit meiner übeln Laune in den Hafen nach, der, im Vorbeigehen gesagt, sehr verschieden von dem reinen Wasserbecken zu Marseille, sich einer feinen Nase schon von weitem ankündigt. Wie mußte ich mein neugieriges Auge hüten, als wir dort ankamen, um nicht mehr als einen flüchtigen Blick seitwärts zu thun, aus Furcht, die prachtvolle Façade des Arsenals möchte meinen Entschluß vereiteln, und mir die Lobrede abzwingen, auf die mein aufgeblasner Begleiter schon[264] seine Ohren gespitzt hielt! Vielmehr drehte ich mich, wie ein eigensinniges Kind, gerade der Seite zu, die er am meisten bemüht war meiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Daß doch ein vernünftiger Mann, ohne eben boshaft zu seyn, sich den albernen Spaß machen kann, den Stolz eines andern zu necken! – »Zu was,« fragte ich mit verstellter Neugier, indem ich, statt seinen schlauen Winken zu gehorchen, den stinkenden Behälter der königlichen Galeeren ins Auge faßte, »zu was dienen denn die langen schmalen Schiffchen, die in diesem Sumpfe fest liegen?« – Zu Zuchthäusern für unsere Verbrecher, war seine kurze Antwort. – »Hat sie wohl Howard besucht?« – »Kann seyn,« erwiederte er, »ich weiß es nicht.« – »Ich möchte wohl,« äußerte ich, im Widerspruche meiner Neigung, den Wunsch, »mit Besichtigung ihrer den Anfang machen!« – »Das möchten Sie?« spöttelte der Invalide. »Viel Glück zur sentimentalischen Reise! Mir aber werden Sie vergönnen nicht mitzugehen, sondern Ihre Zurückkunft dort zu erwarten, wo ich hingehöre.« – Er kehrte mir nach dieser Erklärung den Rücken, und hinkte dem Portale des Zeughauses zu. Und ich? Gern hätte ich mein übereiltes Wort wieder zurück genommen; meine einfältige Laune stellte mir aber das Ding als eine Ehrensache vor, die ich gegen den Französischen Invaliden verfechten müßte, blieb in ihrer einmal genommenen Richtung, und zog mich wider Willen mit sich fort bis in die nächste Galeere.


Ich habe zwar schon manche öffentliche Anstalten für das gemeine Beste gesehen, die wenig Raum einnahmen, aber noch keine, wo der Platz so benutzt und die Ersparniß alles Ueberflüssigen so sichtbar war, als hier. Ein schwankendes Bret brachte mich zuerst in eine Kajütte, wo ein alter Kapuziner, zwischen einem Kruzifix und einer Arzneischachtel, die Rolle eines geistlichen und leiblichen Arztes zugleich spielte, und in seinen Bewegungen, ohne angekettet zu seyn, keinen größern Zirkel beschreiben konnte, als den ich jetzt durch meine Dazwischenkunft ausfüllte. Seine feurigen Augen, die aus dem blassen verfallenen Gesichte vorschimmerten, wie glimmende Kohlen in einem Aschenhaufen, sein langer, vor Alter gebleichter[265] Bart, der ihm bis auf den Gürtel in krausen Wellen herab floß, und die trübe gefällige Miene, mit der er mir seinen hölzernen Sessel einräumte, machten schon einen starken Eindruck auf mein Gefühl: als ich aber von ihm vernahm, daß er, jung hierher versetzt, auf diesem Vereinigungspunkte der größten physischen und moralischen Herabwürdigungen des Menschen grau geworden sei – als er einen Blick voll hoher Ergebung gen Himmel schlug, und mit rührender Stimme bekannte, daß bloß der Gedanke an Gott und die Unsterblichkeit ihn so lange aufrecht erhalten habe; da beugte sich mein Geist mit so tiefer Ehrerbietung, als mir schwerlich je ein König durch den Höllenglanz seiner Zeughäuser abnöthigen wird, freiwillig vor diesem edel denkenden, duldenden Greise. Ich wußte meiner Milzsucht, die mir doch allein das wehmüthige Vergnügen seiner Bekanntschaft verschafft hatte, nicht freundlich genug dafür zu danken. Von keiner Kanzel, keinem Katheder ist mir die wundervollste aller Tugenden, die Tugend der Aufopferung, näher an das Herz gelegt worden, als an dieser mir heiligen Stäte. Das erhabene Beispiel dieses frommen Dulders – wie groß und unverdächtig es auch seyn mochte – wurde jedoch – o daß ich nur nicht zu voreilig entscheide! – von einem vielleicht einzigen übertroffen, dessen zu erwähnen ihm der Verfolg seines Gesprächs Gelegenheit gab. Er blickte mir sanft lächelnd in die feuchten Augen. – »Bemitleiden Sie mich nicht zu sehr,« sagte er. »So lange mich noch jugendliche Wünsche bestürmten, ich die Sonne noch nicht vergessen konnte, die mich in dem kleinen Klostergärtchen beschien, ich noch an den Lindenbaum dachte, den ich dort gepflanzt und gepflegt hatte, und der jetzt einen Glücklichern als mich beschattet – und ach, so lange sich noch mein Herz nach der Stille, der Ordnung und der Reinlichkeit« – das, Eduard, sagte ein Kapuziner – »meines Klosters zurück sehnte, drängten sich freilich wohl manche Seufzer des Unmuths aus meiner Brust; doch nach und nach, Gott sei gelobt! bin ich meiner strafbaren Ungeduld Herr geworden. Die Zeit kam, die uns kühl genug macht, alle irdische Freuden so nichtig und verächtlich zu finden, als sie es in Rücksicht ihres geschwinden Vorübergehens sind. Die[266] Zeit kam, wo wir unsre schmeichelhaftesten Hoffnungen, unsere gelungensten Thaten ungewiß anstaunen, und nach einer redlichen Untersuchung in denjenigen allein einen bleibenden Werth entdecken, die uns mit jener Welt in Verbindung setzen. Sie kam und brachte mir Trost. Ich habe sogar in meinem traurigen Wirkungskreise Blumen der Freude aufwachsen sehen, die so herzstärkend keinem andern entsprießen. Oft nur ein Trunk Wassers, den ich einem Verschmachtenden reichte, ein kurzes Trostwort, das einen Verzweifelnden aufhielt, erwarb mir das Zutrauen des Genesenen, die Liebe des Getrösteten, erhob mich zu ihrem Wohlthäter, und machte mir den Posten lieb, auf den mich die Vorsehung gestellt hat. Gewiß würde das Entsetzen ihrer Strafe viele getödtet haben, die, dem Kreise ihrer Freunde wieder gegeben, jetzt frohe Tage genießen, hätten sie nicht gewußt, daß am Eingange ihres Gefängnisses eine Seele noch Theilnahme für sie empfände, für sie betete, und auf ihr standhaftes Bezeigen Acht gäbe. Dort,« – indem er auf ein Paket deutete – »hebe ich Briefe auf, wie sie gewiß kein Roman rührender darlegen wird – ächte Urkunden des menschlichen Herzens, und sprechende Beweise, daß an keinem zu verzweifeln ist, so lange es der Dankbarkeit noch Zugang verstattet. Je unverdorbener, desto empfänglicher für diesen Naturtrieb – je mehr es verdient geliebt zu werden, desto gefühlvoller wird es sich er wiedern. Da habe ich unter meinen der Kette entlassenen Korrespondenten besonders Einen, der es immer noch nicht vergessen kann, daß ich um seine Freundschaft als um ein Almosen bettelte, während er, nicht auf einer Prälaten- sondern auf der Ruderbank saß – ein Mann, mein Herr, den sonderbar genug! kein Verbrechen, vielmehr die Lauterkeit seiner hohen Seele diesen Schrecknissen preis gab – der sich als Jüngling allen sinnlichen Freuden entriß, um die Strafe unserer strengen Gesetze für einen Schuldigen zu büßen, der – sein Vater war.« – »Was?« unterbrach ich den Mönch, »sprechen Sie von dem edelmüthigen Faber aus Ganges? Der hat auf dieser Galeere ...« und Thränen verhinderten mich fortzusprechen. – »Sie kennen also, wie ich sehe, einen Theil seiner Geschichte?« – »Nein, lieber Pater,« schluchzte ich, »ich kenne sie[267] ganz, und habe auch den rechtschaffenen Mann selbst gesehen und gesprochen.« – »Ganz?« wiederholte der Mönch mein Wort; »o dessen, mein guter Herr, werden Sie Sich erst rühmen dürfen, wenn Sie« – hier öffnete er die Thür nach dem Innern des Schiffs – »von daher zurück kommen.« – Mein Blick fuhr erschrocken über dieß Grab der Verzweiflung, und der verpestete Luftstrom, der mir entgegen stieß, versetzte mir den Athem. Hätte Faber nicht Jahre lang hier gelitten ohne zu murren, ich wäre keinen Schritt weiter gegangen. – Der gutmüthige Alte, wie er mich dazu entschlossen sah, ergriff meine Hand. – »Ich will Sie zwar, aus guten Gründen, von Ihrem Unternehmen nicht abhalten: Sie scheinen jedoch für solch eine Anstrengung des Körpers und Geistes kaum Kraft genug zu besitzen. Hier, lieber junger Herr, trinken Sie zuvor ein Glas Tinto, der mit einem Liquor gegen die Ansteckung versetzt ist, und nun gehen Sie in Gottes Namen. Diese Stunde der Wehmuth stärke alle Ihre übrigen Tage zur Geduld, zum Erbarmen und zu einem schuldlosen Leben!« – Mir ward, indem ich trank, so bänglich zu Muthe, als einem, der, durch das heilige Nachtmahl vorbereitet, ein tödtliches Wagstück zu bestehen im Begriff ist. Was für ein Gang war das, Eduard! Ich mag noch so alt werden, ich vergesse ihn nie.

