Nimes

Nimes.

[312] Freund! Ich bin nun gerettet – wie ein Fisch, der den Köder vom Faden gebissen hat, und mit dem Angelhaken in der Gurgel davon schwimmt. Hätte ich, zu einem Bettler herab gesunken, mein Land verlassen müssen, wo ich als König regierte, bänger hätte mir[312] kaum um das Herz seyn können, als da mir nun die Wohnung der Unschuld und Freude im Rücken – und, abgeschnitten von allem, was mir lieb war, die ganze weite freudenlose Welt vor mir lag. Ach! nichts begleitete mich, als mein trauriger Schatten. – Mir fehlte Margots sonorische Stimme – ich vermißte den Nachtrab meines treuen schwatzhaften Johann, und mein zerstreuter Blick, der selbst manchmal sich nach meinem guten asthmatischen Mops umsah, kehrte betroffen über seinen Verlust zurück. Und o wie viele andere stachlichte Empfindungen – die ich aus Zärtlichkeit gegen mich nicht berühren mag – kletteten sich nicht an dieses belastende Gefühl von Trennung und Einsamkeit! Es war mir, als ob an jedem Pflasterstein, über den ich auf meinem Wege fortschritt, ein Theil meines Eigenthums hängen blieb, so daß ich es mit jeder Minute kleiner, unbedeutender werden, und zuletzt in ein Nichts verschwunden sah.

Ich konnte es nicht über mich gewinnen, auf der Chaussee fort – bei der steinernen Bank vorbei zu gehen, auf der sich meine Eigenliebe, und, wie Du weißt, ganz ohne Noth, brüstete, und aus einem Mißverständnisse, das ich mir noch nicht vergeben kann, in so lebhafte Bewegung gerieth. In solchen Umständen, lieber Eduard, ist es sehr bequem, wenn man neben der Landstraße noch einen Rasenweg findet. Wie klein war indeß die Erleichterung, die ich mir damit verschaffte! – Denn, ob ich gleich weder Menschen noch Esel begegnete, die mich an mein Dörfchen erinnerten, so konnte ich doch unmöglich jedem Moose, jedem sprossenden Strauche, das den Moosen und Gesträuchen auf dem Fichtenberge ähnlich sah, aus dem Wege gehen: und als ich mir vollends einfallen ließ, einen seitwärts gelegenen Hügel zu besteigen, so brachte ich mich auf einmal um allen Vortheil meines listigen Umwegs; denn nun trat mir, in dem weiten Zirkel des freundlichen Languedocs, den ich übersah, das kleine liebe Caverac so nahe vor die Augen, daß sie mir übergingen, ehe ich es wehren konnte.

Ein Weilchen ließ ich meinem kindischen Herzen seinen Willen: da aber der annähernde Abend die Gegend immer mehr in's Dunklere zog, so nahm ich den Zeitpunkt wahr, ehe sie mir entwischte,[313] ihr meinen feierlichen Segen zu geben. Es war ein süßer belohnender Augenblick, der mich über mich selbst erhob – ein Gefühl, wie es nur der heilige Vater haben kann, wenn er auf dem Balkon der Peterskirche seine segnende Hand erhebt, und sein ganzes Volk in andächtiger Schwärmerei vor ihm zur Erde niederstürzet. – Der Fleck, wo Margot wohnte, schien noch, ehe er meinen Blicken verschwand, einen sanften Schimmer von sich zu werfen, der meine Seele stärkte, erwärmte, beruhigte. Ich ergriff gutes Muths meinen Wanderstab, und suchte mich zu überreden, ich wäre gefaßt und zufrieden.

Ueberlege noch mit mir, Eduard, indem ich unter dem Wiederscheine des Abendroths nach meinem Pavillon schleiche, wie viele wichtige Geschenke, die vielleicht eine größere Summe von Glückseligkeit umfassen, als das ganze Königreich Schweden zu seinen! Antheil erhielt, diesem von der Natur so begünstigten Winkel der Erde und seinen Bewohnern zugefallen sind.


Die dreimal Glücklichen! Wie leicht

Wird's ihnen nicht, in ihrem vollen Garten

Des Lebens Traum, durch Sorgen nie verscheucht,

Ganz durchgeführt, so weit er reicht,

In jener Einfalt abzuwarten,

Die dem Gefühl so gütlich däucht!


Die Freude tanzt hier ohne Regeln,

Der Scherz gesellt sich ohne Zwang

Zu ihrem Wein, zu ihren Kegeln

Und ihrem baskischen Gesang.

Sie haben das, was sie bedürfen:

Ein leichtes Blut und Lieb' und Wein,

Und alle ihre Sinne schlürfen

Den Zaubertrank des Lebens ein.

