Toulouse.

[236] Den 6ten März.


Diese trüben Gedanken begleiteten mich in den Gasthof, wo ich einkehrte, der von unten bis unter das Dach mit allen Lockungen der Sinnlichkeit versehen, nicht umsonst dem stolzen Kapitolium gerade gegen über lag; denn eine der vielen, Trepp auf, Trepp ab, wie Liebesgötter in einem Venustempel, herumschwebenden Aufwärterinnen, die mich anwies, erzählte mir, die Herren Kapitouls frühstückten gewöhnlich hier, ehe sie zu Gericht gingen. »Das ist keine üble Gewohnheit,« antwortete ich, »denn nichts stimmt menschliche[236] Herzen mehr zum Mitleid für andere, als eigener Lebensgenuß, und für den scheint mir in diesem Hause vortrefflich gesorgt. So eingerichtet war es wohl noch nicht, als Calas gerädert wurde?« »O nein,« sagte sie, »damals war der Platz noch unbebaut und gehörte, glaub' ich, der schwarzen Brüderschaft zu.«

»Wohl Schade!« erwiederte ich, »denn hätte eine so weise Schwesterschaft, als ich jetzt hier vereinigt finde, den Frühstücken seiner Richter vorgestanden, die Mehrheit der Stimmen wäre gewiß zu seiner Lossprechung ausgefallen.« Sie lächelte bedeutend und fragte nur noch, ob ich hier übernachten würde? Ich zuckte mit den Achseln. »Nicht wohl,« sagte ich, »denn ich gedenke mit der Wasserdiligence nach Bordeaux abzugehen. Wie lange habe ich da noch Zeit?«

»Ungefähr zwei Stunden,« berechnete sie und entschlüpfte.

Vor allen schickte ich nun Bastian dahin ab, um Plätze für uns und meinen Wagen zu bestellen, verriegelte darauf mein Zimmer, um ohne weitere Störung meine heutigen Morgengedanken so warm niederzuschreiben, als sie mir auf dem Herzen lagen. Ich setzte mich neben ein offenes Erkerfenster, aus welchem mir der majestätische Pallast jener Mordgehülfen gerade vor den Augen lag. Dieser zweckmäßige Standpunkt meines Schreibtisches, konnte ich doch wohl glauben, würde mich über meine gewöhnliche Darstellungsgabe erheben; als ich aber das beschriebene Blatt überlas – wie kraftlos kamen mir die Abdrücke meiner innern Empfindungen vor. Ich blickte verdrießlich weg, fing mich an vor meinen Lesern zu schämen, und wollte eben, um mich mehr zu befeuern, wie sich gewisse Schauspieler heimlich in den Arm kneipen, wenn ihre Rolle Ausdruck des Schmerzes verlangt, nach der grassen eisernen Kerkerthür hinsehen, aus der man den matten, schuldlosen, siebenzigjährigen Greis zum Richtplatz geschleppt hat; als mich ein ungestümes herrisches Klopfen nach der meinigen hinzog. Das ist doch ein höchst unbescheidenes Benehmen, fuhr ich laut auf, denn wie konnte ich mir einbilden, daß es Pocher gäbe, die das Recht dazu hätten, ohne für grob gehalten zu werden, bis es mir ein Mann zeigte, der, schwarz gekleidet, mit fliegenden[237] Haaren hereintrat und mir durch das Schreckenswort de par le roi, das alles gleich macht, meine Glieder lähmte. Die Feder, die ich noch naß in der Hand hielt, entfiel mir, und ich habe erst einige zwanzig oder dreißig Meilen darnach reisen und das Gebiet einer fremden Macht gewinnen müssen, ehe ich ihr heute wieder ihren freien Lauf lassen konnte.

Auf meine ehrerbietige Frage: was zu seinem und des Königs Befehl sei? antwortete er befehlend: »Gedulden Sie Sich!« Noch war ich weit entfernt, zu muthmaßen, daß es meine Bagage wäre, auf die er mich warten ließe, bis ich sie von vier Lastträgern ihm vor die Füße setzen sah. Nächst ihnen traten zwei andere, eben so schwarze ominöse Figuren, mit Federn hinter den Ohren herein, als ob sie mir an der Fortsetzung meines Tagebuchs helfen wollten. Ach sie haben es nur zu gewiß durch den traurigen Bericht gethan, den ich Dir, lieber theilnehmender Freund, über die bösen Stunden abzulegen habe, die mir ihre werthe Bekanntschaft verursacht hat. Derjenige, dem ich den ersten Schrecken verdanke, und der auch, den andern gegen über, den obersten Platz an meinem Schreibtische einnahm, belehrte mich nun mit gerichtlichem Anstand, daß sie – und ich glaubte in die Erde zu versinken – Kapitouls, und beauftragt wären, mich über gewisse Artikel zu vernehmen. Was mögen das für welche seyn? dachte ich zitternd nach. Unmöglich können doch die Herren von ihrem Richthaus herüber durch das Fenster erspäht haben, was ich schrieb; Gott gebe nur, daß sie es jetzt nicht entdecken, und ich hätte für keinen Preis einen Blick auf den heutigen Heft meiner Handschrift geworfen, der auf das unverschämteste neben dem Vorsitzenden lag, um ihn nicht auf die Spur meines Anathems zu bringen. Der Mann am Protokoll lauerte und jener begann seinen Vortrag: »Sie werden, mein Herr, im Namen des Königs zum wahren Geständniß aufgefordert – wer Sie sind und was die Absicht Ihrer Bereisung seines Reichs ist?« Diese königliche Neugier konnte mich nun wohl in keine Verlegenheit setzen. Ich antwortete frisch weg: »Ich bin einer der getreuesten Unterthanen Friedrichs, wenn Sie erlauben – des Großen, ein Berliner, sowohl meiner Geburt, als Krankheit nach, die mich viele schwermüthige[238] Jahre hindurch am Verdauen und Lachen verhindert hat. Die dortigen Aerzte haben mich in die mittägliche glückliche Provinz Ihres Königs, den Feldhühnern, Ortolanen und was sie sonst noch etwa meiner Diät für zuträglich hielten, besonders aber der guten Laune nachgeschickt, die in deutschen Apotheken nicht officinell ist. Die Kur ist mir vor trefflich bekommen. Ich kann jetzt die leckersten Bissen vertragen und die Stimmung meines Gemüths hat sich über alle Erwartung verbessert, so daß ich alles wiederum meiner Jugend gemäß, ja sogar – sage ich, jedoch mit schuldiger Ehrerbietung – mein heutiges Verhör nur auf der lachenden Seite betrachte. Protokolliren Sie, mein Herr, daß ich meine frohe Herstellung nur ganz allein der großmüthigsten, liebenswürdigsten, scherzhaftesten und tolerantesten Nation der Welt verdanke.«