Sobald nur der hohle Schall meiner ersten Tritte auf das Zwischenverdeck des Schiffs den unglücklichen Bewohnern desselben die Ankunft eines freien Mitmenschen verrieth, bewillkommte mich ihr betäubendes Kettengerassel, das sich von einem Ende zum andern um die offene Seitenvertiefung herum zog, die unter mir ihre faulenden Körper bis an die Köpfe verbarg – und in dem Augenblicke streckten sie solche, wie Schildkröten aus ihren Schalen, hervor. Ich blieb, vor Schrecken gelähmt, eine Weile, wie die Bildsäule des Antonius, der den Fröschen predigt, auf dem Fußboden stehen, ehe ich Herz genug fassen konnte, zwischen den beiden Reihen dieser Gespenster durchzuschlüpfen ... Ach! welche tief gesunkene Menschen! Bei jedem Schritte, der mich bei ihnen vorbei führte, küßten sie mir die Füße, erhoben sie, flehend um ein Almosen, ihre gefesselten Hände, und sahen mit Augen voll Schwermuth und[268] Eifersucht mir auf dem folgenden nach, den ich zu dem Nachbar ihres Elends that. – Athemlos gelangte ich an das Ende dieser schauderhaften Allee. Hier lehnte ich meinen Rücken an die breterne Wand, und überblickte mit einem Herzen, das immer höher schlug, das ganze bewegliche, Grausen erregende Gemälde, hörte in erschütterndem Einklange die Wehklagen dieser lebendig Begrabenen aus ihrer gemeinschaftlichen Gruft zu mir herauf steigen, und erst nach einigen feierlichen Minuten, die ich stillstehend der schreckenvollsten Betrachtung weihte, überwand ich die Angst vor meinem Rückwege, und fühlte mich selbst stark genug, meiner Eile, meiner Sehnsucht nach freier Luft zu gebieten, um – dem Elend, das hier weilte, noch einmal bedächtlicher in das hohle Auge zu sehen, und, ohne mein blutendes Herz zu schonen, ihm die Dolche noch tiefer einzudrücken, die es zerfleischten.

So gewiß auch von den beiden Gegenbildern – der menschlichen Würde und ihres Verfalls – der Glanz des ersten eine so schwarze Unterlage entbehren kann, so dienlich kann uns doch ihr Wiederschein in den übermüthigen Stunden werden, wo das Gefühl unsrer Kultur uns mehr beweist, und uns höher setzt, als es sollte. Denn wer von uns, so behauptet Montaigne mit mehrern ehrlichen Rechtsgelehrten und Sittenrichtern, hat nicht Schritte gethan, die ihn gerade auf die Galeere gebracht haben würden, wären ihm nicht glückliche, errettende Umstände noch zur rechten Zeit in den Weg getreten? – Diese und mehr andere Gedanken, die wohl noch spitziger ausfielen, begleiteten mich über das Verdeck zurück, und schienen mir von jeder um mein Ohr klirrenden Kette einen Theil des Gewichts an die Füße zu hängen. Hätte ich mich in beschaulicher Muße auf der Dresdner Gallerie befunden, und bei Zinggs Talenten die Aufgabe zu lösen gehabt, aus dem Licht und Schatten der Gemälde ihren höhern oder niedern Werth zu berechnen, meine Schritte würden dort nicht schleichender, nicht zögernder und der Aesthetik nicht angemessener haben seyn können, als sie es hier den geheimen Bewegungen meines Herzens waren. Auch glaube ich kaum, Eduard, daß meiner Aufmerksamkeit nur ein Wort, nur ein Zug von Bedeutung in den tragischen Reden,[269] in dem konvulsivischen Geberdenspiel der armen Schächer entwischt ist, die ich, ohne mich zu rühmen, mit den Augen und Ohren eines Zentrichters belauschte.


Ich sah, wie hier das Joch der brüderlichen Strafen

Den steifen Hals der Eigenliebe bog,

Wie mit der Armuth und des Geizes Sklaven

Der Wollust Sklav' an Einer Kette zog!

Vom Kelch der Wehmuth trunken, reichte

Ich allen nun mein Geld und Ohr,

Und schrecklich brach die allgemeine Beichte

Der Büßenden aus ihrer Bucht hervor.

Der eine schrie: »O Gott! ich bleicht' an deinem Meere

Mein Bißchen Salz in deinem Sonnenschein,

Und Menschen strafen mich!« – »Ich« fiel ein andrer ein,

»Verbüß' an Fesseln der Galeere

Die dreimal ungewiße Ehre,

Von dreien Weibern Herr zu seyn.« –

Ein Dritter, stolz auf die Calotte,

Die dem beschornen Haupte blieb,3

Sprach ernst: »Ich fühle mich vom Gotte

Der Musen inspirirt, und schrieb –

Ich schrieb der Bücher viel, und alle

Sind längst ins Deutsche übersetzt.

Ich schrieb vom steigenden Verfalle

Des Staats ein Buch in Quart – da, Freund, hat mich zuletzt

Des Königs Wink, und des Ministers Galle,

Und Flaccus Rath: ›Was nützet und ergetzt,

Das schreib!‹ hierher gebracht. Der Trost in meinen Ketten,

Der einzig noch mein Schicksal mir versüßt,

Ist, daß man Rousseau's Styl am Hof, an den Toiletten,

Nicht halb so gern als meine Prosa liest.«

Beschämt wünscht' ich ihm Glück zu diesem seltnen Grade

Des guten Styls und floh, als mir auf meinem Pfade

Noch ein Gespenst zu Füßen sank:

»Ein Wort – Gott segne Sie! – ein Wörtchen nur zur Gnade,

Mein Herr! Wer hält denn wohl seit mir im Schlangenbade,

In Ems und Ronneburg die Bank?«


Und wäre mein von Mitleiden durchdrungenes Herz noch so geneigt gewesen, die Strafe dieser Unglücklichen und ihre Verschuldung[270] so weit außer Verhältniß zu finden, als sie selbst davon überzeugt schienen, so würde mir doch des Spielers Kette, in Rücksicht der Verbrechen, die, wenn ich nicht sehr falsch las, auf seiner frechen Stirn geschrieben standen, noch zu leicht und zu lang gedünkt haben. Er richtete sich, so weit sie es zuließ, unbescheidener als seine Mitgesellen an mir in die Höhe, und bewegte seine um ein Geschenk bettelnde Hand nicht anders, als wollte er eine Volte schlagen. Wären mir auch nur zwölf Sous von meiner Spende übrig in meinem Beutel geblieben, er hätte sie nicht bekommen sollen; denn er würde sie doch nur gemißbraucht haben, durch ein rouge et noir mein vertheiltes Almosen in seiner Diebskasse wieder zusammen zu bringen. Ein derber Deutscher Fluch, den er mir für den verächtlichen Blick nachschickte, den ich ihm zuwarf, statt ihm zu antworten, prallte mir noch in die Ohren, als ich schon, seines scheußlichen Anblicks entledigt, mich von meinem sauern Gange in den Armen des redlichen Mannes zu erholen suchte, der dieser schrecklichen Gemeine vorstand. Es war der erste Mönch, den ich küßte. So herzlich habe ich selbst nie die Wange eines Mädchens geküßt. Nach einigen abgebrochenen Worten, die ihm nur zu deutlich meine innere Bewegung und meine Ohnmacht, sie ihm besser zu schildern, verriethen, drückte ich noch einmal seine Hand an mein pochendes Herz – und er – schlug ein Kreuz über mich, als ich mich von ihm losriß.


Erquickender hat kaum jemals die freie Luft auf mich gewirkt, als da ich aus diesem Kerker an das Licht trat. Ich hüpfte mehr als ich ging meinem sprechsüchtigen Begleiter zu, der mich an dem Thore des Arsenals ungeduldig erwartete. Er konnte nicht begreifen, wie ich zwei volle Stunden an die häßliche Galeere habe verschwenden, und sie den Schaustücken entziehen mögen, die ich ja jetzt nur im Flug würde betrachten können. Da sein Zeitvertreib ungleich mehr als der meine bei der Sache im Spiel war, so läßt sich auch mein Verdruß gar nicht mit der Größe des seinigen vergleichen, als ich dastand, alle meine Taschen umwendete[271] und endlich mit zitternder Stimme mein Einlaßbillet – für verloren erklären mußte, so wie es mein Schnupftuch war. Das eine war für mich leichter zu entbehren als das andere. Während sich nun der Soldat unter lauten Wehklagen, um das wichtige Dokument zu suchen, so eilig auf die Beine machte, als ob es sein Gehirn wäre, das ich verloren hätte, hielt ich es für räthlicher, dem dringenden Beruf meiner Nase zu folgen, und nach dem Gasthofe zu wandern, als unter freiem Himmel seine hinkenden Nachrichten zu erwarten; doch rief ich noch zu seinem Troste ihm die Versicherung nach, daß ich den folgenden Morgen ganz dem Arsenale und ihm widmen und die heute versäumten Stunden wieder einbringen wollte. Dieser kleinliche Zufall ist mir eigentlich heute gar sehr zu passe gekommen: denn ungerechnet den Zwang, dessen er mich zwar nur vor der Hand entledigt, die Waffen unsers Erbfeindes zu bewundern, so hat er mir doch immer die Muße verschafft, Dir in der ersten Wärme der Empfindung, die doch gewiß am ähnlichsten malt, die Scenen meines Morgens zu schildern. Zweitens läßt er mir auch Zeit mich abzukühlen, ehe ich in die vornehme Gesellschaft gehe, in die mich der Mittag einführen wird. Wohl gut, daß er in der großen Welt drei Stunden später eintritt als in der physischen. Inzwischen, denke ich, sollen die Bilder, die jetzt noch so lebhaft mir vorschweben, ziemlich verblichen, und brauchbarere pour la belle conversation an ihre Stelle getreten seyn. Denn welche Dame, ich bitte Dich, würde mir zuhören, wenn meine Erzählung zum ohnmächtig werden sie aus dem hellen Speisesaale in jene düstre Sklaven-Barake versetzen wollte? Eben so wenig würde ich Glück bei ihr machen, wenn ich mir einfallen ließe, während sie mich anlächelt oder die Zähne stochert, dem heldenmüthigen Kapuziner eine Lobrede zu halten, und an ihrer Seite seiner funfzig, der bessern Zukunft geopferten Jahre, und der widernatürlichen Zufriedenheit zu huldigen, mit der er, ohne nur Einmal in ein schönes Auge geblickt zu haben, auf seinem heiligen Posten steht. Mit Dir, Eduard, ist es etwas andres. Du mußtest mir wohl Ehren halber Stich halten, denn Du zählst Dich zu den philosophischen Köpfen. Doch diese, lieber Gott, sind mir[272] heute selbst so zum Ekel geworden, daß es mich Wunder nimmt, wie ich mich noch im geringsten mit ihnen abgeben mag.


Ihr, denen Gott zum Mitgefühle

Des Seneka, des Antonin,

Weich ausgestopfte Rednerstühle

Und einen Doktorhut verliehn,

Bestürmt mich nicht mit euerm Wortgetöse

Von Menschenkraft und Seelengröße,

Seit Fabers Glanz mich überschien!


Beredt, den Widerspruch zu scheiden,

Daß Freisinn in der Sklaverei

Wohl möglich, und im höchsten Leiden

Ein Weiser Herr des Schicksals sei,

Lauscht zwar mein Ohr auf euern Wohlklang: aber

Beredter prediget mir Faber

Der Stoa Wahlspruch: Ich bin frei.