Im Schatten ihres Oelbaums wohnen

Glück und Zufriedenheit. Kein Sturm der Leidenschaft

Jagt sie aus ihrer Ruh nach weit entfernten Frohnen

In's magere Gebiet wurmstichiger Patronen,

Nach Gnadenmitteln ohne Kraft,

Und die der Müh des Wegs nicht lohnen –

Giebt es für Wallungen ein sichrers, als den Saft

Von ihren kühlenden Limonen?[314]

Wenn Colas Händedruck, im Ringeltanz mit Rosen,

Die erste Scham des lieblichen Gesichts,

Den ersten Seufzer weckt, so fragt er nicht nach Mosen,

Nach dem Propheten und dem großen

Christophel, wenig oder nichts.

Welch ein Elysium! Schon dreizehn Jahre steuern

Des Landes Töchter aus. Ihr spähendes Gesicht

Trifft unter einem Trupp von Freiern

Bald auf den Glücklichen, dem nicht der Muth gebricht,

Auch ohne Heirathsgut der Liebe Fest zu feiern.

Willst Du den ächten Ton von ihren Hochzeitleiern,

So trällre nach, was jener Spottgeist spricht:

»Sie spinnen, säen, ernten nicht.

Und sammeln nicht in ihre Schauern.«

Doch sorge nicht für sie! Um einen Blätterschmaus

Hilft Amor hier ein Heer verliebter Spinnerinnen

Den Kindern der Natur gewinnen,

Die Schüsseln auf den Tisch, und Möbeln in das Haus,

Und Feuer auf den Herd erspinnen.

Kein leerer Raum läßt sich ersinnen;

Der Gott der Liebe füllt ihn aus!


Wie verzeichnet und verschossen kommen uns doch unsere prächtigen theuern Kabinetsmalereien vor, wenn wir sie auf eine Weile bei Seite räumten, und unsere Augen an den größern Gemälden der Natur stärkten! – Nimes mit seinen Antiquitäten, seinen Gesellschaften und Gastmählern – wie wenig ist es doch für das Herz, gegen die ungeschmückten Freuden meines ländlichen Aufenthalts, die keines Schmuckes bedurften! Mein Pavillon kam mir lächerlich groß vor, wie ich eintrat. – Ich setzte mich geschwind an mein Tagebuch, um mir die Angst wegzuschreiben, die mich in dieser Einöde befiel, und dem Schlafe freien Eingang zu dem Herzen zu schaffen, das heute mehr als jemals seines Balsams bedarf.

Fußnoten

1 Mamsell Cadiere, ein schönes und so unschuldiges Mädchen, daß sie lange Zeit den schändlichen Mißbrauch, den Pater Girard mit ihr ihm Beichtstühle trieb, für Absolution hielt. Die Geschichte machte unter Ludwig dem Funfzehnten so großes Aufsehn, daß sie zu vielen Schriften Anlaß gab.


2 G. des Königs von Preußen Gedicht, Codicille, in den Oeuvres posthumes de Frederic II. Tom. 8. pag. 125.


Cet autre est occuppé d'une genisse blanche

En lui pressant le sein.


3 Caron de Beaumarchais, der hier, um Voltaire's Werke in Ruhe zu drucken, eine große Buchdruckerei angelegt.


4 Voltaire. Sein unversöhnlicher Haß gegen Freron, der ihn in seiner Monatsschrift: l'année littéraire und in mancherlei fliegenden Blättern angriff, ist aus seiner Schottländerin, wo er ihn unter dem Namen Frelon aufgeführet, und aus unzähligen Epigrammen bekannt.


5 Anspielung auf das Epigramm der Mademoiselle de Maine gegen die Wunderkuren, die zu ihrer Zeit auf dem Grabe des heiligen Pâris geschahen:


Un décorateur à la Royale

Du talon gauche estropié

Obtint par grace spéciale

D'être boiteux sur l'autre pied.


6 Die Platonische Liebe und das Platonische Dreieck sind einander gerade entgegen gesetzt. – Das Wesen einer jeden Zeugung, sagt dieser Weltweise, besteht in der Einheit der Uebereinstimmung der Zahl Drei oder des Dreiecks, wozu der Vater, die Mutter und das Kind die Linien geben.


7 Die Königin Christina sagte vom Salmasius, daß er so gelehrt sei, den Stuhl in allen Sprachen der Welt nennen zu können – nur wüßte er sich nicht darauf zu setzen.


8 Die Königin Christine von Schweben, die ihren Oberstallmeister Monaldeschi zu Fontainebleau, unter ihren Augen ermorden ließ. Leibnitz vertheidigte diese That, aber dießmal ohne zu überzeugen.