»Haben Sie bei Ihrer Gesundheits-Reise sonst keine Nebenabsicht gehabt?« fuhr der Präsident mit einer kleinen Verbeugung für mein Kompliment – und ich um vieles beherzter gegen ihn fort: »Nur noch eine, die ich aber nicht erreicht habe.« »Welche war diese?« »Die Verbesserung meines Verstandes und Herzens.« »Das ist wohl nur Scherz, mein Herr, vor Gericht jedoch sehr zur Unzeit angebracht.« Ich bückte mich für seinen schmeichelhaften Verweis eben so bescheiden, als er vorhin bei meinem Lobe auf die französische Nation. »Sind Sie nicht auch vor kurzem in dem Kloster zu Cotignac gewesen?« Hier schoß mir das Blatt, doch war ich nicht einfältig genug, es zu läugnen. »Was hat Sie zur Reise dahin veranlaßt?« »Indigestion.« Der Examinator blickte mir ernst ins Gesicht. »Und,« setzte ich noch hinzu, »die ungestümen Bitten meines ehemaligen Zeichenmeisters, der die unerreichbare Notre Dame de graces zu kopiren versuchen wollte.« »Wie lange verweilten Sie im Kloster?« »Von einigen Frühstunden an bis kurz nach dem Mittag, als der Stümper mit seiner Abzeichnung fertig war.« So wechselten unschuldige und verfängliche Fragen, anderthalb Bogen durch, mit einander ab, bis mein Tauschhandel mit dem Pater André klar am Tage lag. Die Deputirten waren von meiner kalten Küche, der Berauschung meiner Gäste, unserer unklösterlichen Lustigkeit, kurz von allem bis auf die Zahl[239] der Flaschen unterrichtet, die wir geleert, und der vollen, die ich außerdem noch dem ehrlichen Pater auf den Gastwirth zu Marseille angewiesen hatte. Die folgende Frage: »Ob ich nicht wichtige Urkunden dagegen bekommen?« zog mir beinahe die Kehle zu, doch erholte ich mich nach einem kleinen Hüsteln. »Das ich nicht wüßte. Der Mönch zwar, – – der mit einem Heiligen verwandt seyn will, machte mir, seiner Einbildung nach, ein bedeutendes Geschenk mit dessen gedruckter Legende, und gab mir noch eine Rolle ganz unleserlicher Belege darein. Es ist die Frage, ob sie mein Bedienter nur mit eingepackt hat.« »Und zwar die entscheidendste von allen,« entgegnete der Vorsitzende mit einem ernsten, recht häßlichen Blick, »denn außerdem müßte sein Herr sich gefallen lassen, so lange hier unter strenger Aufsicht zu bleiben, bis sie beigeschafft wären.«

Jetzt wurde Bastian gerufen; dem befahlen sie, Koffer und Kasten zu öffnen, und das, was sie enthielten, ihnen stückweis vor Augen zu legen. Der Kerl benahm sich so außer Fassung dabei, als wenn der Teufel von Beziers hinter ihm stände. Ich sah mich genöthigt, den Handlanger zwischen ihm und den Deputirten zu machen, damit sie nur nicht sein verstörtes Gesicht, dem ich selbst in diesem Augenblick die schwersten Verbrechen hätte zutrauen können, bemerken möchten.

Sobald die Rolle mit den heiligen Dokumenten zum Vorschein kam, rekognoscirte und überreichte ich sie den Bevollmächtigten. Ungefordert legte ich ihnen auch meine Rechnungen und andern Papiere vor, um mich recht weiß zu brennen. Dank meiner gelehrten Hand! Bei dem flüchtigen Blick, den einer der Beisitzer darauf warf, übersah er sogar meinen Kontrakt mit dem Glaser der Bastille, der mir doch ein sichtbares Herzklopfen verursachte, als ich seiner ansichtig ward. Sie hielten sich ganz allein an die Rolle des Pater André, gaben ihr, ohne sie zu entwickeln, einen neuen Umschlag, den sie mit ihren drei Petschaften versiegelten und mich anwiesen, als Zeichen, daß ich den königlichen Willen nach Ehre und Gewissen befolgt habe, meinen offenen Ritterhelm darneben zu drücken.[240]

Ich sah die Sache nun für geendigt an. Schon hatten die Kommissaire Bastian erlaubt, meine Habseligkeiten wieder an ihren Ort zu bringen, und ich wollte ihm mit den glücklich abgefertigten Papieren mehrerer Sicherheit wegen eben mein Tagebuch noch zureichen, als der jüngste Deputirte – denke Dir, wie mir zu Muthe ward – es unterweges mit der Erklärung anhielt: Er habe sich lange in Wien aufgehalten und wolle doch sehen, ob er Deutsch noch so fertig lesen könne, als ehemals. Glück über Glück, daß er nicht lange suchte, und etwa die niedlichen Bruchstücke aus dem Briefwechsel der Königin Anna mit ihrem Liebhaber aufstörte. Was würden die Herren von meinem Ritterhelm gedacht haben, wenn sie jene Abschriften gefunden hätten! Gott sei gelobt, daß er sich nur mit dem letzten Heft beschäftigte, nicht etwa weil es für mich weniger gefährlich – ach im Gegentheil! sondern weil der poetische Fluch auf ihn und seines Gleichen, den er vor den Augen hatte, kein Wiener Deutsch war.

Er starrte das Blatt einige Minuten an und legte es mit einem »Nicht wahr ein Wäschzettel?« zu den übrigen. Wer war froher als ich! Hinter mir hörte ich ein Kofferschloß nach dem andern zuschnappen, und der Vorsitzende entließ meinen Kammerdiener mit einem gebieterischen Wink nach der Thüre, den er sich nicht zweimal geben ließ. Mir aber ging es noch nicht so gut. Ich mußte noch zur Schlußformel meines Verhörs die Tortur seiner Beredtsamkeit aushalten. »Mein Herr,« wendete er sich mit Würde zu mir, »Ihro allerchristlichste Majestät erlauben zwar großmüthigst jedem Fremden, Ihre Staaten zu bereisen, gönnen ihm gerne die Luft – den gesellschaftlichen Umgang und die fröhlichste Theilnahme an den physischen und moralischen Vorzügen Ihres Reichs. – Sie werden aber hoffentlich selbst begreifen, mein Herr, daß diese Vergünstigung sich nicht bis auf die Ausfuhr und Entwendung alter Urkunden und Briefschaften erstrecket und erstrecken kann. Das Unvorsätzliche – das Ungefähr, wie ich glauben will, wodurch sie Ihnen in die Hände geriethen – indem Ihre, ad protocollum gegebene Erläuterung dieser verwickelten Sache mit der uns mitgetheilten Aussage des Pater André zur Genüge[241] übereinstimmt – kommt Ihnen in so weit zu Statten, mein Herr, daß Ihr sonderbarer Tauschhandel mit ihm, den Wir von Gerichts wegen, unter Vorbehalt Ihres Regresses an jenen Trunkenbold, für null und nichtig erklären, weniger auffällt. Die Willfährigkeit und gute Art, die Sie bei der Zurückgabe der zum Leben des heiligen Fiacre gehörigen Belege bewiesen haben, wird Zweifels ohne den hohen Senat vermögen, Sie, als eine keinem weiteren Verdachte unterworfene Person, frei zu lassen.« Hier ward der Redner durch den Eintritt dreier weiblicher Engel unterbrochen, die jedem der Herren, wahrscheinlich zur Stärkung in ihrem Berufsgeschäft, eine Tasse Chocolate überreichten. Während sie solche einschlürften, durfte ich ja wohl diesen unerwarteten Zwischenakt zu dem Vergnügen benutzen, einer Hebe um die andere auf das tiefste in die Augen zu sehen.