War es der Geist, der in der Schule

Des Zeno Stärkungen verschrieb,

Der ihn von seinem Weberstuhle

In diese Kluft des Jammers trieb,

Wo, von dem Glück der Freundschaft abgeschieden,

Wie von der Liebe, nur der Frieden

Mit sich allein ihm übrig blieb?


Nein, er ging auf dem dunkeln Pfade,

Den nur der Göttliche ihm brach,

Der für uns litt, frei und gerade

Der geistigen Belohnung nach:

Sein Herz bedurfte keiner Lehre;

Er rettete der Tugend Ehre;

Er hielt, was Seneka versprach.


Ein glänzender Mittag, Eduard, ein Gastmahl, wie es nicht jeder Intendant der königlichen Marine zu geben vermag, wenn er es nicht von Toulon ist, an dessen Küste die berühmten Dattelmuscheln zu Hause sind, die ihm als ein ausschließendes Vorrecht zukommen. Ich fand an diesem Beherrscher der Hölle, die ich heute Morgens bestieg, zu meiner Verwunderung einen sanften, liebreichen Mann in seinen besten Jahren. Er empfing mich als den Freund seines Freundes mit Güte und Achtung. Unsere erste[273] Zusprache inzwischen – ob sie gleich von beiden Theilen nur auf gemeine Höflichkeiten beschränkt war – mißlang je doch ein wenig; so sehr hat man selbst bei gleichgültigen Gesprächen es für ein Glück zu achten, wenn man in dem Innern des andern keine verborgene Saite berührt, die traurig oder widrig zurück tönt. Seine Worte kehrten mir immer eine Spitze zu, und meine Antworten? Du magst selbst urtheilen, wie klug und artig sie ausfielen. Gleich seine Frage, wie mir das Arsenal gefallen, gab mir einen Stich in das Herz. Roth bis über die Ohren, dankte ich ihm bloß für seinen Erlaubnißschein, ohne meiner Unachtsamkeit zu gedenken, die ihn vereitelt hatte. Zu sehr Weltmann, um eine unbeantwortete Frage zu wiederholen, brachte er mich sehr ungesucht auf unsern König zu reden. Mein Lob, in das er herzlich mit einstimmte, wäre auch nicht übel gewesen, wenn ich nur nicht dabei – ich weiß auch nicht wie mir war – einen Tadel seiner Vorliebe für die Franzosen mit eingewebt hätte; denn dazu war doch hier in der That der rechte Ort nicht. Von ihm ging er auf die Annehmlichkeiten Berlins, und zugleich auf die Energie – wie er es ausdrückte – der Deutschen Nation über, ohne nur im mindesten ihren Mangel an andern guten Eigenschaften zu erwähnen. Ich hätte mich gern im Namen aller dazu bekannt, um das Schmeichelhafte, das auch für mich in seinem allgemeinen Urtheile lag, ein wenig zu mäßigen; aber ich wußte in diesem Augenblicke vor lauter erregtem Patriotismus nichts an uns auszusetzen, was sich der Mühe verlohnte. – »Ich kenne zwar Ihr Vaterland nur aus einer nichts weniger als empfindsamen Reise, die ich im siebenjährigen Kriege dahin als Fähndrich that, und von der ich als Oberster einer Brigade wieder zurück kam.« – »Ew. Excellenz wohnten also wohl der schrecklichen Schlacht bei Minden mit bei?« – »Ja,« antwortete er, »ich führte in derselben die Grenadiere von La Tour gegen Ihre Dragoner an.« – Diese hingeworfenen wenigen Worten rissen – ist es glaublich? – eine alte, längst verharschte Wunde meines Herzens auf – »So ist denn,« sagte ich heimlich zu mir, »über dieselbe Zunge, die jetzt so freundlich mit dir spricht, das Schreckenswort: Gebt Feuer! gegangen, das[274] deinen armen Bruder zu Boden streckte!« Die Thränen meines Vaters, die Verzweifelung meiner Mutter und mein eigener kindischer Schmerz traten mir jetzt so lebhaft vor die Seele, daß ich diese traurige Erinnerung nicht wieder los zu werden vermochte, ohne sie dem mitzutheilen, der sie unschuldiger Weise erregt hatte. – »Er stand,« sagte ich, »unter demselben Regimente, das von dem Ihrigen so übel empfangen wurde, war der edelste beste Jüngling, erst achtzehn Jahr alt, als er blieb, und schon Adjudant.« – »Schon Adjudant?« fing er meine Worte auf; »das will im Preußischen Dienste etwas sagen, und giebt allein schon einen hohen Begriff von seinen ausgezeichneten Talenten.« – »Das nun eben nicht,« glaubte ich bescheiden zu antworten; »die beiden Armeen arbeiteten in diesem blutigen Kriege nur zu gut für den Abgang, daß oft das ganze Verdienst, dem ein junger Officier seine schnelle Beförderung verdankte, bloß auf dem Umstande beruhte, aus einer Schlacht nach der andern gesund zurück zu kommen. Hätten meinem guten Bruder, statt selbst zu fallen, die Leichen seiner Kameraden als Stufen gedient, um so fortzusteigen wie er anfing, so zweifle ich nicht, er würde jetzt so gewiß als Ew. Excellenz ...« – Hier faßte mich der General lächelnd bei der Hand, ohne das Ende meiner Militärrechnung abzuwarten, und stellte mich der übrigen Gesellschaft vor.

Bald nachher setzten wir uns zur Tafel. Hier bekam ich meinen Platz neben zwei Damen, von denen mich sogleich die eine in ein Gespräch zu ziehen wußte, das jedem, der hungriger darnach gewesen wäre als ich, vollkommene Sättigung gewähren konnte; denn es gehörte als geistige Nahrung in die Klasse der Schüsseln, die man durch immer neuen Zusatz von Brühen so sehr verlängern kann als man will. War ihr weiß gemacht, daß ich ein Litterator sei, oder glaubte sie es meiner listigen Miene anzusehen; genug, ich hatte noch nicht drei Löffel von der Suppe genossen, als ich schon mit ihren zwei vorzüglichsten Lieblingen des vergangenen und des laufenden gelehrten Jahrhunderts, mit Molieren und Büffon, bekannt war. – »Niemand,« sagte sie von dem ersten, »hat feiner unsre kleinen Blößen an das Licht gezogen,[275] und die Schleichwege zu dem Labyrinthe des weiblichen Herzens deutlicher angegeben, so daß man schwerlich jetzt einen derselben ohne Gefahr einschlagen könnte, von Männeraugen ertappt zu werden.« – Sie blickte mir dabei so herzhaft in die meinen, daß ich sie niederschlug. – »Dadurch,« fuhr sie fort, »ist ein gewisses Zutrauen unter beiden Geschlechtern entstanden, das vieles abkürzt, und desto anziehender ist, je steifer es sich auf die Kenntniß gegenseitiger Schwächen gründet.« – Ich hätte gern der Dame mein Kompliment über den neuen Gesichtspunkt gemacht, aus welchem sie den Werth des Komikers beurtheilte; aber sie ließ mich noch nicht zum Worte. – »Er hat gewiß,« entwickelte sie ihren Satz mit selbstgefälligem Tone, »als ein guter Bürger, der bessern Erziehung und dem natürlichern Gange unsers Jahrhunderts vorgearbeitet. Denn wer hat die Misanthrope, die Tartüffe, die Précieuses ridicules aus unserm gesellschaftlichen Zirkel vertrieben als Er?« – »Ich dächte, Madam ...« – »Und der Zweite,« fuhr sie fort ohne mich anzuhören, »wie hat er sein menschenfreundliches Herz, seine umfassenden Kenntnisse, und die Harmonie der Sprache benutzt, um uns in lauter Spaziergängen zu der Quelle der wahren Natur zu führen, zu der wir ehedem höchst langweilige Umwege machen mußten! Sein Grundsatz von der Liebe, der jetzt allgemein angenommen wird, wie viel hat er nicht zur Ersparung unserer kostbarsten Zeit beigetragen!« – »Welcher, um Vergebung?« fiel ich ihr in die Rede. – »Daß in dieser Leidenschaft,« antwortete sie mit einer dogmatischen Miene, die ihr nicht so ganz übel anstand, »nichts gut sei, was nicht – um es kurz zu sagen – gerade zum Ziel führt. Alle unsere physischen und moralischen Handlungen standen längst unter dieser Regel: aber erst seit ihm gebietet sie auch der Liebe. Seit dem Ausspruche dieses großen Naturforschers ist das ekle Romanhafte unter uns gänzlich verschwunden, und man wird jetzt selten ein so lächerliches Paar finden, das einander gefällt, und nicht auf Büffons Gefahr damit anfinge, wo die Großältern aufhörten.« – »Wirklich?« war das einzige Wort, das ich, während sie Athem holte, einschieben konnte. – »Was, mein Herr,« überströmte mich jetzt der[276] Fluß ihrer Beredsamkeit aufs neue, »was sagen Sie von seinem hinreißenden Style? Voltaire ist gewiß in seinen Gedichten ein rührender, melodischer Sänger: aber ich gestehe, daß ich in beiden Rücksichten die Prose unsers Büffon den schönsten Versen des Dichters vorziehe. Vergleichen Sie nur die Stelle, wo jener von den Schrecknissen der Natur spricht, mit dem Voltairischen Gedichte über das Erdbeben von Lissabon. Wer von beiden hat hier das Grausen der menschlichen Seele bei solchen Vorfällen am besten geschildert?« – Indem wurde mir der Flügel einer Poularde mit Trüffeln gebracht. Der Duft davon reizte meine Zunge; aber ich ließ sie unbefriedigt, um nur endlich der ihrigen Ruhe zu verschaffen. Es gelang mir vortrefflich. – »Solche Vergleichungen,« begann ich mit einer klugen Miene, »machen unstreitig ein großes Vergnügen; und derjenige unter den Schriftstellern, wie Madame sehr richtig bemerken, ist gewiß der größere, der es am besten versteht, durch die Magie der Sprache unsere gesunkenen Empfindungen auf ihre erste Höhe zu treiben, und sie uns gleichsam, wie auf Noten gesetzt, zur Wiederholung des Spiels wiederzugeben. Wenn Büffon zum Beispiele denselben Schauer in Ihrem Herzen zu erregen weiß, den Ihnen diese schreckliche Naturbegebenheit zu der Zeit verursachte, da sie vorging, so ...« – »Welche Naturbegebenheit?« unterbrach sie mich hastig. – »Des Erdbebens von Lissabon,« antwortete ich ganz unbefangen; und ohne mir eine Sylbe darauf zu erwiedern, drehte sie sich nach der andern Seite. – »Ich meinte ...« rief ich ihr nach; aber sie that nicht als ob sie mich hörte, und ich verlor alle Hoffnung, daß sie mir diesen groben chronologischen Irrthum so bald vergeben würde.

