Zehnte Szene

[377] Ströbel und Beermann stehen sich schweigend gegenüber. Beide räuspern sich. Kleine Pause.


STRÖBEL. Sie sind wahrscheinlich überrascht, daß ich zu dieser ungewöhnlichen Zeit komme?

BEERMANN. Warum soll ich überrascht sein?

STRÖBEL. Es ist etwas so Dringliches, was mich zu Ihnen führt, daß Sie mich entschuldigen müssen.

BEERMANN. Oh, bitte! Kleine Pause. Beide räuspern sich.

STRÖBEL. Sie waren heute vormittag in meinem Bureau.

BEERMANN. Ich?

STRÖBEL. Nun ja, Sie waren doch heute bei mir ...

BEERMANN. Richtig, ja! Wir hatten eine kurze Unterredung. Ich muß nämlich um Entschuldigung bitten, Herr Assessor, ich leide an Ohrensausen, und das macht mich so vergeßlich ...

STRÖBEL. Aber Sie wissen hoffentlich, was wir gesprochen haben?

BEERMANN. Ganz dunkel. Wenn Sie mir darauf helfen, wird es schon gehen.[377]

STRÖBEL. Sie kamen wegen der Hauteville.

BEERMANN. Soo?

STRÖBEL. Oder Hochstetter ...

BEERMANN. Ja, wenn Sie's sagen, wird es wohl so sein.

STRÖBEL. Ich glaubte zuerst, Sie kämen, um Ihre Freude auszudrücken, weil wir die Person gefaßt hatten ...

BEERMANN. Nee, das tu ich nicht.

STRÖBEL. Natürlich haben Sie es nicht getan. Ich war ja erstaunt, daß Sie förmlich gegen die Verhaftung waren.

BEERMANN. Warum soll ich gegen die Verhaftung sein?

STRÖBEL ungeduldig. Aber Herr Beermann. Sie müssen sich doch erinnern, wie wir von dem Tagebuch gesprochen haben!

BEERMANN rasch. Von einem Tagebuch weiß ich nichts!

STRÖBEL. Sie regten sich sogar heftig auf!

BEERMANN. Von einem Tagebuch weiß ich gar nichts. Sie haben mir nie ein Buch gezeigt. Das weiß ich bestimmt.

STRÖBEL verzweifelt. Das hat mir noch gefehlt, daß ich Sie in dieser Verfassung antreffe! Sie sind offenbar leidend!

BEERMANN. Furchtbares Ohrensausen – –

STRÖBEL. Ich würde mich sofort entfernen, wenn der geringste Aufschub möglich wäre. Aber ich muß das Allerwichtigste noch heute abend mit Ihnen besprechen. Können Sie sich denn nicht durch eine Medizin helfen?

BEERMANN. Da hilft keine Medizin! Ich kann Ihnen bloß sagen, ich weiß nichts von einem Buch.

STRÖBEL. Gott! Lassen wir doch das Buch! Das ist ja so nebensächlich!

BEERMANN. Es ist nebensächlich?

STRÖBEL. Das liegt gut in meinem Schreibtisch ...

BEERMANN. So? Aber ich verstehe nicht, warum sind Sie heute abend noch gekommen?

STRÖBEL ganz verzweifelt. Ich wollte Ihnen das ja ganz genau erklären. Aber wie soll ich es machen? Sie erinnern sich kaum mehr daran, daß Sie bei mir waren. Es ist unerhört, wie mich seit heute mittag das Unglück verfolgt!

BEERMANN sehr erleichtert. Nu, beruhigen Sie sich nur, Herr Assessor, wir werden das Ding schon kriegen.

STRÖBEL gebrochen. Nein! Wir kriegen es nicht.

BEERMANN begütigend. Setzen Sie sich mal in den Stuhl – –[378] soo! Und ich setze mich hierher – – soo! Und nun wollen wir mal sehen. Sie setzen sich links vorne. Ich fühle mich nämlich schon etwas leichter. Also das Buch, das ist in Ihrem Schreibtisch?

STRÖBEL. Meinetwegen liegt es tausend Klafter tief im Boden. Reden wir doch um Gottes willen nicht mehr von dem Buch! Das führt uns ganz vom Weg ab.

BEERMANN. Sie haben recht. Wir reden nicht mehr davon. Nun lassen Sie mal sehen; ich war bei Ihnen wegen der Hauteville ...

STRÖBEL. Und bei dieser Gelegenheit haben Sie mich förmlich beschworen, wir sollen die Sache unterdrücken.

BEERMANN. Das habe ich. Jawohl.

STRÖBEL. Sehen Sie! Und darum glaubte ich, Sie hätten das größte Interesse daran, daß der Skandal vermieden wird.

BEERMANN. Wieso?

STRÖBEL. Nicht ein persönliches Interesse. Sondern ein allgemein menschliches oder bürgerliches. Sie haben mir sogar gesagt, gerade in Ihrer Stellung als Präsident des Sittlichkeitsvereins betrachten Sie es als Ihre Pflicht, den Prozeß zu verhüten.

BEERMANN. Wegen des staatserhaltenden Prinzips.

STRÖBEL. Wegen der Rücksicht auf das gutgesinnte Publikum. Und ich dachte, daß Ihnen diese Rücksicht wirklich sehr viel galt.

BEERMANN. Herr Assessor, gilt! Glauben Sie, ich ändere meine Überzeugung? Ich wiederhole Ihnen, daß ich den Prozeß für ein Unglück halte, weil er gegen die Staatsräson geht.

STRÖBEL. Aber dann sind wir ja im Prinzip einig!

BEERMANN. Sie auch?

STRÖBEL. Absolut.