9 Clitoris oder Clitoria, eine Nymphe, der zu Gefallen sich Jupiter in eine Ameise verwandelte. Ob das Redoutenkleid, von dem hier die Rede ist, vom lichtigsten Costum war, ist zweifelhaft. Es wurde als eine neue französische Hofmaske nach Berlin geschickt, fand aber wenig Beifall.


10 Plat. Phaed. pag. 150. edit. Fischer.


11 D. Johann Bartholomäus Adam Beringer, Rath und Hofmedikus des Fürsten Bischofs von Würzburg, Professor, d.Z. Dekanus und Senior der Universität daselbst. Sein Werk führt den Titel:

Litographiae Wirzeburgensis, ducentis lapidum figurtorum, a potiri insectiformium, prodigiosis exornatae specimen etc. Wirceb. 1726.


12 Graf Hans George von Mansfeld kam todt krant nach Wittenberg. D. Luther besuchte ihn als seinen lieben Landesherrn. – Der kranke Graf ergriff Luthers Hand mit höchster Danksagung für seine christliche Vermahnung und treuherzigwohlgemeinte Erinnerungen.

Als nun D. Luther auf solche des Grafens gute und süße Worte, wiederum will zu Hause gehen und ihn gesegnet, konnte er zwar nicht recht zur Stuben hinauskommen, so sticht ihme der Graf hinterwärts einen Münch mit diesen Worten, Geck, Geck, was soll der Doktor von diesen Sachen verstehen, es gehet mich gleich so viel an, als pfiff mich eine Gans an.

Aus dem Codice Manuscripto Razenbergii, in der

Bibliothek des Herzogs von Gotha.


13 Ludewig der Vierzehnte hatte den Untergang des Sürintendanten Fouquet, schon beschlossen, als er ihm noch die verrätherische Ehre erwies, das prächtige Fest anzunehmen, das er ihm auf seinem Landhause zu Veaux gab. Ohne die Vorstellung seiner Frau Mutter, Anna von Oesterreich, die es ein wenig zu stark fand, würde er ihn selbst während dem Feste in die ewige Gefangenschaft geschickt haben, zu der er ihn nachher verdammte. Sein Hauptverbrechen bestand darin, daß er die nachmalige Herzogin von Valiere schön fand, und ihr Anträge thun ließ, ehe er noch wußte, daß der König bald nachher gleiche Neigungen bekommen würde. Alle die beredten Vertheidigungsschriften Pelissons, die sich freilich nur über die Beschuldigungen verbreiteten, die jener zum Vorwande dienten, konnten ihn nicht retten; da das Herz des Königs selbst nicht edel genug war, ihm den natürlichen Wunsch, und der damals seine Majestät noch nicht beleidigen konnte, zu einer andern Zeit zu verzeihen, wo er ihn selbst faßte, und, wie wir wissen, königlich ausführte.


14 La Fontaine war, ausser Pelisson, welcher den Advokaten von Fouquet machte, der einzige Unbedachtsame, der es wagte, das Unglück seines ehemaligen Beschützers laut zu bejammern, anstatt einen neuen in dessen Nachfolger zu suchen. Er unterstand sich sogar, den König mit einer Elegie zu behelligen, in der er auf's rührendste für den gestürzten Minister um Gnade bat. Dieser Beweis seiner wenigen Lebensart brachte ihn so sehr um allen Kredit bei Hofe, daß der stolze Monarch, dessen Freigebigkeit sich doch sogar auf die Gelehrten fremder Länder erstreckte – für einen solchen Schafskopf, als la Fontaine, nicht das geringste thun mochte. Der gute Fabler lebte beinahe nur von den Allmosen einiger wenigen Freunde. Er – dessen Schriften jetzt die Nation durch einen immer prächtigern Druch nach dem andern, vor allen seinen Zeitgenossen ehrenvoll auszeichnet, hatte nicht so viel, um sich ein neues Kleid schaffen zu können! Er – der, wie alle große Schriftsteller, durch den Ausfluß seines Geistes, auch nur als Kaufmannswaare betrachtet, seinem Vaterlande ein ewig fortwucherndes Kapital hinterließ, war selbst einmal im Begriff, über das Meer zu gehen, um in der Fremde seinen Unterhalt zu suchen. Obige zwei Verse auf Fouquet sind von ihm entlehnt:


Jours sans soleil,

Nuits sans sommeil,

Quelque peu d'air pour toute grace etc.


Quelle:
Moritz August von Thümmel: Werke, 4 Bände, Band 1, Stuttgart 1880.
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