Ich war so verblüfft, daß eine Weile verging, ehe ich nur daran dachte, daß ich auch zur linken Hand eine Nachbarin habe. Die gelehrte Vielsprecherin hatte allein Schuld, daß ich nicht einmal wußte, wie sie aussah. Ich erfuhr es nur zu bald. Drei brillantene Astern strahlten mir auf den ersten Blick nach ihr gerade in die Augen, blendeten mich aber lange nicht so, als der junge wallende Busen, den sie verzierten. Wäre ich bei Sinnen gewesen, so würde mich dieser Anblick wenig geirrt haben. Aber,[277] Gott mag wissen, wie es zuging! dachte ich mir die Ruhe, die ein Mann seinen Augen auf diese Höhen erlaubt, noch alltäglicher, als die Prüfungen der Hand, die Bayle, unter der Benennung quotidianae incursionis, sogar dem frommen Abadie Schuld giebt, und übertrieb ich meine Sittsamkeit, um nur nicht alltäglich zu scheinen – genug, ich kehrte betroffener um, als ein Hase vor dem Schützen, und blickte auf den Tisch mit einer Verlegenheit, die in der klugen Wendung, die sie einschlug, um sich zu verstecken, erst dadurch recht ans Licht kam. Spielend mit meinem blanken Messer, bemerkte ich das unselige London – ich wollte es wäre Constantinopel gewesen – auf der Klinge, und ohne ein Auge davon zu verwenden, fing ich nun an meine reizende Nachbarin, seitwärts, mit einer ganz neuen Lobrede auf den Englischen Stahl zu unterhalten. Noch hatte ich sie nicht zur Hälfte hervor gestottert, so mischte sich ein Maltheser Ritter darein, der auf der andern Seite neben ihr saß. – »Es kann wohl nichts in der Welt,« sagte er, »dem Englischen Stahl so sehr zur Ehre gereichen, als der Uebergang von einem solchen Bouquet, an einem solchen Platze, zu ihm.« – Was denkst Du wohl, wie sich unsere gemeinschaftliche Nachbarin dabei benahm? Sie schien sein Epigramm nicht zu hören, und antwortete nur meinen schlichten Bemerkungen. Dafür thaten jetzt meine Blicke ihr möglichstes, um ihre Schüchternheit wieder gut zu machen. Aber es währte nicht lange, so verdarb ich mein Spiel aufs neue. Ich hörte Saint-Sauveurs Stimme, sah mich nach ihm um, fand ihn an der Seite einer jungen Dame, und: – »Ach wer ist denn,« stürzte mir die Frage heraus – »dieser Engel von Mädchen, dieß ungeschminkte edle Gesichtchen zur Rechten des Brigadiers?« – Sie blickte hin, – »Die Tochter vom Hause,« antwortete sie gleichgültig, und legte mir geschwind überzuckerte Kastanien vor, um mir, glaube ich, das Maul zu stopfen.

Während ich noch daran kaute, trug man das seltne Gericht auf, das ich Dir schon angekündigt habe: eine Schüssel mit Dattelmuscheln. Diese werden – was Du vielleicht bei Deinen geringen conchyliologischen Kenntnissen nicht wissen wirst – aus großen, dem Zugang aller Elemente verschlossenen Steinen geschlagen, und[278] dienen, wie die Reichsritterschaft dem Kaiser, bei vorfallenden Festen dem hiesigen Intendanten zu einer immediaten Beihülfe. Der heutige Fang mußte indeß nicht so ergiebig gewesen seyn, als das Bedürfniß seiner Tafel verlangte. Er konnte dieses Staatsessen nur unter seine vorzüglichsten, das heißt, wie bekannt, nur unter seine weiblichen Gäste vertheilen. Ich ging so leer aus als die andern Herren. Glücklich jedoch für die Kenntnisse, die ich mir auf Reisen auch durch meinen Gaum zu erwerben suche, daß der Groll einer Französin gegen einen Deutschen nie über zwei Schüsseln hinaus reicht. Ich gewann dießmal augenscheinlich dabei. Meine Nachbarinnen von beiden Seiten entzogen sich auf das gutmüthigste die Hälfte des ihnen zugefallenen Antheils, so daß ich noch einmal so viel von diesen Leckerbissen bekam, als jede behielt – der gewöhnliche Fall eines Mannes zwischen zwei Weibern. Die Anbeterin von Büffon ließ sich sogar herab, mir nicht nur die Geschichte dieses merkwürdigen Schalthiers, so weit als sie bekannt ist, und das, um mich ihres Ausdrucks zu bedienen, weder der See noch dem Lande angehöre, wortreich zu beschreiben; sondern sie zeichnete mir auf eine Visitenkarte, die sie mit einem Bleistifte aus ihrem Kalender zog, gerade unter ihrem gräflichen Namen und Wappen, die Figur flüchtig hin, die diese Muschel ihrer Eremitenwohnung eindrückt. Sie zeichnete nicht übel: doch war es immer, besonders auf so einer Karte, zum Verständnisse der Zeichnung sehr gut, daß ich nur auf meinen Teller sehen durfte, um nicht ungewiß über das Naturprodukt zu seyn, von dessen Abdruck die Rede war. Diesem kleinen wohlschmeckenden Insekte hatte ich es sonach einzig zu verdanken, daß unser durch das Erdbeben zerrüttetes Gespräch aufs neue wieder in Gang kam, und sich auch bis zu Ende der Tafel darin erhielt.

Den Vorzug, lieber Eduard, muß man doch Französischen Gesellschaften vor den unsrigen zugestehen, daß in ihnen der Langenweile kein Raum, und den Mitgliedern keine Zeit gelassen wird, über den Werth oder die mögliche Auslegung jedes Worts, das gesprochen wird, nachzudenken. Bei dem Ueberfluß von Beiträgen, die zur Beförderung einer vergnügten Unterhaltung eingehen, wird[279] es nicht geachtet, wenn auch einer davon nicht so ausgesucht und vollwichtig ist, als der andere.

Eine Stunde nach der Mahlzeit, die fröhlich verplaudert wurde, setzte sich ein Theil der Anwesenden an den Spieltisch; der jüngere Zirkel, dem auch ich mich anschloß, vereinigte sich zu einem Spaziergange nach dem königlichen Garten. Jeder Herr bot einer seiner Nachbarinnen den Arm; da aber die Liebhaberin der Natur die Karten meiner Unterhaltung im Mondscheine vorzog, und der schöne Busen, von dem die Dame, ehe sie ging, die Astern absteckte, dem Maltheserritter zuwallte, so würde ich allein mitgeschlendert seyn, hätte nicht ein glückliches Ohngefähr mir das große Loos verschafft, die Tochter vom Hause zu führen. Indem wir nämlich die Treppe herab stiegen, kam ein Officier der Marine herauf, und hinter ihm ein Kommando, worunter ich auch den lahmen Gefreiten erblickte. Er zeigte mir im Vorbeigehen das wiedergefundene Einlaßbillet, und ich hätte nicht umhin gekonnt ihm ein Wort darüber zu sagen, auf die Gefahr zehn tausend von ihm anzuhören, hätte mir nicht indem der Brigadier die Hand des schönen Kindes, das er führte, in den Arm gelegt, um dem Seeofficier, der ihn bei Seite winkte, zu folgen. Sie mußten etwas wichtiges mit einander abzuthun haben, denn mein Freund ließ sich den ganzen Abend nicht wieder sehen, und zum erstenmale vermißte ich ihn nicht. Die Gesellschaft, sobald sie in dem weitläuftigen Garten anlangte, vertheilte sich in einzelnen Gruppen zu zwei oder mehrern Personen, die sich trennten, sich vertauschten, und wieder zusammen trafen, wie es der augenblicklichen Laune einer jeden gemäß war.

Ich wüßte nicht, was ich von meiner Organisation denken sollte, wenn das Zwanglose, Frohe und für mich ganz Neue dieses späten Spaziergangs seinen Zauber auf mein Herz verfehlt hätte. Es mag mir auch sonst noch so gewöhnlich seyn, meine Empfindungen aus dem verlaufenen Tage am Schlusse desselben wiederzukäuen; dießmal schien es, das gegenwärtige Vergnügen würde eine solche Grille nicht aufkommen lassen. Mein Wohlbehagen verstattete mir zur Zeit nicht, weder an meinen verbluteten Bruder, noch an meine weitläuftigern Verwandten auf den Galeeren zu[280] denken. Die Farben, die mir die Abendröthe, die mir der Mond aufmischte, setzten alle andere Bilder meiner Seele in Schatten. Ach der herrliche Mond! In diesen kostbaren nächtlichen Stunden, wo sein Abglanz mir jeden auch noch so feinen Zug in dem lieblichen, reinen, unschuldigen Gesichtchen meiner Begleiterin vorführte, mußte ich ihn wohl noch lieber gewinnen, als gestern, wo er zwar ein großes, herrliches, aber doch immer nur lebloses Naturgemälde beschien.

Ich habe Dir zwar schon vorhin die Vorzüge des Engels an meinem Arme mit einzelnen, dem Lobe geheiligten Worten angedeutet. Aber ich weiß schon, wie es mit solchen Worten geht. So gewählt sie auch seyn mögen, gleiten sie doch über das Gehirn, wie die glänzenden Kügelchen des Quecksilbers über eine Glastafel, hinweg. Man muß sie erst auflösen und zu einer Unterlage verarbeiten, wenn man den Strahl, der uns blendet, auch in die Augen eines andern zu spielen gedenkt. Leider hat mein in Asche verwandeltes Tagebuch, an dem in dieser Rücksicht auch nichts verloren ist, bis zu der heutigen Mitternachtsstunde nur Schilderungen aus der weiblichen Welt sammeln können, die, wenn ich das Dosenstück einer gewissen Margot ausnehme, das ich Dir wohl gegönnt hätte, nicht werth waren das Kabinet eines ächten Liebhabers des schönen Geschlechts zu verzieren. Es thut mir daher recht wohl, daß ich einmal auf ein Profil gestoßen bin, das selbst neben einer heiligen Familie von Raphael kein unebenes Seitenstück abgeben würde, hätte mir nur das Original lange genug sitzen können, um mehr als einen Schattenriß von ihm zu entwerfen. Diese unvollkommene Darstellung wird indeß immer noch unendlich schätzbarer seyn, als die ausgemaltesten Stücke meiner vorigen Sammlung. Es war schon ein Zug seltener Gutmüthigkeit, daß die junge Schöne ohne Abnahme an Freundlichkeit ihre Hand aus dem Arme eines bekannten Freundes in den meinigen legte; daß sie aber auch nachher, als ihr im Garten die Wahl eines andern Gesellschafters frei stand, sich mit einem Fremden begnügte, der weder über die Tagesgeschichte der Stadt mit ihr schwatzen, noch in der ihm ungewohnten Sprache durch leichte[281] Scherze ihr Ohr reizen konnte, muß ich ihr schon höher anrechnen. Doch daß sie bei ihren sechzehn Jahren sich die Zeit nahm, ein Herz, das in der Nähe des ihrigen schlug, zu behorchen, daß sie verstand den verdeckten Werth desselben zu entwickeln, seine flatternden Faden aufzufangen, mit der zartesten Fühlbarkeit ihren Gehalt zu unterscheiden, und nur die bessern dem Gewebe ihrer schönen Seele anzuknüpfen, das, Eduard, war mir vollends eine so ungewöhnliche Erscheinung, als ich je eine erlebt habe.

Während mir an ihrer Seite so wohl war, brachte mich meine Erinnerung – zum Glück nur ein einzigesmal – auf meine Nachbarinnen von diesem Mittag. Es war ein krauser Gedanke. Sie hätten mir wohl zu keiner Zeit mehr zu ihrem Nachtheile einfallen können. Was wäre aus mir und meinem herrlichen Abend geworden, wenn es meiner glücklichen Albernheit nicht gelungen wäre, beide von mir zu verscheuchen. – Was hätte ich anfangen wollen, wenn die eine so viel Geschmack an meiner Lehrbegierde, die andere an meinen sittsamen Augen gewonnen, diese zu einem empfindsamen Spaziergange mit mir ihre Astern abgesteckt, jene mir noch etwas über den Büffonschen Grundsatz zu sagen gehabt, und mich – Gott erbarme sich – zu ihrem Begleiter gewählt hätte? Dieses Bewußtseyn entgangener Gefahr, wie mußte es nicht den Genuß meines gegenwärtigen Glücks erhöhen! Meine Seele hing an den Lippen dieses Kindes, das in dem lautern Ergusse seiner Empfindungen mir tausendmal beredter vorkam, als die gräfliche Virtuosin in dem ungereinigten Ausflusse ihrer Gelehrsamkeit. Wenn ich Dir aber nun den Gang der Gespräche, die mich so anzogen, vorzeichnen, aus ihrem gefälligen Inhalte die Schönheit des Herzens, dem sie entflossen, an das Licht stellen will – ja, Freund, da entschlüpft mir die Feder. Solche feine Schattirungen der Rede sind ihr so unerreichbar, als nimmermehr dem Pinsel jenes ätherische Farbenspiel seyn kann, das unter unzähligen Abwechselungen dem anbrechenden Morgen voran geht. So viel kann ich Dir nur sagen, daß, nachdem ich die kleine Zauberin einige Stunden in der Orangenallee auf- und abgeführt hatte, ich mich unmerklich in eine Stimmung versetzt sah, die, der[282] ihrigen nachgebildet, sehr verschieden von der fröhlichen Laune war, deren ich mich vorhin rühmte. Ihre Anfangs muntern Töne gingen, ganz ungleich dem Schlage der Nachtigall, die mit einem Adagio anfängt, mit einem Allegro endigt, nach und nach in immer rührendere Noten, immer schmelzendern Flötenlaut über, und hoben und trieben mein sympathetisches Gefühl bis zum Bedürfnisse der Thränen. Ich wollte ihr von unserm Könige erzählen; ich konnte nicht. Ich versuchte von meinem Vaterlande zu sprechen; aber die Stimme versagte mir. Mir war, als ob ich in der Ferne Klagen der Unschuld, über den dunkelhellen Bergen her den Ruf der Ewigkeit hörte. Die trostarmen Vergessenen auf der Galeere erschienen mir in allem ihrem Jammer, und ich konnte der Aufforderung nicht länger widerstehen, dem Engel, der mir zuhörte, die Seelenleiden meines heutigen Morgens an das Herz zu legen. Wir hatten uns kurz vorher einem Blumenbeete gegenüber gesetzt, wohin sie einem Gärtnermädchen von ihrem Alter, das mit einem Handkörbchen dahin ging, gefolgt war. Sie nickte ihr schon im Vorbeigehen freundlich und bekannt zu, und bestimmte nun durch ihr Gutachten die Auswahl der Blumen, die jene einsammelte. Sobald mein Gespräch aber ihr Mitleiden erreichte, theilte sie nicht weiter ihre Aufmerksamkeit zwischen uns beiden. Sie verließ den Platz, als ob er zu buntfarbig für den Ernst ihrer jetzigen Empfindungen wäre, und führte mich, ohne ein Wort zu sagen, um keins der meinigen zu verlieren, nach einem dunkeln Bogengange, an den eine kleine versteckte Laube stieß. Hier – wo der verschwiegene Mond nur durch die Blätter über dem grünen Rasensitze zitterte, auf den wir uns niederließen – in dieser nächtlichen Stille – allen Augen, außer jenem, verborgen, das über uns schwebte – hier, an der Seite einer weichen weiblichen Seele, denke selbst wie viel meine Erzählung unter diesen Umständen gewinnen mußte. Das liebe Kind beehrte sie mit dem reinsten Beifall, und, »o mein armer Vater!« schluchzte sie am Ende derselben, »welch einer Haushaltung des Kummers bist du vorgesetzt!« – »Und welchen Wundern der Tugend zugleich!« fiel ich ihr ins Wort, und theilte ihr nun auch, durch ihr Mitgefühl noch mehr befeuert, die Trauergeschichte des[283] frommen Kapuziners in Ausdrücken mit, die vielleicht nie über meine Lippen wärmer gegangen sind. Durch Hülfe eines hellen Mondblicks sah ich, wie unter ihren blauen, gen Himmel erhobenen Augen ein stilles Gebet auf ihrem rosigen Munde schwebte. Ich glaubte eine Heilige in ihrer Verklärung zu sehen, und schwieg. Meine Brust war gepreßt. Sie hörte mich seufzen, drückte mir die Hand, und der Strudel hoher Empfindungen schien mich in eine andere Welt zu versetzen.

Indem tönte die Gebetglocke eines nahen Nonnenkosters in unsere Stille herüber. »Ach! ist es schon so spät?« fuhr sie jetzt von der Rasenbank auf, und eilte durch den finstern Bogengang dem bunten Lustbeete zu, von welchem wir hergekommen waren. Ich folgte ihr, doch nur von weitem, nach, wie sie zu erwarten schien, sah, wie sie sich neben das Körbchen setzte, das die junge Gärtnerin indeß mit Hyazinthen, Maiblumen und Granatenblüthen gefüllt und hingestellt hatte, und sah, als ich näher herbei kam, wie sie mit thränendem Auge eine einzelne geruchlose, eine Passionsblume, herausnahm, an ihre Brust steckte, die Hand sinken ließ und sich in tiefes Nachdenken verlor. Ich lehnte mich zitternd an einen Orangenbaum in einer mäßigen Entfernung von ihrem Sitze. Drei feierliche Pulse der Klosterglocke weckten sie wie aus dem Schlafe. Sie sah sich erschrocken und noch erschrockner um, bis das Mädchen, das sie erwartete, aus dem Gewächshause gelaufen kam. – »Geschwind Marie,« rief sie, und trug ihr das Körbchen einige Schritte entgegen, »noch ist die Pfortenthüre nicht verriegelt, aber – eile.« Indem ward sie meiner gewahr, kam auf mich zu, und da ihr meine großen Augen nur zu deutlich verriethen, was in mir vorging, war dieß dem lieben Kinde schon hinreichend, meine Neugier zu befriedigen.

»Meine Unruhe über das Körbchen ist Ihnen gewiß aufgefallen. – Es ist ein festgesetzter Tribut, den ich einer Freundin im Kloster übersende, so oft ich diesen Garten besuche. Sie ging hier gern und öfters mit mir spazieren, liebte das erste Grün des Frühlings, liebte die Blumen so sehr, und kann jetzt hinter den hohen Mauern nicht einmal mit einem Blicke das geringste Gräschen[284] erreichen. Ueber Ihre bewegliche Geschichte, mein Herr, hätte ich mich beinahe mit meinem Geschenke verspätet – ich würde mir's nicht verziehen haben. Ich kann mir die Freude der guten Agathe so lebhaft denken, wenn sie aus ihrem Betstuhle in ihre Zelle zurück kommt und meine Blumen findet, die ihr die Versicherung geben, daß ich in dem Garten bin, mich nach ihr sehne, und ihr so lange in der Nähe bleibe, bis sich keine Glocke mehr hören läßt. Das habe ich dem guten Kinde bei unsrer letzten Umarmung versprochen. In drei Wochen geht ihr Probejahr zu Ende – o wie zittre ich für sie! Denn ach! mein Herr, sie wählt das Kloster – ein schreckliches Unglück, wen es trifft! – nicht aus Neigung, sondern aus Noth, weil sie keine Verwandte, kein Vermögen, und in der weiten Welt nur an mir eine Freundin hat, die ihr nicht helfen kann! Bald muß sie dem Andenken auch dieser feierlich entsagen; Gott wolle ihr beistehen, daß sie es willig thue!« Ein Thautropfen, der unter diesen Klagen der Freundschaft aus den Augen der schönen Beterin in den Kelch der Trauerblume an ihrem Busen herab fiel, erschütterte wie ein elektrischer Schlag meine Nerven. – »Ach! wenn meine Erzählung,« konnte ich kaum in abgebrochenen Worten heraus bringen, »Ihr edles, theilnehmendes Herz gerührt hat, o wie haben Sie mir es wieder vergolten!« – Wir wußten beide vor Wehmuth nicht wieder zur Sprache zu kommen, bis das dumpfe Geläut gänzlich verhallt war. Da erst kehrte ihre Fassung zurück; aber die meine blieb aus. – »Ich habe Sie, mein Herr,« fing sie gelassener an, »bis in die Nacht aufgehalten, ohne daran zu denken, wie unbekannt mit meinem Kummer und wie fremd Sie mir sind. Aber eben darum waren Sie mir in dieser Feierstunde meiner Betrübniß kein überlästiger Zeuge. Lassen Sie uns jetzt gehen, mein Herr. Die Gesellschaft ist längst aus einander. Am Ende des Gartens erwartet mich, wie allemal, meine Gouvernante.« – In stiller, andächtiger Ehrfurcht folgte ich nun diesem wundervollen Geschöpfe, das unter der Hülle hoher weiblicher Schönheit einen Geist besitzt, der mir so überirdisch vorkam, als müsse er schon vor ihrer Geburt in den Reihen der Seligen geglänzt haben. Halte dieß nicht für eine schwülstige[285] Phrase, Eduard; denn wahrlich ich wüßte Dir die Empfindungen meiner Seele nicht natürlicher und verständlicher auszudrücken.

