Erste Szene

[315] Ein Lohndiener ist am Kaffeetisch beschäftigt; ein zweiter öffnet die Flügeltüre links. Man hört Stimmengewirr, Stühlerücken. Dann kommen durch die Flügeltüre Bolland mit Frau Beermann, Beermann mit Frau Bolland, Dr. Hauser mit Effie, Wasner mit Frl. Koch-Pinneberg; Dobler. Allgemeines: Mahlzeit! Wasner teilt nach allen Seiten turnerische Händedrücke aus; geht zu Frau Beermann: Ich wünsche gesegnete Mahlzeit! Die Diener servieren Kaffee. Beermann ist mit Bolland nach vorne gegangen.


BOLLAND. Sie kriegen zweitausend Stimmen mehr als der Sozialdemokrat. Das ist sicher.

BEERMANN zweifelnd. Na – na!

BOLLAND. Wenn das ganze liberale Bürgertum mit den Konservativen zusammengeht? Ich bitte Sie!

BEERMANN vom Diener eine Kaffeetasse nehmend. Wenn ...

BOLLAND. Der Zusammenschluß ist da. Er ist die natürliche Entwicklung. Glauben Sie einem Praktiker: die Zeit für Nüancen ist vorbei; es geht um den Besitz.

WASNER ist hinzugetreten. Und ganz Deutschland schart sich um die nationale Fahne.

BEERMANN. Aber wir haben doch überall Widersprüche. Ich merke es am besten an dem, was ich nicht sagen darf.

BOLLAND. Wieso?[315]

BEERMANN. Zum Beispiel übermorgen im freisinnigen Wahlverein. Da darf ich doch nicht das gleiche reden wie gestern bei den Konservativen?

BOLLAND. Im Detail natürlich nicht. Aber im Grunde genommen ist es dasselbe.

BEERMANN trinkt. Ist es dasselbe? Wissen Sie, ich bin schon ganz konfus von dem Lavieren.

EFFIE ruft vom Kaffeetische her, wo sie bei den übrigen steht. Papa! Siehst du, Frau Bolland sagt auch, daß die indische Tänzerin so interessant ist.

FRAU BOLLAND. Rasend interessant! Man begreift mit einem Male das ganze Indien!

EFFIE. Warum sind wir noch nicht hingegangen?

FRAU BOLLAND. Aber Sie müssen hingehen! Mir hat Professor Stöhr gesagt, er hat noch nie so was Großartiges gesehen.

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Sie wirkt so als Fleck.

FRAU BOLLAND. Ich habe nicht geahnt, daß indisch so hübsch sein kann.

BEERMANN. Wir können sie ja mal ansehen.

EFFIE. Aber sie tritt nur noch morgen auf.

BEERMANN zum Zigarrentisch gehend. Schön. Dann erinnere mich morgen daran. Nimmt eine Kiste und bietet dem zunächststehenden Dobler an. Rauchen Sie?

DOBLER nimmt. Ja, aber Importen bin ich eigentlich nicht gewohnt.

BEERMANN wohlwollend. Das gute Leben lernt sich schnell.

BOLLAND zu Dobler. Sie sind noch nicht lange hier?

DOBLER. Seit zwei Jahren.

BOLLAND. Und vorher waren Sie in ... äh ...

FRAU BOLLAND. In Unterschlettenbach. Das weiß man doch ...

BOLLAND sich verbessernd. Natürlich. Aus der Literaturgeschichte. Es muß übrigens 'n sehr interessanter Ort sein.

DOBLER. Klein und sehr arm, Herr Kommerzienrat. Die meisten Leute sind Pfannenflicker.

BOLLAND. Sehen Sie mal! Das wußte ich gar nicht. So ... Pfannenflicker? Aber sagen Sie, wie kommt Ihnen dann das Leben hier vor? So ... Das großstädtische ... elegante?

DOBLER die Zigarre anzündend. Es gefällt mir gut. Aber es bleibt einem innerlich fremd.[316]

BOLLAND. Ungewohnt?

DOBLER. Es ist alles anders. Oft kommt es mir vor, als wäre ich nur rasch in ein prächtiges Haus gegangen, aber draußen wartet mein Kamerad, das alte Leben.

FRAU BOLLAND. Wun-der-voll! Das ist ganz wundervoll gesagt. Man sieht es förmlich. Überhaupt, Herr Dobler, ich muß Ihnen sagen, Ihr Roman! Mein Mann und ich, wir reden den ganzen Tag davon.

BOLLAND. Sagen Sie mal, der junge Mensch, der darin vorkommt; haben Sie sich da eigentlich selbst gezeichnet?

DOBLER. Es ist meine Jugend, ja.

BOLLAND. Aber doch mit dichterischer Phantasie ausgeschmückt?

DOBLER. M – ja.

BOLLAND. Zum Beispiel: Sie haben doch nicht wirklich gehungert?

DOBLER. Gewiß. Da ist nichts erdichtet.