Als sie abtraten, blitzten ihnen die meinigen noch so funkelnd nach, daß der Herr Vorsitzende seine Stimme erheben mußte, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Zwar,« diese Sylbe schob er vorerst ein, als er den abgerissenen Faden seines Vortrags auffaßte, »zwar frei zu lassen; jedoch wird zugleich einstimmig von Uns verlangt, daß Sie, mein Herr, je eher, je lieber, und sobald ich Ihnen den Paß zuschicken werde, Ihre Abreise von hier beschleunigen.« – Warum denn eben das? dachte ich. O Herr Präsident, seyn Sie ruhig! Ihre schönen Mädchen hätten mich ohnehin nicht aufgehalten – »zu der wir übrigens insgesammt,« endigte er seine Rede, »Ihnen von Herzen alles erforderliche Glück wünschen.« Ich würde gern zu der Feierlichkeit gelacht haben, mit der er die Sitzung aufhob, hätte sie mich nicht um alles gebracht, was mir noch einigermaßen meinen Ausflug über die Gränze zu einer nützlichen merkwürdigen Reise stempeln konnte. Jetzt bringe ich meinen Landsleuten doch in der Gotteswelt nichts mit, das der Mühe lohnte. Welcher Leser wird an meine historische wichtige Entdeckung glauben, da ich sie mit keinem Original-Dokument zu belegen vermag. Mein Wort? Das Vidimus meiner eigenen Abschriften? Ja! damit darf man einem deutschen Gelehrten wohl kommen! – Indeß wär' ich doch[242] heilfroh gewesen, als ich den Blutrichtern des armen Calas nun über die Gasse nachsah – hätte ihre Bekanntschaft meiner Einbildungskraft nicht Schattenbilder zurückgelassen, die beinahe noch fürchterlicher waren, als sie selbst. Was kann noch aus dir werden, fing ich schauerlich zu berechnen an, wenn die Mehrheit der Stimmen dir dein Absolutorium verweigerte – wenn die ältern Kapitouls, klüger als die abgegangenen jüngern, auf den natürlichen Einfall geriethen, deine Aussage mit deinem Tagebuche zu vergleichen, wenn sie es einem Translator, der Oden nicht für Wäschzettel nimmt, übergäben, du in deinem Jammer, so lange bis es in französischer Sprache eben so geradebrecht wäre, als ihr Homer, warten, und nachher, Gott erbarme sich! alle die Stellen verantworten müßtest, deren sie nur zu viele, als kriminell, oder als unverständlich, mit rother Tinte anstreichen würden. Verwünscht sei der Prior zu Cotignac mit seinen Konventualen! denn nur sie, die nicht mittranken, nur ihr Neid über ein Geschenk, an dem sie keinen Theil hatten, können allein diese Verrätherei an dir und dem lustigen Pater André begangen haben. O die heillosen Mönche! – Mitten in diesem Selbstgespräch vermehrte ein Gerichtsbote, der dazwischen trat, mein Herzklopfen, ehe ich sah, daß es der liebe erwartete Erlaubnißschein zu meiner Abreise war, den er mir einhändigte.

Der große Thaler, den ich ihm für seinen Gang in die Hand drückte, ging ungleich leichter von mir, als jener, den ich dem teuflischen Kastellan zu Beziers opferte. Meine Freude war aber nur augenblicklich. Unter allen Bewegungen der Seele ist keine, die der Phantasie mehr zu schaffen macht – einem männlichen Geiste überlästiger, mit einem Worte keine, die demüthigender, albernèr und peinigender ist, als die Furcht. Mir kamen die schauderhaftesten Beispiele aus einer Menge Kriminalakten wie zugeflogen, an die ich sonst in meiner Unschuld gar nicht zu denken gewohnt bin, und die ich meinem Zustande doch jetzt so anpassend fand, als ein eingebildeter Kranker jede grasse Sektionsgeschichte dem seinigen.

Ich überlas meinen Freipaß wohl zehnmal mit äußerstem[243] Mißtrauen. Jeder Punkt und Strich, den ein Unbefangener gar nicht bemerkt, kann ja, dachte ich, ein abgeredtes Zeichen mit Polizeidienern seyn, an die man in voraus weiß, daß du gerathen mußt. Spielen nicht oft boshafte Jungen mit einem armen Vogel, um ihn sicher zu machen? Kann er weiter fliegen, als der Faden lang ist, den sie ihm heimtückisch um den Fuß schlangen, und kann ein so guter Kerl, wie du, nicht schon tagelang auf der Diligence in engem Verhaft sitzen, und immer in dem süßen Wahn stehen, er reise nach seinem Vaterlande, bis seine Auflaurer für gut finden, ihm solchen zu benehmen? Kaum hatte ich von allen diesen schreckhaften Möglichkeiten eine abgefertiget, als gleich eine andere an ihre Stelle trat. Einmal versuchte ich trotzig zu thun. Possen, sagte ich, die Originalschriften sind ja den königlichen Bevollmächtigten überliefert. Wer kann mir beweisen, daß ich sie gelesen habe, außer – stockte ich ganz auf einmal niedergeschlagen – dein unseliges Tagebuch. Nun – fuhr ich schnell besonnen fort, was hindert dich denn, es zu vernichten, ehe es wider dich zeugt? Die eine Hälfte liegt schon in der Asche – lege die andere dazu! Ja, wenn nicht die väterliche Liebe zu dem Nestling gewesen wäre, die sich geradezu gegen den grausen Gedanken sträubte. Endlich kam ich – was gewinnt man nicht durch Nachdenken! – auf einen Einfall, der mir in meiner ängstlichen Lage als der beste Nothhelfer so genialisch erschien, daß ich ihn sogleich auf das herzhafteste ausführte. Ich unterwarf nämlich mein Buch der Operation des Origenes. Die ausgeschnittenen gefährlichen Blätter theilte ich wieder in zahllose Dreiecke, die ich an einem gewissen staubigen Orte verbarg, dem sich nicht so leicht ein schwarz gekleideter Kommissair nähern wird. Ich will den Inquisitor loben, der ihn als verdächtig anspricht, oder auch die Papier-Schnitzel ohne meine Hülfe in ein lesbares Ganze zusammensetzt.

Nach solchen genommenen klugen Maßregeln, sollte wohl jeder Vernünftige glauben, müsse mir das verzagte Herz gewachsen seyn. Nichts weniger. Der Schrecken war mir einmal ins Blut getreten und stieg mir immer höher zu Kopfe.

Wird es denn der König, warf ich die Frage auf, wohl für[244] wahrscheinlich halten, daß jemand seine Ahnen-Probe vierzehn Tage in der Tasche haben kann, ohne sie zu untersuchen? und ist nicht der königliche Glaube an die Möglichkeit allein schon hinlänglich, ihn par raison d'Etat in das erste beste Gefängniß so gut mit einem Maulkorbe zu stoßen, als mit einer eisernen Maske? Heiliger Fiacre! schütze mich, daß ich nicht um deinetwillen auf die Brescauische Austerbank, der du glücklicher entgangen bist, als du verdientest, zu liegen komme! Hier unterbrach mich Bastian mit der Nachricht, die Wasserkutsche sei sammt dem Daraufgelde für den guten Platz während meines Verhörs ab und davon gefahren. »O desto besser,« rief ich, »die Gesellschaft, die man auf einem Toulouser Postschiff erwarten darf, würde sich ohnedieß sehr schlecht mit meiner gegenwärtigen Stimmung, und die langweilige Fahrt noch schlechter mit einem geschwinden Fortkommen vertragen, an dem mir mehr noch gelegen seyn muß, als den Herren Kapitouls, die hier frühstücken. Auf der Landseite entkommen wir ja diesem Drachenneste um vieles geschwinder. Habe ich doch meinen Freipaß, was warten wir? Mache dich auf die Beine, Bastian, und schaffe mir ohne Verzug vier tüchtige Pferde vor den Wagen, oder lieber sechse. Hörst du?« Das war ihm eben recht.

Es verging keine Viertelstunde, so stand alles zu meiner Flucht in Bereitschaft. Die glücklichsten Umstände trafen zusammen, sie zu befördern.

Ich sah meine Berline mit sechs Pferden bespannt, die vor Ungeduld stampften, wie ich. Eins zog wie das andere, denn ihre Führer waren, wie sie mir bald vertrauten, Zwillingsbrüder, kalvinischen Glaubens, und meinten es überhaupt ehrlich.

Sie drückten mir nicht nur auf das herzlichste die Hand für mein freigebiges Trinkgeld am Ende der Station, nein sie zeigten es allen ihren Kammeraden, um sie aufzumuntern, ein gleiches zu verdienen. Die Wege waren vortrefflich, der Abend ruhig, wie ein gutes Gewissen, und die Nacht hell, wie bei uns ein Frühlingstag. Nie hat mir der Klang der Posthörner mehr Freude gemacht. Nach der Eile, mit der ich an den berühmten Garküchen des Perigords vorbei rollte, hätte kein Mensch errathen, welchen Werth ich[245] auf ihre kalten Pasteten setze. Ich ließ mich durch keine aufhalten, denn ich kam mir selbst wie eine Waldschnepfe vor, die alle ihre Federn anstrengt, um dem Unglück, in einer nach Holland oder Deutschland verschickt zu werden, zu entfliehen.

So erreichte ich zwar durch Gottes Hülfe und ohne den mindesten Anstoß schon den siebenten März, einige Stunden nach Mittag, das schöne weinreiche Bordeaux – aber die lange Strecke Wegs, die ich noch bis in mein Vaterland vor mir sah, erlaubte mir nicht, durch irgend einen Genuß Zeit zu verlieren.

Wie hätte ich Lust haben können, meinem Körper gütlich zu thun, den ich bei weitem noch nicht außer Gefahr glaubte, und der sich, wie Du noch hören wirst, bei allem, was ihm aufstieß, recht linkisch benahm.

Jetzt, nach einer ruhigen fröhliche Stunde, und nachdem ich glücklich über die Strickleiter weg bin, die sie mir ersteigen half, steht es freilich ganz anders um Deinen Freund, lieber Eduard.

Ich werde nicht zum letztenmal über die wilden Blicke lachen, die ich umher warf, als ich nicht weit von La Trompete, der hiesigen Festung, aus dem Wagen stieg. Alle Augen, alle Kanonen, glaubte ich, wären auf mich gerichtet. Ich sah in jedem Vorbeigehenden – ärger als Rousseau auf seinen Spaziergängen – nur einen Spion, der meine Ankunft der Polizei anzeigen werde. Ich ging nicht, nein, ich zitterte von weitem meiner Chaise nach, die ich Bastian allein überließ auf die Post zu bringen und bespannen zu lassen – aber die Gasse dahin wollte kein Ende nehmen. Indem stürzte ein Trupp Matrosen, denen man es deutlich ansah, daß sie sich so wenig um mich, als um die ganze Welt bekümmerten, mir aus einer Taberne in den Weg. Sie schwenkten ihre runden Hüte und jauchzeten einmal über das andere mit stammelnder Zunge: Es lebe Katharina die Zweite! Der Name dieser großen Frau fiel mir kaum in die Ohren, so vergaß ich Kammerdiener und Wagen, und überließ mich blindlings dem Zuge meines dunkeln aber mächtigen Zutrauens. Ich schloß mich dicht an die lustige Bande an, und so oft ich mich bemerkt glaubte, schwenkte auch ich meinen Hut und mischte herzhaft mein Vivat in das ihrige. So[246] taumelte ich in ihrer Gesellschaft zwei Straßen durch bis vor die Stadt an den Hafen, wo sie auf einmal Halt machten. Eine schöne gebietende Gestalt stand vor ihnen, dämpfte mit einem Wink ihr tobendes Geschrei und wies sie auf das Schiff, von welchem der Name ihrer Monarchin in goldenen Buchstaben mir über die Wellen entgegenglänzte, und dem sie sogleich auf einem Boote zuruderten.

Wie sich das Gedränge der grünen Jacken um mich her verloren hatte, stand ich nun einzeln, aber ziemlich außer Fassung, vor dem Kapitain, der, wahrscheinlich ein wenig verwundert, einen reinlichen Ueberrock unter seiner Mannschaft zu sehen, mich von Kopf bis zu Fuß mit ernsten Augen betrachtete. Da ich nicht von der Stelle wich und bei dem geringsten Geräusch scheu hinter mich blickte, fragte er mich endlich: ob etwas für mich hier zu thun sei? Ich trat näher, nannte mit leiser Stimme meinen Namen, der zum Glück für mich ihm nicht ganz fremd war, und bat aus gewissen Ursachen, die ich ihm schon noch entdecken wolle, vor der Hand nur um Schutz – – »Aber gegen wen denn?« fragte er ungeduldig – »Gegen die wollüstigen und grausamen Kapitouls zu Toulouse,« zischelte ich ihm zu, »und ihre hiesigen Spione.« Nach einem kurzen Besinnen gab mir der brave Mann einen Wink, ihm auf das kleine Fahrzeug zu folgen, das bereit war, ihn überzusetzen.

O wie gern gehorchte ich! Hätte Bastian nicht besser Acht auf mich gehabt, als ich auf ihn, so wären wir vielleicht so bald nicht wieder zusammen gekommen. Er schrie vom Ufer uns nach, bat und erhielt die Erlaubniß, mit einzusteigen. Wie geschwind verzog sich meine bisherige Brustbeklemmung. In welche Freude ging sie nicht über, als ich bald nachher mich in der Kajüte meines Beschützers, zwar nur auf Bretern, die aber mit dem Gebiet einer mächtigen Monarchin zusammen hingen, allen und jeden Nachstellungen des festen Landes entrissen sah. Dieses schöne Gefühl entwickelte zuerst die heroische Frage in mir, ob es nicht möglich und mir am besten gerathen wäre, unter Russisch-Kaiserlicher Flagge allen gesetzlichen Ungeheuern des französischen Labyrinths zu entwischen.[247] Ich legte diesen Wunsch am Ende meiner Geschichtserzählung dem lieben Kapitain aus Herz. Er hörte meinen Vortrag mit gütiger Aufmerksamkeit an – schwieg ein Weilchen, schien aber den Zusammenhang der Sache sehr wohl begriffen zu haben. »Wohin wollen Sie denn eigentlich?« fragte er. »Ja, mein Gott, nach Leyden,« antwortete ich, »wenn anders Ihr Weg Sie da vorbei führt. Ich bin auf dem Meere nicht ganz orientirt.« Es war dem lieben Manne Ernst, nur zu helfen. Das sah ich ihm an. Er ging einigemal nachdenkend mit langsamen Schritten auf und ab in der Kajüte, ehe er mir Antwort gab, die aber auch nun desto bestimmter und erfreulicher ausfiel. »Ich sehe zwar, mein Herr,« wendete er sich freundlich zu mir, »Ihre Lage nicht für so gefährlich an, als Sie; damit Sie jedoch nicht sagen können, Sie hätten Ihr Zutrauen vergebens auf einen Russen gesetzt, so will ich es, so gut ich kann, zu verdienen suchen. Wenn Sie mit Kost und Quartier auf meinem Schiffe zufrieden seyn wollen, so lassen Sie nur heute noch Ihre Bagage an Bord bringen. Es hat seine völlige Ladung, und würde bereits auf der hohen See seyn, wenn ihm der Wind so günstig gewesen wäre, als er für Sie zu werden scheint; denn sollte er diese Nacht sich nur noch um einige Grade verstärken, so kann ich vielleicht schon morgen aus dem Hafen laufen, und will gern Ihrem Wunsche gemäß meine Segel nach der Holländischen Küste richten, um Sie dort aus Land zu setzen. Auf dem offenen Meere giebt es für uns andere keinen Umweg. Das ist kurz und gut meine Erklärung.« Seine menschenfreundliche Großmuth rührte mich bis zu Thränen. Es ist so selten, unter den sogenannten Weltleuten auf einen zu stoßen, der an unserm Schicksale thätigen Antheil nimmt. Ich ergoß mich in so wortreiche Danksagungen, daß er mich vor Ungeduld mit der Frage unterbrach: »Ob mir sonst noch etwas zu wünschen übrig sei?« »Nicht das mindeste,« antwortete ich, »als daß es mir lieb wäre, da mir der Wind noch Zeit dazu läßt, wenn ich mittlerweile die Stadt besehen, die Bordeauxer Weine durchkosten und noch eine und andere Einrichtung zu meiner Seereise machen könnte. Darf ich mich aber wohl mit Sicherheit an[248] das französische Ufer wagen?« »Ueber mein Schiff hinaus,« erwiederte er, »reicht zwar meine Gewalt nicht, doch will ich gleich eine Mittelsperson zu Hülfe rufen.« Auf seinen Wink trat nun sein Kommißschneider mit einem Pack grüner Uniformen herein. Er brauchte nicht lange zu messen, denn die kleinste darunter, die er meinem Körper anpaßte, saß nach seinem Kunstausdrucke wie angegossen. Es machte mir eine kindische Freude, mich im Angesichte des freien Weltmeers zu einem Russischen Seeofficier eingekleidet zu sehen.