Im Fortgehen kam uns in der Allee die ältliche Dame entgegen, die weniger das Ansehen hatte, Aufseherin des Fräuleins, als ihre ältere Freundin zu seyn. Sie empfing ihre holde Vertraute, die mir die letzten Stunden des nun entflohenen Tages zu der unvergeßlichsten Epoche meines Lebens erhoben hat, sie empfing sie mit schweigender, aber darum nicht weniger herzlichen Umarmung, in der gewiß schon alles lag, was zu ihrem gegenseitigen Verständnisse gehörte und keiner Worte bedurfte. Nur mir hatte sie etwas zu sagen – aber was? Der Brigadier sei auf einen Augenblick da gewesen, und habe ihr, weil er nicht Zeit gehabt mich aufzusuchen, das Schnupftuch zugestellt, das mir diesen Morgen entkommen wäre. – – Wenn Du Dir einen Mann vorstellst, der unter bänglichem Gefühle des Lebens sich über den Erdball erhebt, seine Blicke in die Tiefen der Ewigkeit senkt, und an Gott und Unsterblichkeit sauget, und dem in diesen Augenblicken ein Weib in das Ohr schreit: Mein Herr, Sie haben ein Loch in dem Strumpfe – so kannst Du ungefähr errathen, wie mir in der kostbaren Minute meiner vielleicht ewigen Trennung von dem erhabenen Kinde eine so gleichgültige Nachricht und der Anblick meines einfältigen, längst vergessenen Schnupftuchs gefallen mußte. Ich steckte es mit weit mehr Aergerniß ein, als ich bei seinem Verlust hatte, machte der jüngern Dame im Geist und in der Wahrheit, der ältern hingegen bloß nach dem gewöhnlichen Schnitte, meine Verbeugung, und ging nun, die Arme in einander geschlagen, langsamen Schritts meine Straße.


Das wilde Lärmen, in welchem ich den goldenen Anker wiederfand, war mir nach meiner jetzigen Stimmung äußerst zuwider. Den Schlaf zwar konnte es mir nicht rauben – der floh meine Augenlider ohnehin – aber es mußte mich doch, wenn es anhielt, nicht wenig in dem ruhigen Ueberblicke meines verlebten Tages, und, worauf ich mich besonders freute, in der Wiederholung der[286] vielen süßen Empfindungen stören, die ich aus der Geistesüberströmung meiner vortrefflichen Gesellschafterin habsüchtig nur zusammen getragen, und gleichsam in Masse und mit der Hoffnung nach Hause gebracht hatte, sie dort mit aller Muße zu ordnen und zu zergliedern. Der Wirth, als er mir vorleuchtete, gab mir, als Ursache des Nachtgetümmels in seinem Gasthofe, die Hinrichtung eines Delinquenten an. – »Bei solchen Gelegenheiten,« setzte er hinzu, »gewinnt unser eins am meisten; denn kein Schauspiel macht und erhält das Volk munterer und durstiger als dieses.« – »Der rohe Mensch ohne Kultur,« warf ich zur Antwort hin, »giebt viele dergleichen Räthsel zu lösen.« – »Thun Sie dem kultivirten Menschen nicht Unrecht,« verhöhnte mich der Wirth; »einer ist wohl so unerklärbar als der andere: doch, mein Beruf ist es heute nicht zu philosophiren, sondern meinen Zechgästen Wein aufzutragen.« – Er wollte nun gehen; ich vertrat ihm die Thür. – »Nur noch ein Wort, lieber Mann! Können Sie mir wohl Bescheid geben ...« – »O ja,« unterbrach er mich, »vollkommen.« – »Wissen Sie doch noch nicht, worüber,« fuhr ich ihn an. – »Vermuthlich doch,« versetzte er, »über den Tod des Gehenkten; denn heute wird nur davon gesprochen.« – »Nichts weniger,« gab ich zur Antwort; »was geht mich der Gehenkte an! Die Rede ist von der liebenswürdigen Tochter des Herrn Intendanten, deren Bekanntschaft ich heute gemacht habe.« – »Läuft ziemlich auf Eins hinaus,« kauderwälschte der betrunkene Kerl. »Nächster Tage wird Fräulein Klärchen« – der Name gab mir einen Stich durch's Herz – »auch nicht viel besser als exekutirt seyn.« – »Herr!« polterte ich ihn an, »Sie sind nicht gescheidt, oder haben mich nicht verstanden. Um mich kurz zu fassen, wollte ich nur fragen, ob Fräulein Klärchen das einzige Kind des Herrn von Saintaignan sei?« – »Seine einzige Tochter ist sie,« – antwortete er mir jetzt besonnener. »Doch vergeben Sie, ich will nur einen Blick auf meine untere Wirthschaft werfen, und bin sogleich wieder zu Ihren Diensten.« Mit dieser Versicherung flog er, vor einer Stunde, zur Stube hinaus, ohne sich weiter um mich zu bekümmern. –
[287]

Ach, mein Eduard! bis hierher hatte ich geschrieben, und da ich Dir nichts mehr zu erzählen hatte, war ich eben im Begriffe zu Bette zu gehen, als der Wirth sachte die Thüre öffnete, und, da er mich noch aufsah, herein trat. – »Endlich,« hustete er mir entgegen, »ist es ruhig in meinem Hause. Mein Tagewerk ist vollbracht, bis auf die Erklärung, die ich Ihnen von meiner vorigen Rede noch schuldig blieb. Sie erkundigten Sich nach Fräulein Klärchen. Das schöne Mädchen scheint Eindruck auf Sie gemacht zu haben. Sie sind nicht der erste Fremde, dem das widerfährt. Exekutirt – sagte ich? Nun das war nur scherzweise. Ich würde von der ganzen Sache nichts wissen: aber die Dame, die Sie bei ihr werden gesehn haben, und ihre Gouvernante von Jugend auf, ist meiner Frau Schwester; durch sie erfahren wir alles. Nächster Tags, sagte ich? Hören Sie nun wie ichs meine. Künftigen Sonntag, wird seyn der vier und zwanzigste, feiert Fräulein Klärchen ihren sechzehnten Geburtstag; aber wie? Sie setzt sich ganz früh mit meiner Schwägerin in einen zugemachten Wagen, in Begleitung eines Geistlichen, schneeweiß gekleidet, wie ein armer Sünder, steigt nicht weit von Marseille bei den Ursulinerinnen aus, läßt sich ihr langes Haar abschneiden, tritt ihr Probejahr an, und wird in einer Zelle begraben. Der Zirkel ihrer Freunde und Bekannten mit aller seiner Kultur trinkt dann, so gut als heute meine Gäste, ein Glas mehr als gewöhnlich. Sieht das nicht ganz wie eine Exekution aus, mein Herr?« – »Um Gottes willen,« brach ich jetzt los, »um Jesus Barmherzigkeit willen, Herr Wirth, besinnen Sie Sich. Ich spreche von Fräulein von Saintaignan – von der Tochter des hiesigen Herrn Intendanten.« – »Und spreche ich denn von einer andern?« erwiederte er. – »Dieses herrliche Geschöpf, sagen Sie, würde Nonne?« – »Ganz gewiß, mein Herr! Wundert Sie das?« – »Aber, bester Mann,« trat ich ihm jetzt mit gefalteten Händen näher, »wäre es denn möglich, daß ein so verständiger Vater seine einzige Tochter, einen solchen Engel..« – »Vermuthlich damit sie es bleiben soll,« fiel mir der Wirth in die Rede, »bestimmte sie – nicht ihr Herr Vater – zum Kloster – da thun Sie ihm Unrecht – sondern die Mutter that es vor[288] zehn Jahren auf ihrem Sterbebette.« – »Aber was, ich beschwöre Sie, was brachte denn diese aberwitzige Frau auf diesen barbarischen Einfall?« – »Ich will nicht mit Ihnen um Worte streiten,« antwortete der Wirth; »aber wer kann das genau wissen?« »Was ich darüber habe schwatzen hören, will ich Ihnen mittheilen. Der Beichtvater, erzählen einige, habe es der Sterbenden zur Bedingung ihrer Seligkeit gemacht. Dawider wäre nichts einzuwenden. Es ist die Schuldigkeit dieser Herren; aber, ich glaube es nicht einmal. Meine Schwägerin auch nicht. Diese war bei der seligen Marquise bis zu ihrem Verscheiden, und hatte Fräulein Klärchen auf dem Schooße. Auf der andern Seite vor dem Bette knieete der Sohn, der um zehn Jahre älter als die Tochter, natürlich der Mutter auch zehnmal lieber war. Und in diesen bangen Minuten, wie sich meine Schwägerin ausdrückt, wurde das Schicksal der beiden Kinder für die Zukunft entschieden. Die Dame machte, was diesen Punkt betrifft, den Dominikaner, der sie einsegnete, durch eine förmliche Urkunde zum Exekutor – da haben Sie's ja, – ihres letzten Willens, dessen Vollstreckung, wie gesagt, nächsten Sonntag seinen Anfang nimmt, und in Jahresfrist der Schwester den Schleier, dem Bruder die ganze mütterliche Erbschaft zuspricht. Er wird dadurch einer der reichsten Herren im Lande, und er verdient es. Ein wohlgebildeter, braver Officier, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt.« – »Wenn Sie wahr sprächen, Herr Wirth,« schluchzte ich, »würde er die Erbschaft nicht annehmen.« – »Er sollte sie nicht annehmen?« schrie der Kerl, »sollte die schönen Güter in der Normandie, sollte die Plantagen in Saint-Domingo nicht annehmen? Ist denn der letzte Wille einer Mutter nicht unumstößlich? Wird denn das Fräulein nicht Zeitlebens gut aufgehoben? und war ihr denn die Wahl des Klosters nicht frei gestellt?« – »Der letzte Unsinn einer schwachköpfigen, sterbenden Schwärmerin,« beantwortete ich mit Bitterkeit seine gehäuften dummen Fragen, »die niemanden darüber zu Rathe zieht als einen Dominikaner, kann weder Kraft bei ihren Erben, noch Gültigkeit vor Gerichte haben.« – »Um Vergebung,« wendete der Wirth dagegen ein, »Frau von Saintaignan war nichts weniger[289] als eine schwachköpfige, war vielmehr eine sehr kluge, rechtschaffene und empfindsame Dame, und das Vermögen, über das sie Verfügung traf, kam von ihr her. Ich sehe auch bei Gott nichts unkluges und nicht halb so viel unbilliges in so einem Testamente, als bei einem Majorate; denn jenes erhält die Familie nicht allein auf Erden, sondern auch im Himmel bei Ansehn.« – »Gehen Sie, Herr Wirth,« unterbrach ich ihn, »Sie haben vorhin sehr richtig über Ihren Beruf geurtheilt; Philosophie liegt wirklich ganz außer Ihrer Sphäre. Gehen Sie und schaffen Sie mir ein Glas Limonade.« – Er ging; doch ehe ich mich noch im geringsten von meinem Schrecken erholt hatte, stand er mit seiner Bouteille und seinem Geschwätze wieder vor mir. – »Da Sie doch,« sagte er, indem er mir einschenkte, »eine Flasche Limonade nöthig haben, um über das Schicksal Fräulein Klärchens Ihr Blut zu beruhigen, wie viel werden Sie nicht brauchen, wenn Sie erst die Geschichte des Bruders erfahren!« – »Ich mag sie gar nicht wissen, Herr Wirth. Was so eine Seele angeht, ist mir ganz gleichgültig.« – »Das wird es Ihnen nicht bleiben; lassen Sie mich nur erst erzählen. Daß Fräulein von Saintaignan den Schleier annimmt, gereicht keinem Menschen zum Nachtheile, so wenig als ihr selbst. Ihr Herz ist noch nicht vergeben, und das Kloster befreit sie von allen Nachstellungen. Wenn einem Manne aber, wie dem jungen Marquis, des Heilands wegen eine Braut untreu wird, so ist dieß wohl ein seltneres Unglück, und unserm jungen Herrn muß es noch viel schmerzhafter fallen, weil sein Schwesterchen vielleicht noch mehr Antheil daran hat als der Heiland.« – Jetzt erst schenkte ich seiner Erzählung meine ganze Aufmerksamkeit. – »Die junge schöne Prinzessin von Montbasson,« fuhr er fort, »wurde hier unter der Aufsicht meiner Schwägerin mit Fräulein Klärchen zugleich erzogen. Erstere war von jeher dem Bruder bestimmt; dessen ungeachtet gewannen die beiden jungen Leute einander lieb, die Zeit verging, der Tag ihrer Vermählung war schon festgesetzt, und der Bräutigam wurde nächstens von der Armee erwartet. Dieser Zwischenraum, so kurz er war, warf alles über den Haufen. Die Freundschaft zur Schwester stritt schon lange in dem Herzen der[290] Prinzessin mit der Liebe zum Bruder, und, was wohl noch nie erhört ist, sie siegte. Die schöne Verlobte entschloß sich kurz, schrieb ihrem Bräutigam einen bethränten Abschiedsbrief, flüchtete, ehe sich meine Schwägerin dessen versah, in das Kloster, das ihre Gespielin gewählt hat, und erwartet dort nun schon seit acht Wochen die baldige Wiedervereinigung mit ihr auf Leben und Tod. Dergleichen heldenmüthige Entschließungen, mein Herr, dergleichen Freundschaft, Treue und Hingebung ist nur in unserer Religion möglich. Wenn auch sonst nichts ihre Göttlichkeit bewiese, solche Beispiele würden es allein thun. Der junge Herr, sagt man, soll untröstlich seyn. Das ist begreiflich. Man wird freilich eine Schwester gelassener einkleiden sehen, von der man erbt, als eine geliebte Braut, die alles mitnimmt und dem Himmel aufhebt, was wir schon als uns zugehörig betrachteten, und das unserer Phantasie von unersetzlichem Werthe scheint.« – »Wer hart genug ist,« antwortete ich, »eine solche Schwester dem Moloch – der Mönchswuth zu opfern, verdient statt der Schmeichelei eines liebenden Auges die Umarmungen der Furien. Gott tröste und segne nur die beiden trefflichen Mädchen – was kümmert mich der unnatürliche Bruder!«