BOLLAND. So wie Sie's geschildert haben? Daß Ihnen alles rot vorgekommen ist?

DOBLER. Daß mir alles rot vorgekommen ist. Ich habe einmal vier und einen halben Tag keinen Bissen gegessen.

FRAU BEERMANN bedauernd. Ach Gott!

FRAU BOLLAND. Das ist rasend interessant!

BOLLAND. Bitte, erzählen Sie uns genau. Es hat Ihnen geflimmert?

DOBLER. Ich sah alle Dinge wie durch einen Schleier, und alle Dinge hatten einen rosaroten Reifen. Und dann schwächte sich das Gehör.

BOLLAND. Soo? Das Gehör auch?

DOBLER. Ja. Wenn jemand neben mir sprach, das war so, als wenn es weit, weit entfernt wäre.

FRAU BOLLAND. Davon hat man nun eigentlich gar keine Ahnung!

BEERMANN. Und wie ging's weiter?

DOBLER. Wieso?

BEERMANN. Na, einmal müssen Sie ja doch wieder was gegessen haben?

DOBLER. Ich bin ohnmächtig auf einer Wiese gelegen und da hat man mich gefunden und ins Krankenhaus gebracht.

FRAU BEERMANN mit einem Seufzer. Daß es so etwas immer[317] noch geben kann!

FRAU BOLLAND. Ich bitte Sie, unter diesen Idealisten!

HAUSER. Die sind das nicht anders gewohnt.

BEERMANN. Wie haben Sie sich dann rausgemacht?

DOBLER. So nach und nach. Ich war Buchdrucker und habe Stellung gefunden.

BOLLAND. Das kommt auch im Roman vor. Aber, nicht wahr, das stimmt nicht, daß Sie als Handwerksbursch gereist sind?

DOBLER. Ich war dreiviertel Jahr auf der Walze.

FRAU BOLLAND. Walze! So was Echtes!

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Das stelle ich mir fein vor, als Handwerksbursch wandern.

DOBLER. Ja, wenn man soviel Geld hat, daß man sich wenigstens ein Stück Brot kaufen kann. Aber es kommt auch anders. Wir waren damals zu dritt und sind von Basel aufwärts, einmal links und einmal rechts über den Rhein. In Worms ging uns das Geld aus, und da war nichts zu machen, als fechten.

FRAU BOLLAND verständnislos. Was ist das? Fechten?

DOBLER pathetisch. Betteln, gnädige Frau. Betteln ums liebe Brot.


Alle schweigen. In die Stille tönt laut die Stimme des Dieners, der Liköre serviert: Cognac vieux! Fine Champagne! Chartreuse!


BEERMANN nimmt ein Glas. Einem gebildeten Menschen muß so was unangenehm sein. Was?

DOBLER nimmt ein Glas Kognak. Ja nu! Trinkt. Die Empfindlichkeit verliert sich. Das erstemal will's nicht gehen, aber dann lernt sich's. Einen heißen Tag auf der Landstraße, daß man jeden Nagel spürt. Und der Staub verklebt die Augen, und immer weiter und weiter. Dann kommt der Abend. Vor einem liegt das Dorf, aus allen Schornsteinen raucht es und heimelt an. Da zieht man den Hut und bettelt um die warme Suppe. Kleine Pause.

WASNER im tiefen Basse. Heimatkunst!

BOLLAND. Mich erinnert die Geschichte kolossal an meinen seligen Vater.

FRAU BOLLAND. Aber Adolf!

BOLLAND. Wenn ich dir sage ...

FRAU BOLLAND. Wie kann man so was vergleichen: Herr Dobler ist ein berühmter Dichter geworden.[318]

BOLLAND. Na, vielleicht kann man behaupten, daß es mein Vater auch zu was gebracht hat. Als er starb, standen über vierhundert Arbeiter an seinem Sarge.

FRAU BOLLAND ungeduldig. Das weiß man schon ... Herr Dobler, haben Sie schon als Handwerksbursche Gedichte gemacht?

DOBLER. Nein. Das kam später.

FRAU BOLLAND. Ich muß Ihren Roman gleich noch einmal lesen. Wo ich jetzt das Persönliche weiß ...

FRAU BEERMANN zu Wasner. Sie wollten doch singen, Herr Professor? Effie wird Sie begleiten.

WASNER. Wenn das gnädige Fräulein die Liebenswürdigkeit haben will ... aber ich weiß nicht, ob ich bei Stimme bin ...

FRAU BOLLAND. Sie singen so grrroß-artig!

WASNER im Abgehen. Aber die vielen Versammlungen jetzt! Die Politik ruiniert auch die Stimme.

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Machen Sie uns die Freude.


Frau Bolland, Frau Beermann, Wasner, Frl. Koch, Effie ab ins Musikzimmer.


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 315-319.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Moral
Moral: Komödie in 3 Akten: Komödie in drei Akten
Moral
Moral

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon