Erste Szene

[335] Assessor Ströbel; Aktuar Reisacher. Beide sitzen mit den Rücken gegeneinander. Ströbel links, Reisacher rechts. Ströbel liest in einer Zeitung. Reisacher schreibt.


STRÖBEL wendet sich halb um. Reisacher!

REISACHER ebenso. Jawoll, Herr Assessor?

STRÖBEL. Kennen Sie den Ausdruck: »Die Gewappelten?«

REISACHER. Jawoll, Herr Assessor!

STRÖBEL. Was soll das heißen: Die Gewappelten?

REISACHER. Das sind die Leut, die wo was sind und die wo Geld haben.

ASSESSOR. Ist in dem Wort eine Verachtung ausgedrückt oder Klassenhaß?

REISACHER lebhaft. Na – Na! Vor die Leut hat man Respekt.

STRÖBEL. Sie wissen es genau?

REISACHER. Jo – Jo! Beide drehen sich um.


Ströbel liest. Reisacher schreibt. Kleine Pause.


STRÖBEL mit halber Drehung. Reisacher!

REISACHER ebenso. Jawoll, Herr Assessor?

STRÖBEL. Es ist doch Klassenhaß.

REISACHER. Na – na!

STRÖBEL. Geben Sie mal acht! Hier heißt es Liest vor. »Für die Gewappelten gibt es natürlich kein Gesetz.« Das soll doch heißen: Die gebildete Klasse bekleidet eine Ausnahmestellung, und wenn ich sage: Ausnahmestellung, so involviere ich damit die beleidigende und aufhetzerische Idee, daß vor dem Gesetz nicht[335] alle gleich sind, und will zugleich diese bevorzugte Klasse verhöhnen durch eine ordinäre Bezeichnung.

REISACHER. Jawoll, Herr Assessor!

STRÖBEL. Wie können Sie dann sagen, es drückt keinen Klassenhaß und keine Verachtung aus?

REISACHER. Weil man halt doch wieder Respekt hat vor die Leut, die wo Geld haben.

STRÖBEL. Sie werden nie präzis denken, Reisacher!

REISACHER. Jawoll, Herr Assessor!


Beide drehen sich um. Ströbel liest. Reisacher schreibt. Kleine Pause. Von links Präsident Frhr. von Simbach. Ströbel erhebt sich rasch und macht eine devote Verbeugung. Reisacher sieht sich um und fährt auf. Bleibt in strammer Haltung stehen.


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 335-336.
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