Der Wirth schlich während meines heftigen Ausfalls gähnend davon. Ich schlüpfte in meine Kammer – aber woher sollte mir der Schlaf kommen? – stürzte wieder heraus, setzte mich an meinen Schreibtisch, und sitze noch da, fluche der geistlichen Verrätherei an der Menschheit, und zanke zur Abwechselung mit dem Schicksale. Ich kann mich nicht trösten über den Verlust, den Welt, Tugend und Freude durch die Mordthat an diesem unvergleichlichen Mädchen erleidet. Jetzt erst begreife ich ihre Erschütterung, als die Klosterglocken zum nächtlichen Gebete läuteten; jetzt erst fühle ich das ganze Gewicht der stillen Thräne, die ihr über die Wange in den Kelch der Passionsblume rollte; erst jetzt wird mir es klar, warum ihre Bewunderung des ausduldenden Kapuziners sich in Beben und Gebet verlor, warum ihr Auge so gerührt über den Blumen hing, die sie ihrer eingekerkerten Agathe darbrachte, und ich verstehe die Wehklage über ihr Unvermögen her verwaisten Armen zu helfen.[291]

O du, deren melodisch tönende Trauerstimme mir das Herz jetzt schneidend durchdringt, wohl hattest du Recht: ich entdecke mit Stolz den Sinn deiner Rede, daß ich zwar unbekannt mit deinem Kummer, doch des Mitgenusses deiner Schwermuth nicht ganz unwürdig sei. Hält mich auch der Nachschwung in die lichtvolle Höhe der Unsterblichkeit, aus der du, gleich einem Engel, auf diesen Todtenhügel herab schimmerst, immer noch fern von dir, so giebt mir doch schon der mindeste Nebenstrahl deines heutigen Abglanzes alle Ehre und Würde wieder, die ich in der niedern Sphäre des Leichtsinns und der Wollust verlor. – Dich, die jeden Kreis erheitert, jeden geselligen Trieb veredelt, konnte ein Vater, der Lebensgenuß, Freuden und Feste liebt, zu der Einsamkeit eines Klosters verdammen? – eines Klosters? wo deine von ihm entsprossene und sorgsam gepflegte Jugendblüthe, bei den höchsten Ansprüchen auf Gefallen und Liebe, wo deine sanften Herzenserwartungen und jene geheimen Ahndungen mütterlichen Entzückens – einem Götzenbilde zum unnützen Weihrauch dienen, und die Keime zu den reichsten Ernten menschlichen Glücks in dem Darrofen einer Zelle dumpf werden und vertrocknen sollen? – Unglückliches Kind! Entferne dich, wie die Tugend vom Laster, von deinem abscheulichen Bruder, der die Stirn hat, das Verbrechen seiner Erbschaft mit dem letzten Willen einer in Wahnsinn sterbenden Mutter zu beschönigen. Entferne dich, noch ist es Zeit, von den arglistigen Lockungen der frömmelnden Sirenen, die dich in den Strudel ihrer Langenweile zu ziehen drohen. Erhalte deine holde Munterkeit der freien, mit dir verwebten Natur – fern von dem heiligen Schneckengang eines ungebrauchten strafbaren Lebens. Und entflöhest du als Bettlerin dem undankbaren Lande, dessen Zierde du bist, so würdest du doch die Sonne auf- und unter gehen, den Wald grünen, die Saatfelder wogen sehen, würdest die Lerchen singen, den Bach rieseln hören, und in dem großen Tempel Gottes eine redlich freiwillige Dienerin seiner ausspendenden Liebe seyn. –

Dreimal habe ich die niedergelegte Feder wieder erhoben, und meine Herzensangst durch das Adagio der Elegie zu besänftigen versucht; aber das Vorgefühl der unnennbaren Leiden, denen das[292] unbefangene Kind, zur Feier seines Geburtstags, träumend entgegen geht, foltert mich zu sehr, um meinen Schmerz täuschen zu können. – Muß sie denn hin, die arme Verlockte, wo schon so viele lebendig begraben wurden, die ihr an Schönheit, Tugend, und Frohsinn gleich waren: nun so stärke sie Gott bei dem Erwachen ihres Bewußtseyns! Er lasse sie vollen Ersatz in der Freundschaftsquelle der Unnachahmlichen finden, die dem ehelichen und mütterlichen Berufe freiwillig entsagt, um jeden Kelch mit ihrer Jugendgespielin zu trinken, und auf denselben Stufen, gleichen Schritts mit ihr, in die Region der Auserwählten zu steigen! Möge der Gedanke untrennbarer Vereinigung euch immer als ein lachender Genius zur Seite stehen und durch dieses kurze Leben begleiten, ihr göttlich verschwisterten Seelen! – Zwei Blumen – so denk' ich mir euch – zwei herrliche Blumen im Thale, umringt von unübersteiglichen Felsen, die, der Kenntniß der Menschen und ihrer Neugier ewig verborgen, ihr blühendes Daseyn in dem leeren Luftraume verdunsten – aber ein Engel des Himmels hat sie unter seiner Obhut, sonnet, pfleget und schmückt sie, und findet Wohlgefallen an ihrer Eintracht und Schönheit. – Wer kann sagen, daß sie Unrecht leiden? Wer kennt den Umfang ihrer Bestimmung? – An dieses tröstende Bild will ich mich halten und mein Hauptkissen damit polstern, und so oft ich murrend..


Gott! was ist mir begegnet! Es lag, Eduard – während der drei Stunden, die ich Dir vorjammerte, lag eine der schauderhaftesten Nachrichten auf meinem Pulte. Ich entdeckte sie, da ich mir eine Thräne abtrocknen wollte, die mir meine Trauer um das schöne, edle, duldende Kind entriß. Indem ich mein Schnupftuch entwickelte, fiel ein Brief heraus. Hier lies seinen Inhalt.

»So sehr ich auch für Ueberraschungen bin, lieber Wilhelm, so hätte ich derjenigen doch gern entbehrt, die du mir heute zu sehr ungelegener Zeit verschafft hast.« –

Was zum Henker, dachte ich bei mir selbst und legte meine flache Hand auf das Blatt, will der Marquis mit diesem spitzigen Eingange? Ich konnte es nicht errathen, und las fort. –[293]

»Ich würde mich über meinen verlornen Spaziergang kaum getröstet haben – das Glück, das dir ward, gehörte mir, du führtest Klärchen, und ich inzwischen mußte deine tollen Geschäfte bei ihrem Vater vertreten – wäre mir nicht zu einiger Entschädigung der Spaß geblieben, dich am Ende mit den Folgen deiner angenehmen Zerstreuung, die alle deine Schritte durch die Welt begleitet, selbst stärker noch zu überraschen als du mich.« –

Zur Sache, lieber Marquis, rief ich voller Ungeduld. Ach, ich erfuhr sie nur zu geschwind!