BEERMANN. Ich dachte, weil Sie heute vormittag ...

STRÖBEL. Und ich dachte, weil Sie sich jetzt nicht mehr erinnerten. Aber jedenfalls im Prinzip sind wir einig. Sie schütteln sich die Hände.

STRÖBEL. Es ist mir das eine große Erleichterung, wenn schon damit noch nichts gewonnen ist. Aber wir werden uns besser verstehen. Ich komme jetzt zum eigentlichen Zweck meines Besuches. Räuspert sich. Herr Beermann, ich muß um Ihr Ehrenwort bitten, daß keine Silbe von dem, was ich sagen werde, jemals über Ihre Lippen kommt.[379]

BEERMANN. Mein Ehrenwort!

STRÖBEL. Es sind Amtsgeheimnisse. Vielleicht sogar Staatsgeheimnisse, und ein unvorsichtiges Wort könnte unabsehbare Folgen haben.

BEERMANN. Verlassen Sie sich auf mich!

STRÖBEL. Auch in der Familie.

BEERMANN. Keinen Ton!

STRÖBEL. Es haben sich nämlich heute, nachdem Sie bei mir waren, die merkwürdigsten Dinge herausgestellt. In ihrer Art vielleicht einzig. Aber nicht wahr, ich habe Ihr Ehrenwort?

BEERMANN. Mein heiliges Ehrenwort.

STRÖBEL beugt sich vor, hält eine Hand vor den Mund und flüstert. An dem Abend, als man bei der Hauteville Haussuchung hielt, befand sich in ihrer Wohnung ohne unser Wissen eine sehr hohe Persönlichkeit.

BEERMANN. Ich kann mir's denken.

STRÖBEL laut. Sie können sich's nicht denken. Flüsternd. Unser junger Erbprinz Emil.

BEERMANN patscht sich erstaunt aufs Knie, pfeift. Nu, sieh mal einer!

STRÖBEL wieder laut. Sie werden verstehen, daß ich Ihnen das nicht als bloße Neuigkeit mitteile, sondern daß mich zwingende Gründe dazu veranlassen. Was Sie vorhin sagten von Staatsräson, das ist damit kulminiert. Bis aufs äußerste kulminiert. Alle Möglichkeiten, jetzt noch einen Prozeß gegen die Person zu führen, haben sich damit einfach in der Luft verflüchtigt.

BEERMANN springt auf. Aber dann ist ja alles gut!

STRÖBEL. Nichts ist gut. Bleiben Sie sitzen, Herr Beermann! Freilich, der Tatbestand ist verschwunden, – aber das Subjekt der Gesetzesverletzung ist noch da und liegt wie ein Felsblock im Weg, daß wir nicht darum herumkommen.

BEERMANN. Die Hauteville? Ströbel nickt. Na, zeigen Sie ihr ein Loch, und sie ist weg!

STRÖBEL schüttelt den Kopf. Erstens – zweitens. Glauben Sie, ich habe nicht meinen Kopf zermartert, um eine Möglichkeit zu finden? Erstens: Wenn wir sie einfach laufen lassen, weiß es morgen die ganze Stadt. Die Presse greift es auf, und der Skandal wird ärger als bei einem Prozesse. Nein, der Buchstabe des Gesetzes wenigstens muß gewahrt werden. Die Hauteville muß[380] Kaution stellen, wird auf freien Fuß gesetzt, und dann muß sie fliehen. Nur so sind wir gegen üble Nachrede geschützt. Verstehen Sie mich?

BEERMANN. Sie meinen die Kaution?

STRÖBEL. Ich meine erstens die Kaution. Aber wenn es nur das wäre! Denken Sie, die Person will überhaupt nicht fort.

BEERMANN. Sie will nicht?

STRÖBEL. Nein. Will nicht. Ich ließ sie heute nachmittag wieder vorführen und sagte ihr, daß wir uns nicht weiter mit ihr abgeben wollen. Hören Sie, sagte ich, Sie haben Glück. Stellen Sie fünftausend Mark Kaution, in einer Viertelstunde sind Sie frei, und morgen früh sieben Uhr geht ein Zug nach Brüssel. Man hört die Hausglocke. Was glauben Sie, daß die Person tut? Sie lacht. Sie weiß recht gut, warum wir so human sind, sagte sie. Und noch nicht fünf Mark Kaution stelle sie, auch wenn sie's zufällig hätte. Sie habe sich schon an den Gedanken gewöhnt, verhandelt zu werden, sagt sie. Ich rede ihr zu. Fein und grob. Nichts! Sie lacht bloß. Es klopft. Betty kommt von links mit einer Visitenkarte.

BEERMANN zu Betty. Was ist denn das heute? Hier ist doch kein Hotel. Nimmt die Karte und liest. Freiherr Bodo von Schmettau, Herr auf Zirnberg?

STRÖBEL. Ich bitte, empfangen Sie den Herrn!

BEERMANN. Jetzt, wo wir beraten?

STRÖBEL. Ich bitte darum.

BEERMANN zu Betty. Ich lasse den Herrn Baron ersuchen. Betty ab.

STRÖBEL. Er ist der Adjutant des Erbprinzen. Ich habe ihm gesagt, daß ich zu Ihnen gehe, und Sie können sich denken, in welcher Unruhe er schwebt.

BEERMANN. Wenn Ihnen damit ein Gefallen geschieht ...

STRÖBEL. Ein sehr großer. Die ganze Verantwortung hängt an mir, und ich muß wenigstens zeigen, daß ich kein Mittel unversucht lasse. Es klopft.

BEERMANN. Herein! Von Schmettau tritt ein.[381]


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 377-382.
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