Ich stellte mich mit stolzem Anstand vor den Spiegel, und warf mich nicht schlecht gegen das intolerante Frankreich in die Brust. »Jetzt fehlt Ihnen,« sagte der scherzhafte Kapitain, »um dem ganzen Toulouser Kapitol die Spitze zu bieten, nichts als ein Blatt Papier zu Ihrer Legitimation in der Tasche – ein Patent, das ich Ihnen als Schiffs-Lieutenant ausfertigen will.« »Doch nur titular?« fiel ich ihm erschrocken in die Rede. »Nicht anders!« versetzte er lachend. »Denken Sie denn, daß ich den Dienst so schlecht verstehe, dem ersten, besten Passagier das Kommando am Steuerruder anzuvertrauen? Man kann mit einer gewissen Portion Eigendünkel eher wohl die Segel eines kleinen Fürstenthums dirigiren, wenn es auch hier und da leck ist, als das geringste Schiff, das dem Russischen Staat dient.« Er warf bei diesen Worten einen Blick, den ich mir merken will, in die Ferne, der viel zu sprechend war, um ohne Bedeutung zu seyn. »Wen traf dieser Blick, Herr Kapitain,« fragte ich, »wenn ich es wissen darf?« »Warum nicht? Er galt wohl gar einem Ihrer Bekannten –« erwiederte er. »Doch gewiß,« schob ich geschwind ein, »keinem meiner Freunde, das will ich im voraus beschwören.« »Einem,« fuhr er fort – – –

Aber o Ihr, die Ihr mich bis zu dieser Zeile geduldig auf meinen Spazier- und Irrgängen begleitet habt, Euch, meine vortrefflichen Leser, muß ich jetzt einige Augenblicke still zu stehen bitten, denn ich selbst stehe zum erstenmal in meinen Wanderungen vor einem Oha, über das ich nicht wegzukommen weiß. Ein heimtückischer Zufall hat mir die meisterhafte Zeichnung meines Russischen[249] Freundes entrissen, und den lustigsten Text von der Welt durch eine Lücke unterbrochen, die ich leider! jetzt nur mit einer kläglichen Note auszufüllen im Stande bin.

Diese Verlegenheit thut mir doppelt wehe, weil sie mich zugleich nöthigt, ein Geheimniß auszuplaudern, das ich mit mir ins Grab zu nehmen gedachte. Das Schicksal, scheint es, will mir nicht vergönnen, das Geringste vor Euch auf dem Herzen zu behalten. Es liegt, ich weiß es, manches Räthselhafte noch in meinem Tagebuche, das Eurer Aufmerksamkeit wohl schon oft anstößig gewesen seyn mag; doch davor darf mir nicht Angst seyn, denn in einigen Tagen, hoffe ich, wird Euch auch das Widersprechendste unzweideutig und klar, wie die Wahrheit, vor Augen stehen.

Ob aber die kräftige Schilderung des Unbekannten je wieder an das Licht kommen werde, das sie so sehr verdient, muß ich, ohne es ganz zu bezweifeln, allein der künftigen Zeit überlassen, denn die meinige ist, – und das eben war, wie ihr alleweil hören sollt, mein Autorgeheimniß, – verlaufen.

War es ein Anfall von Eitelkeit, falsche Scham eines jungen flüchtigen Gesellen, oder Nachahmungssucht – ich lasse es unentschieden, die mich, nach meiner Zurückkunft in Berlin, auf den tollen Einfall brachte, meine Selbstbekenntnisse, wie Jean Jaques die seinigen, unter Schloß und Siegel zu legen, und, gleich ihm, zu verordnen, daß mein Erbe ihnen erst zwanzig Jahre nach meinem Ableben Luft mache.

Ein Augenblick Ueberlegung brachte mich, wie ich denke, auf einen klügern Entschluß. Wärest du, sagte ich mir, auch nothdürftig zu entschuldigen, Possenspiele mit deinen Zeitgenossen zu treiben, die es nicht mir längst an dich gebracht, sondern auch das Wiedervergeltungsrecht noch immer in Händen haben, so sähe es doch einer Poltronnerie sehr ähnlich, wenn du dich erst aus dem Staube machen und der Nachwelt gleichsam hinterrücks deine Schneebälle aus einer Entfernung in das Gesicht werfen wolltest, in der sie dich nicht mehr erreichen kann. Und ist es denn nicht, fuhr ich ernsthafter fort, mehr als zu bekannt, wie pflichtvergessen[250] der Freund, dem der große Mann die Herausgabe seiner Konfessionen übertrug, die strenge Frist verkürzt hat, die Rousseau der Neugier seiner Hinterbliebenen auflegte? Aber gesetzt auch, eine solche Untreue wäre mit den deinigen nicht zu befürchten, bleibt es denn nicht noch immer die Frage, ob die klugen Leute, denen du die Vollstreckung deines letzten Willens in einer Zeitperiode zuwälztest, die sich wahrscheinlich von der gegenwärtigen durch den geläutertsten Geschmack auszeichnen wird, – ob sie, sage ich, dein Testament nicht als inept erklären und deinen armen entsiegelten Papieren, statt ihnen den kostbaren Weg in das Gebiet der Makulatur zu eröffnen, den weit kürzern hinter den Herd anweisen würden? Solche vornehme Wagstücke, gestand ich mir offenherzig, sind nicht für einen Schriftsteller, wie du bist.

Diese vielseitigen Ansichten der Sache brachten mich endlich auf einen Ausweg, bei dem ich stehen blieb. Wäre es denn nicht sicherer, zischelte ich mir ins Ohr, gemächlicher für dich und ehrlicher gegen deine Mitbürger gehandelt, wenn du ihnen, während du noch auf ebenem Boden mit ihnen wandelst, die offenherzigen Berichte von der übeln Wirthschaft ablegtest, die du, jedoch zum Glück nur wenige Monate, in einem sittenlosen Lande mit deiner Zeit getrieben hast? und um sie nicht auf einmal zu erschrecken, die zwanzig Hungerjahre, zu denen Rousseau im Laufe seiner Unsterblichkeit das lesende Publikum verdammte, auf das jugendliche Spielwerk ausdehnest, das du ihm preis zu geben gesonnen bist? Dadurch bekommen deine Begleiter nicht nur Zeit zu verschnaufen, sondern der Stern deiner Autorschaft zu gleich einen hübschen Spielraum, den Kometen, die inzwischen an dem litterarischen Himmel aufbrausen, und ihn leicht in ihren Schweif verwickeln könnten, ehrfurchtsvoll und so lange aus dem Wege zu treten, bis sie ihre blendende Laufbahn durchschnitten haben. Wirklich habe ich durch diese kluge Wendung seinen völligen Untergang aufgehalten. Wie viele prächtige Meteore sind nicht in diesem langen Zeitraum durch den Aether gezogen, verschwunden und vergessen, und das meinige blinkt noch in der zwanzigsten Leipziger Messe, tritt noch einmal aus dem Nebel hervor, in welchen es sich oft hüllte, und lächelt[251] noch hier und da einem alten Bekannten so freundlich ins Auge, als ehemals meinem nun längst verewigten Freunde Eduard, dem seine ersten Stralen gewidmet waren.