»Dein verlornes Schnupftuch und dein unbenutztes Einlaßbillet haben sich wieder gefunden. Ich soll dir das erstere im Namen des Königs überliefern. In Ansehung des andern wird dich das darüber gehaltene Protokoll verständigen, das ich von dem Herrn Intendanten Erlaubniß habe dir im Auszuge mitzutheilen:

›Nachdem der angeblich aus Chursachsen gebürtige Ehrlieb Fürchtegott Freiherr von ..., der seit drei Jahren wiederholter Betrügereien halber, sonderlich in verbotenen Spielen, auf die königlichen Galeeren allhier gebracht worden, heute dato sich des Verbrechens schuldig gemacht, und eingestanden hat, daß er diesen Morgen die Unachtsamkeit eines andern hier durchreisenden Deutschen, der die Galeeren besah, benutzt, und mit derselben Hand, die er nach einem Almosen jenem entgegen streckte, nicht nur dessen Taschentuch, sondern auch einen Erlaubnißschein zur Besichtigung des königlichen Arsenals, diebischer Weise entwendet, und beides eine Stunde nachher einem Englischen Herumstreicher für sechs Livres verkauft habe. Nachdem ferner nur gedachter aus Glocester gebürtiger Vagabond sich in anständige Kleidung arglistig versteckt, und unter dem angemaßten, auf dem Einlaßschein ausgedruckten Namen des rechtmäßigen Eigenthümers sich Zugang in das Arsenal zu verschaffen kühnlich versucht, und nicht vermocht hat, seine dabei hegende verrätherische Absicht zu läugnen, solche vielmehr durch sein wörtlich folgendes Geständniß außer allem Zweifel gesetzt ist u.s.w. – Als haben die königlichen Admiralitäts-Gerichte allhier für Recht erkannt, und sprechen demnach für Recht: daß beide genannte,[294] ihrer Verschuldung überführte Gaudiebe, und zwar der Englische Matrose, nachdem ihm der Name, den er sich fälschlich zugeeignet, abgenommen, und sein eigner ehrenverlustiger an die Stelle gesetzt worden, auf das im Hafen vor Anker liegende, noch uneingeweihete neue Kriegsschiff Vengeance gebracht, dem zur Vollstreckung des Urtheils bereits angewiesenen Officier daselbst überliefert, und vor Untergang der Sonne an den Mastbaum aufgeknüpft und gehenkt werden, bis der Tod erfolge. v.R.w.‹«


Bei den letzten Worten – unheimlicher ist mir in meinem Leben nicht zu Muthe gewesen – entfiel der Brief meinen zitternden Händen, das Athemholen, das mir während des Fortlesens schon schwer genug ankam, schien jetzt ganz auszubleiben. Für alles in der Welt hätte ich nicht gewagt mich umzusehen; denn mir war immer, als ständen von den beiden Gehenkten der Freiherr auf der einen, der Matrose auf der andern Seite meines Lehnstuhls, um mich über ihre Hinrichtung zur Verantwortung zu ziehen. Neben bei fuhr mir auch der graße Gedanke durch den Kopf, daß, wenn ich nicht dem lahmen Gefreiten zu gut bekannt gewesen, und es dem Englischen Spion gelungen wäre, meine Einlaßkarte zu seiner gottlosen Verrätherei zu benutzen, wie leicht mein ehrlicher Name statt seiner, den Galgen geziert und mich dem gerechten Hasse der vortrefflichen Nation bloß gestellt haben würde, die mir nichts als Liebes und Gutes erzeigt hat. In diesen scheuen Augenblicken sprudelte mein abgebranntes Licht, verlosch, und alle Schrecknisse der Nacht stürzten über mich zusammen. Mein brausender Kopf – was ist doch der Mensch für eine armselige Maschine! – drückte sich, wie im Vorgefühl der Erdrosselung, zwischen die Achseln, Galle überlief meine Zunge, und ein häßlicher Krampf sträubte mein Haar. So verschwitzte und verhorchte ich eine lange peinliche Stunde in einer Todesangst, die von den Gehenkten auf mich vererbt schien. Endlich – es war die heftigste Erschütterung meiner gespannten Nerven, aber auch die letzte – hörte ich von weitem ein Posthorn schmettern, und einen Wagen vor das Haus[295] fahren. Der Postillion – ich hätte ihm billig für den blinden Passagier ein Trinkgeld bezahlen sollen – brachte mir meine entlaufene Vernunft zurück. Ermannt sprang ich von meinem heißen Lehnstuhle auf, hob die Vorhänge und öffnete das Fenster. Mein Grausen verflog. Ich sah lebende Menschen, und den Anbruch des Morgens schon hell genug, meinen furchtbaren Brief weiter zu lesen. Schamroth und lächelnd hob ich ihn vom Boden auf, las herzhaft die Mordgeschichte noch einmal sammt der Nachschrift, die ich Dir noch abschreiben will.

»Damit du nun auch hörst,« fährt Saint-Sauveur fort, »wie erbaulich sich dein Landsmann bei seinem Uebergang in die andere Welt betrug, so lege ich dir einen Auszug der Anzeige des Officiers bei, der die Exekution kommandirt hat.« – – »Und als nun beide Verurtheilte auf dem Verdeck zusammen trafen, weigerte sich jeder die Leiter zuerst zu besteigen. Da sich die Sonne schon stark neigte, befahl ich, um keinem Unrecht zu thun, den Streit durch Würfel zu entscheiden, deren auch sogleich drei gebracht wurden. Zur Kenntniß des menschlichen Herzens, wenn es bis auf einen gewissen Grad verdorben ist, verdient angemerkt zu werden, daß die Freude des Deutschen, bei Erblickung derselben unmäßig war. Als er sie von dem Engländer, der zuerst warf, übernahm, küßte er sie, rieb sie warm zwischen den Händen, und: ›Es geht doch nichts über ein Hasardspiel!‹ sagte er, warf, und verlor durch einen Punkt weniger den ausgesetzten Preis. Unwillig, doch entschlossen, machte er sich nun auf den Weg. Indem ihm der Strick um den Hals gelegt wurde, sagte er zum Nachrichter: ›Ich bin aus der Uebung gekommen. In den Bädern, besonders in Ronneburg, verstand ichs besser. Hätte ich den Satz Würfel gehabt, die mir der dortige Kammerpräsident abnehmen ließ, der Engländer sollte, bei meiner Kavaliers-Parole, eher gebammelt haben als ich. Noch ein Wort, lieber Freund, mache Er Seine Sache gut: ich kann Ihn belohnen; denn ich habe die drei Würfel in dem Rumor heimlich eingesteckt; die gehören nun Ihm. Sie können Ihm etwas eintragen, ich will Ihm sagen wie: Schreibe Er unter meiner Addresse nach Leipzig, so kommt der Brief sicher an meinen nächsten[296] Blutsfreund. Diesem biete Er sie an. Er macht gewiß einen guten Handel; denn die Würfel eines Gehenkten sind schon etwas werth. Sie sollen nie fehlen, sagt man. Schade daß ich nicht selbst versuchen kann, was daran ist! Eile Er aber, damit der Kauf noch vor der Michaelis-Messe ...‹ Hier stieß ihn der Nachrichter von der Leiter.«

»Aus dem, was du gelesen hast, darf ich wohl voraussetzen, daß dir morgen das schmalste Mittagsbrot anderwärts schmackhafter dünken wird, als das prächtigste Fest unter dem Mastbaume der Vengeance. Die angenommene Einladung ist leicht wieder abgesagt. Laß uns also, was wohl das klügste ist, mit dem Tage von hier aufbrechen, damit wir noch vor Untergang der Sonne, die du heute deinem Landsmann hast auslöschen helfen, unser schuld- und straffreies Thal erreichen. Dort wird es dir hoffentlich eher behagen, die reichhaltige Geschichte des verlaufenen Tags in eigene stille Betrachtung zu ziehen, als umringt von Fragern und Zuhörern. – Wo wolltest du Zeit hernehmen, die Neugier aller zu befriedigen, in deren Mäuler du gerathen bist? Auf den Maltheser Ritter allein müßtest du eine gute Stunde rechnen. Er ist zu sehr Genealogist, um nicht bei Gelegenheit des Mastbaums – den Stammbaum des gehenkten Edelmanns bis auf den nun ausgegangenen Zweig zu beleuchten, Ahnenprobe mit ihm anzustellen, und dabei zu bedauern, daß eine solche Stiftsfähigkeit, für die mancher ehrliche Bürger gern Haus und Hof hingeben würde, wenn er sie dadurch erlangen könnte, so schändlich verloren gegangen sei. Hast du nun für dergleichen genealogische Ergetzungen keinen Sinn, trauest du dir nicht Festigkeit genug zu, den Bemerkungen deiner moralischen Tischnachbarin, dem viel sagenden höflichen Stillschweigen des Intendanten, den Sticheleien deines lahmen Begleiters, mit Einem Worte, allen den Folgen von Heute, gesetzten Schritts morgen entgegen zu treten; so halte dich gegen fünf Uhr früh, wo ich bei dir vorfahren werde, zu deiner Abreise gefaßt.

Saint-Sauveur.«
[297]

Das trifft ganz vortrefflich zusammen! Eben schlägt es. Ich bin völlig, noch von gestern her, gekleidet, und höre, wenn ich mich nicht irre, den Wagen des Marquis über die Gasse herrollen. – Richtig er ists.

Den 21sten Februar.


Den 21sten Februar.


Unterweges von Toulon nach dem Sonnenthal.

Fußnoten

1 Nach einem Auszug aus Bernoulli's Reisen im Jahr 1777. 1ter Theil p. 78. Endlich sind in dieser Blibliothek (des Generals von Borke zu Stargardt) eine Menge Bücher, die nur ihrer Seltenheit wegen merkwürdig sind u.s.w., als zum Beispiel die Bibliothek des Don Quichotte, nämlich alle Romane, welche nach der allgemein bekannten Geschichte dieses irrenden Ritters, den Büchervorrath desselben ausmachten – – –


2 Calendarium Romano-Germanicum medii aevi etc. Adornavit Anton Ulric ab Eralh – Exemplar unicum, partim prelo subjectum, partim libera manu successive impressum etc. in IX Tomos. Dillenburgi 1761.


3 Der Abbé la Coste, der 1760 auf Zeitlebens zu der Galeerenstrafe verdammt wurde.


Quelle:
Moritz August von Thümmel: Werke, 4 Bände, Band 4, Stuttgart 1880.
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