Mit welchem wehmüthigen Vergnügen sehe ich auf jene Morgenstunden zurück, wo ich ihm das Votivgemälde vorhalten konnte, das ich in der Ferne aus tausend heterogenen Farben für Ihn zusammengesetzt hatte. Es war eine freundschaftliche Beschäftigung, eine augenblickliche Zerstreuung in der bänglichsten Zeit, die je über Berlin geschwebt hat – in der Krankheits-Epoche unsers großen Monarchen. So saß ich denn auch, gerade vier Wochen vor seinem völligen Verlöschen, nach einem mäßigen Frühstück meinem Freunde gegen über, und langte von den letzten Heften meiner Reise, die hinter meinem Sitze auf einem Ecktischchen lagen, einen nach dem andern mir zu, wie ihn die Reihe traf. Meine Vorlesung war bis auf gegenwärtigen, und bis zu der Zeichnung vorgerückt, die ich kurz vorher meinem Zuhörer, der sich auf dergleichen Malereien besonders verstand, als ein Meisterstück angekündigt hatte; aber kaum waren ihm die ersten Grundlinien davon sichtbar geworden, so erhob sich ein Wirbelwind in dem größten Ungestüm von der Gasse, der Thüren und Fenster aufriß, und indem ich eben nach diesem, noch übrigen Abschnitt meines, unserer heutigen Unterhaltung gewidmeten Vortrags greifen wollte, mir ihn unter den Händen wegnahm. Hätte ich nicht zum Glück den Ueberrest meiner Handschrift zu Hause gelassen, es wäre ihm nicht besser ergangen, und mir nichts übrig geblieben, als meine Boutique zu schließen.

Kein spielendes Kind, dem sein papierner Drache entwischt, kann bestürzter ihm nachblicken, als ich meinen fliegenden Blättern. Ich sah sie über die Dächer hin, bald an diesen, bald an jenen Schornstein anprallen, sinken und steigen, und endlich ganz aus meinem Gesichtskreis verschwinden. Während meines vergeblichen Hinstaunens in den leeren Raum, hatte Eduard, thätiger und gefaßter als ich, alle dienstbaren Geister seines Hauses aufgeboten, den politischen Steckbriefen nachzueilen. Ihr erzeigt allen ehrlichen Leuten den wichtigsten Dienst von der Welt, wenn ihr sie auffangt,[252] schrie er ihnen nach. Umsonst! nach einer Stunde kamen die Abgeordneten athemlos, beschmutzt und mit leeren Händen zurück.

Der Wind, – entschuldigten alle ihre mißlungene Hetze – wäre zu arg. Dem hätte er die Kappe, jenem den Athem genommen, und allen so viel Staub in die Augen gestreut, daß ihnen Hören und Sehen vergangen sei. Wir schickten sie demungeachtet, sobald das tobende Wetter vorbei und die Luft rein war, zum zweitenmal aus, ließen überall in den Häusern der Gesandten, in den Trödelbuden, in den Kramläden, und in dem königlichen Schlosse den verlornen Papieren nachstellen, aber mit gleich wenigem Erfolg, und eben so vergebens habe ich in den zwanzig Jahren, die zwischen jenem Tage und dem heutigen liegen, auf den glücklichen Zufall gelauert, der sie mir zeitig genug wieder bringen sollte, um sie meinen guten Lesern noch mittheilen zu können. Welchem staubigen Winkel mögen sie zugeflogen seyn? Ach vielleicht doch verwahrt sie das Pult eines ehrlichen Finders, der sie wohl längst ihrem rechtmäßigen Eigentümer zugestellt hätte, wäre er ihm nur bekannt gewesen. Freilich käme jetzt jedes Einschiebsel zur Vollständigkeit meines armen Tagebuchs zu spät, das, wie ich meinen Lesern schon vertraut habe, mit der dießjährigen Ostermesse sein Ende erreicht.

Da indeß diese merkwürdige Zeichnung auch an jedem andern Orte der Ausstellung immer noch werth bleibt, so kann ich um so viel mehr dieß Original, das sich selbst mit Hülfe des Windes vogelfrei gemacht hat, allen Journalisten und Sammlern fliegender Blätter, wenn es ihnen vorkommen sollte, zu einem nicht gemeinen Lückenbüßer empfehlen. Die Zeit hat ja schon manches Dokument ans Licht gebracht, was man Jahrhunderte hindurch für verloren erklärte.

Irre ich nicht, so ist ja ein Brief des Cicero ad familiares durch den Pergament-Band eines alten Kalenders und eine mangelhafte Stelle in dem Petron durch den Umschlag einer päbstlichen Bulle ergänzt worden, und kann ich mich denn nicht auf meine eigene Erfahrung berufen? Hätte sich der französische Hof wohl träumen lassen, daß die Briefe der Königin Anna an ihren Beichtvater[253] irgendwo noch versteckt lägen und nach Verlauf eines Säkulums einem Reisenden in die Hände gerathen würden, der an sie am allerwenigsten dachte. – – – –

Wenn er nur wüßte, – – – fährt meine Handschrift fort; – – – aber indem fing die Schiffsuhr zu schlagen an. Der Kapitain verließ mich, um seine Befehle für die laufende Stunde auszugeben. Um keiner beschäftigten Hand im Wege zu stehen, setzte ich mich auf das Verdeck, machte mir einen Sitz von Tauen und Segeln zurechte und zog, um mir in Ermangelung besserer Gesellschaft die Zeit mit meiner eigenen zu vertreiben, den gangbaren Heft meines Tagebuchs aus der Tasche. In diesem Portefeuille deiner Erfahrungen, lächelte ich es an und schlug die Hand darauf, hast du nun schon eine ziemliche und mehr als hinlängliche Sammlung medicinischer und philosophischer, theologischer und artistischer Windbeutel niedergelegt. Zu ihrer Vollständigkeit fehlte dir nur noch ein politischer Den hat dir nun unerwartet ein unpartheiischer Mann in die Hände geliefert. So flüchtig auch seine Zeichnung seyn mag, (ach wäre sie nur nicht gar verflogen!) so sticht doch der Dünkel des Portraitirten mit zu vieler Wahrheit vor, um nicht ähnlich zu seyn. Warum wolltest du sie nicht in deinem Bilderbuche aufnehmen, das, nach deinen eigenen Menschlichkeiten, nichts so deutlich zur Schau stellt, als die, allen Gauklern gemeine Physiognomie des Hochmuths, die, wie es scheint, meinem vornehmen Kapitain so widerlich ist, als meiner Wenigkeit. Die Nilratze kann unmöglich eine stärkere Antipathie gegen Krokodille haben, als ein natürliches, mit edlem Stolze begabtes Herz gegen aufgeblasne Menschen. Man kann doch gewiß nichts geringeres seyn, als ich jetzt bin, aber auch in mir schlägt ein solches Herz und ich vertauschte es nicht, selbst gegen den Zepter nicht eines königlichen Prahlers. Meinem Kapitain sah man es an der Stirne an, daß er seinem wichtigen Posten eben so gewachsen war, als er ihm mit Bescheidenheit vorstand. Er wußte nicht nur zu befehlen, sondern auch zu lenken. Dafür aber genoß er auch Achtung und Zutrauen vom Höchsten bis zum Geringsten.

Sein Schutz gab mir Zuversicht, seine Herablassung erhielt[254] mich in Demuth, seine Freundschaft erhob mich. Er, ein Sprosse des edeln Geschlechts von Kosodawlew,1 das dem Staate schon manchen klugen Kopf und brauchbaren Diener gezogen, flößte mir eine so große Liebe zu seiner Nation, so tiefe Ehrfurcht für seine Monarchin ein, daß, hätte ich nicht gehörige Rücksicht auf mich genommen, mir wohl auch der Schwindel über meinen neuen unverdienten Titel hätte zu Kopf steigen können.

Als ich jenes Bild in meine Gallerie aufgehängt hatte, blieb mir für heute nichts zu besorgen übrig, als Abschied von der großen Nation zu nehmen. Ich steckte mein Patent ein, setzte mich auf einen Fischerkahn, und stieg mit festem Muth ans Land. Eine der schönsten Städte Frankreichs breitete sich nun vor meinen Blicken aus, ich gab aber weniger auf ihre Häuser und Plätze, als mit heimlichem Lächeln auf die Huldigung Acht, die alle Vorübergehenden meiner Uniform erzeigten. In meinem Leben ist der Hut nicht so oft vor mir gezogen worden. Die allgemeine Verbeugung vor der großen Frau, der ich zu dienen den Anschein hatte, machte mir es begreiflich, wie manche ihrer wirklichen Diener, wenn sie andere Höfe und Länder besuchen, auf Stelzen einhertreten, und ich möchte sie beinah entschuldigen, wenn es mir möglich wäre, der Schwachheit des Stolzes das Wort zu reden, oder sein Vordrängen auf meinen geraden einfachen Lebensgang mit Gleichmuth zu ertragen.

Ich gehöre, wie sich das so ziemlich aus meinem lachenden Hinstaunen in die Welt ergiebt, gewiß nicht zu der Klasse der Friedensstörer; wer mich aber aus Ursache seines Eigendünkels beleidigt – jede andere kann ich eher vergeben – mir, um mich zu hänseln, Wasser in meinen Wein mischt, darf sich nicht wundern, wenn ich, ohne lange daran zu schlucken, den unreinen Trank ihm[255] in das Fratzengesicht sprudele. Nicht etwa erst als russischer Titular-Schiffs-Lieutenant, sondern schon längst habe ich in meinen häuslichen, politischen und litterarischen Verhältnissen das System angenommen, das meine anscheinende Gebieterin zur Sicherung der ihrigen erfunden hat – das System der bewaffneten Neutralität. Es ist von allen, die ich kenne, gewiß das beste. Wir sind beide, wenn ich meine Kleinheit neben ihre Größe setzen darf, zu gutmüthig, um nicht jedem seine Sturmhaube, oder seine Schellenkappe zu gönnen, so lange er seinen eigenen Spaß damit treibt; aber niemand in der großen Welt darf seine Lanze gegen sie, und in der kleinen seine Peitsche gegen mich aufheben, wenn ihm seine Haut lieb ist.

Du siehst, Eduard, daß ich in dieser Rücksicht meinem Officiershute so viel Ehre mache als Sie ihrer Krone.

Während ich mich aus einer Gasse in die andere drehte, als wenn ich sie der Länge und Breite nach ausschreiten wollte, die Weinhändler, die hier jeden Fremden schon von weitem als einen Einkäufer anlächeln, durch mein Gesicht voll Würde in ihre Kellerstuben zurückschreckte, und den Policeidienern, ohne daß sie es ahndeten, in Gedanken Trotz bot, besorgte Bastian meine letzten Geschäfte mit vieler Einsicht.

Er kaufte für mein Bedürfniß, wie er glaubte, Lord Ansons Reise um die Welt, und ein paar englische Halbstiefeln, und verhandelte meine gepriesene Berline, als unnöthig zur See, an den Miethkutscher des Preußischen Konsuls, unter der Bedingung, meine Habseligkeiten noch umsonst bis an das Ufer zu fahren. Er selbst ging mit meinem Puderbeutel in der Hand voran, den ich seiner besondern Sorgfalt um deßwillen empfohlen hatte, weil er, wie ich Dir wohl jetzt vertrauen kann, einen Schatz für mich, die Schnittlinge nämlich meines in der Uebereilung der Furcht kastrirten Tagebuchs enthält. Sonach verlasse ich nicht nur um vieles leichter, als ich gekommen bin, sondern auch ungleich einiger mit mir selbst, ein Land, von dem, genau besehen, ich nichts mitnehmen möchte, als das Sonnenthal und Agathen. – Die Dämmerung erinnerte mich zur rechten Zeit an den Vergang meines militairischen Urlaubs.[256] Ich schüttelte, wie ein Apostel, mir den Staub von den Schuhen, wendete beim Eingang des Hafens noch einmal mein zufriedenes freies Gesicht nach der größten der unzähligen Trompeten dieses, in allen Dingen, hoch trabenden Reichs, nach der Festung der Stadt, als nach dem letzten Gränz- und Markstein, den ich nicht sowohl zwischen mir und dem prahlerischen Gallien, als vielmehr in stiller Hinsicht auf mein künftiges Leben, zwischen dem französischen Leichtsinn und dem deutschen Ernst setzte. Ach welche reuige Empfindungen, gutmüthige Gefühle und meines Vaterlands würdige Vorsätze bewegten mein Herz, indem ich über die auf dem kräuselnden Strom gebrochenen Stralen des Abendsterns, den ich reiner und freundlicher nirgends erblickt habe, zurück nach meiner Garnison fuhr.

Es war mir, wie einem, der seiner Besinnung lange beraubt, ihrer nun seit kurzem mächtig geworden, und mit freudigem Zittern, in der Hoffnung, nie wieder zu kommen, dem Tollhause entschleicht.

Das erste Wort meines Befehlshabers, als ich in seine Kajüte trat, wo er so tiefsinnig über einer Seekarte schwebte, als ein Denker über einem moralischen Werke, war ein Lob auf den herrlichen Wind. Als Schiffs-Lieutenant, glaubte ich, müßte ich Ehren halber mit einstimmen; es schien aber, der gute Mann errieth mich. Er zeigte mir auf der Karte den Weg nach Petersburg und sprach so gleichgültig davon wie von einer Spazierfahrt, tröstete mich freilich dadurch über meinen Katzensprung nach Holland, aber nur halb, denn es lief mir schon beim Anblick des leer gelassenen Papiers der Meeresfläche, das doch gewiß mehr Unfälle bedeckt, als alle angränzende Länder, die mir grün und gelb vor den Augen flimmerten, ein kalter Schauer über den Leib. Ich berechnete die entsetzliche Tiefe und daß ich nur waten, aber nicht schwimmen könne. Das große kaiserliche Schiff verkleinerte sich in meinem Gehirne zu einer zerbrechlichen Schachtel – die mich – als wenn es in meinem täglichen Bette viel anders wäre, – nur im Schweben zwischen Zeit und Ewigkeit hielt. Denke nur: mitten in diesen ernsten Gedanken fällt mir noch, zu meinem Unglück, der gräßliche Sturm ein, den der Anspachische Theodor in seinem[257] wirbligen Kopf erregt hat. Ein schlechtes, lächerliches Vorbild, ich weiß es, das sich aber dennoch meine Phantasie nicht wehren läßt so täuschend auszumalen, als es nur ein Stück von Vernet seyn kann. Wenn das Schiff stranden sollte – ach, ich fände kein Bret, worauf ich mich, oder meinen Namen retten könnte; denn auf Votiv-Tafeln, den Schutz der Heiligen und auf die Gebete der Mönche darf ich, wie es wohl andere thun, am wenigsten rechnen. Ich habe es nicht um sie verdient. Hat mich nicht schon das bloße Bild des einen zu Cotignac in die Toulouser Händel und in das Wagstück verwickelt, dem ich mich jetzt preis gebe? Mein Gott! wie ich zittere und schwatze; aber setze Dich nur, lieber Freund, einen Augenblick an meine Stelle. Ich weiß ja nicht, wie ich mich anders über den ungewohnten Lärm betäuben soll, der auf dem Schiff herrscht. Welcher Unterschied zwischen meinem heutigen Abend und jenem Mittag auf der Fregatte des Voltaire.

Dort hörte ich nur Witz sprudeln und lachte über das denkende Wesen an meiner Seite. Hier hingegen gellen mir die Ohren von nie gehörten Kommando-Wörtern – von Matrosen-Flüchen, Hämmern, Klirren und Poltern, bald über, bald unter mir. Was das alles für Anstalten sind, um bis zu einer Holländischen Treckschüte zu gelangen! So muß der arme Mensch überall dulden, harren und mit Unruhen kämpfen, ehe er ein häusliches langweiliges Glück erreicht.

Sähe ich nur schon die großen Augen meines Jerom, wenn ich ihn in meinem Seekostüm überfalle. Was wird er denken, ehe er erfährt, daß nichts solides dahinter steckt! Es sind noch nicht fünf Monate, seit er auf dem Münster zu Straßburg meinen Glauben an den thierischen Magnetismus so spöttisch behandelte. Ach wie viel unglaublichere Charletanerien habe ich nicht in der kurzen Zwischenzeit erfahren! Ich höre im Geiste sein Gelächter, wenn ich sie ihm erzählen werde. Erzählen? Ich ihm? O ich armer, geplünderter, halb verbrannter, halb verschnittener Autor! Woher sollte mir der Stoff – und was meiner Vergeßlichkeit zu Hülfe kommen? Der kleine Rest meines Tagebuchs? die Haarwickel in meinem Puderbeutel Ist es wohl der Mühe werth,[258] daß sie sich über dem Wasser halten? Ach, mag sie doch meinetwegen der Rachen eines Wallfisches verschlingen, wie den ehrlichen Jonas. Ich verlange nicht einmal, daß er sie wieder ausspeie, sobald sie mich nur nicht nachziehen. Doch eben höre ich den Kapitain befehlen, daß die Mannschaft sich schlafen lege, die nicht angestellt ist.

Das gilt auch mir. Ich gehorche.


Am Bord des Schiffs Katharina die Zweite,

den 8ten März.


Mein erster Versuch mit der Hangematte ist glücklicher abgelaufen, als ich glaubte. Geist und Körper fühlen sich gesund, und mit meinem Wohlbehagen ist auch mein Muth gestiegen.

Der Wind – Ich würde ihm zwar nicht trauen, aber mein Kapitain sagt – und das ist mir genug – er wäre so gut, als ein Seemann ihn wünschen könne. Schon werden die Segel gespannt, die Anker gehoben und das Steuer-Ruder von der erfahrnen Hand eines Seehelden gefaßt, dessen edle bescheidene Miene schon Ehrfurcht und Vertrauen einflößt, der das Leben und Glück der Menschen zu schätzen weiß, die seiner Leitung überlassen sind, seinem wichtigen Beruf ohne Großsprecherei als ein ehrlicher Mann vorsteht, manchen Sturm mit Festigkeit und Klugheit bekämpft hat, ohne ihn in Journalen zu beschreiben, oder mit so grellen Farben zu schildern, wie der Anspachische Schmierer hinter seinem Dachfenster das berühmte Revolutions-Gemälde, das zwei Ellen und einen Daumen groß, aber schlecht erfunden und keinen Heller werth war. O welch ganz anderes Kolorit hat die Wahrheit, und wie glücklich ist ein Passagier, der, wie ich, einen scharfsichtigen Kapitain am Kompaß – einen erfahrnen Steuermann am Ruder weiß! Sei es ein Kriegs- oder Kauffartheischiff, sie bringen es gewiß glücklich in den Hafen. In solchen hoffnungsvollen Gedanken ruhte mein Blick auf dem ehrlichen Gesichte des alten Schiffers, der sie mir eingab, als Kosodawlew bei uns vorbei in seine Kajüte eilte, um das Signal zur Abfahrt zu geben. Er[259] nahm mich bei der Hand mit sich. »Munter, munter, Herr Lieutenant!« sagte er scherzend. »Mein dirigirender Minister dort nimmt es mit allen Winden der Erde, und meine große Kaiserin mit allen Schutzheiligen in der Legende auf.« Und ich, während er veranstaltet, daß man Ihre Flagge aufstecke, sitze andächtig an meinem schwankenden Schreibpultchen, und bete es ihm nach:


Vom Borysthen bis zur Garonne,

Vom Wolgastrom bis an den Belt

Durchschwebt Ihr Name wie die Sonne

Wohlthuend jeden Theil der Welt,

Und angelacht von Ihrem guten

Gestirn, ruft mir mein Vaterland:

Verlaß ein Reich, das Rauch und Tand,

Um Gott zu blenden – Wünschelruthen

Zum Richtscheid der Gesetz' erfand,

Das einen Greis dem Grab entwand,

Um auf dem Rade zu verbluten.

Schon hebt Aurorens Rosenband

Mein freies Schiff, schon fliegt der Strand,

Wie Cäsar stürz' ich in die Fluthen

Mein liebes Tagbuch in der Hand.2


Fußnoten

1 Diesen edeln Namen borgte der Reisende für seinen idealisirten Schiffs-Kapitain, dem verehrten Manne ab, der jetzt als Minister des Innern am Ruder des Russischen Staats sitzt, in dankbarer Erinnerung an die vortreffliche Uebersetzung des Gedichts Wilhelmine, die Er, auf das für den deutschen Autor so schmeichelhafte Verlangen Katharina der Zweiten, unternommen, und 1785 seinen Landsleuten durch den Druck bekannt gemacht hatte.


2 Der Autor bewahrt noch jetzt, am Ende seiner Laufbahn, in seinem Herzen das Andenken an diese große verewigte Monarchin, und die ihm von Ihrer Hand mancherlei zugeflossenen Gnadenbezeigungen. Folgende schmucklose Worte, die er mehrere Jahre vorher, ehe Sie von dem Schauplatz ihrer ruhmvollen Thaten abtrat, an seine erhabene Wohlthäterin gelangen ließ, so wenig Anspruch sie auch sonst auf das Interesse des lesenden Publikums machen können, werden doch wenigstens – das rechtfertige sie – seine dankbaren Empfindungen, durch den Stempel der Wahrheit beurkunden, den er ihnen aufgedrückt hat:

Ew. Majestät haben mich in meinem stillen Museo mehrmalen mit den großmüthigsten Beweisen Allerhöchst Ihrer Gnade zu überraschen gewürdigt. Da ich sie mir keinesweges als Belohnungen zueignen durfte, so habe ich sie mit dem demüthigsten Dank als Folgen des großen Charakters betrachtet, der Ew. Majestät auszeichnet, und habe im Stillen den umfassenden Geist bewundert, der eben so liebreich den Wissenschaften begegnet, als er mächtig und allgemein auf sein Zeitalter wirkt. Ich gehe oft der thätigen Hand mit Erstaunen nach, die mit gleicher Fertigkeit, den Plan eines Gesetzes, und den eines Schauspiels entwirft, und der kein Gebiet zu entfernt, kein Zirkel zu klein ist, wo sie eine Nation beglücken – oder ein häusliches Vergnügen befördern kann. Ew. Majestät haben das Geheimniß wieder gefunden, das seit Augusts Zeiten verloren war, aber wie sehr haben Sie es nicht, große Frau, unter Ihren Händen verschönert!

Mit dem Stolze, den mir der Gedanke einflößt, ein litterarischer Zeitgenosse Ew. Majestät zu seyn, habe ich die Ehre in der tiefsten unbeschränktesten Ehrfurcht zu ersterben


Ew. Kaiserlichen Majestät

allerunterthänigster aller gehorsamster

Th.

Gotha

den 6. März 1793.


Quelle:
Moritz August von Thümmel: Werke, 4 Bände, Band 4, Stuttgart 1880, S. 260.
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