Sechste Szene

[374] Wasner trägt eine Pelerine; das rechte Ende malerisch um die linke Schulter geworfen. In der Hand hält er einen großen Schlapphut. Das Haar hängt ihm in die Stirne; der blonde Bart wallt auf die Brust.


WASNER. Ich komme in der merkwürdigsten Sache, in der jemals ein Mann zum andern gekommen ist.

BEERMANN sehr nervös. Muß es heute sein, Herr Professor?

WASNER. Die Umstände zwingen mich, diese Frage zu bejahen.

BEERMANN. Aber es ist schon so spät!

WASNER. Ich gebe zu, daß die Stunde als ungeeignet erscheinen kann. Dessenungeachtet muß ich Sie bitten, mich anzuhören.


Beermann setzt sich an den Schreibtisch und drückt ein Taschentuch gegen die Stirne. Wasner spricht stehend weiter.


WASNER. Sie wissen, daß ich mir seit Jahren die Aufgabe gestellt habe, alle Erzeugnisse zu sammeln, durch welche das sittliche Empfinden unseres Volkes untergraben wird. Ich kann wohl sagen, daß meine Sammlung lückenlos ist, und daß es mir gelang, die Gefährlichkeit der obszönen Produktion unwiderleglich zu beweisen. Welchen verderblichen Einfluß diese Anreizung der Phantasie haben muß, das erleidet heute keinen Zweifel mehr, denn – – Eindrucksvolle Pause. Wasner senkt den Ton noch tiefer – –. ich selbst bin ihr zum Opfer gefallen. Beermann bleibt apathisch sitzen. Pause. Ich verstehe, daß Sie keine Worte finden; ich bin beinahe selbst an mir irre geworden. Ich habe mich gefragt, ob ich noch das Recht habe, an der moralischen Gesundung unseres Volkes zu arbeiten, und ich habe diese Frage erst nach langer Prüfung bejaht. Pause.

BEERMANN geistesabwesend. Ja – ja! Herr Professor.

WASNER. Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren, aber erlassen Sie mir die Einzelheiten! Kurz und gut, eines Tages stand ich meiner Sammlung nicht so objektiv gegenüber wie sonst, und ich ließ mich durch einen Freund zu einem verdammenswerten Besuche verleiten. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß ich diesen Menschen jetzt verabscheue.

BEERMANN. Warum erzählen Sie mir das eigentlich?

WASNER. Weil wir Schulter an Schulter gegen die Unmoral gekämpft[374] haben. Ich muß Sie fragen, ob Sie mich noch für würdig halten, für unsere gemeinsamen Ideale zu streiten.

BEERMANN. Meinetwegen, so viel Sie wollen. Ich lege Ihnen nichts in den Weg.

WASNER. Dann werden Sie mir Ihren Beistand nicht versagen.

BEERMANN. Wir wollen darüber morgen sprechen, Herr Professor.

WASNER. Morgen ist es zu spät. Beermann lehnt sich apathisch zurück. Nach meinem Fehltritt war es mir klar, daß ich andere vor dieser Gefahr behüten mußte. Mein Pflichtgefühl war neu gestärkt, und ich schrieb einen – allerdings anonymen – Brief an die Polizei, worin ich sie energisch aufforderte, dem Unwesen jener Person ein Ende zu machen.

BEERMANN wieder aufmerksam. Hören Sie, das finde ich aber nicht hübsch.

WASNER. Ich mußte mir Gewißheit verschaffen, daß ich innerlich noch zum Sittlichkeitsverein gehörte.

BEERMANN. Ich finde es nicht hübsch. Man soll immer dankbar sein.

WASNER. Dieses Gefühl hätte mich erst schuldig gemacht. Beermann zieht die Achseln hoch. Aber nun kommt das, weswegen ich hier bin. Meine Anzeige hat Erfolg gehabt. Das Geschöpf wurde verhaftet, und heute nach dem Essen kam jener falsche Freund zu mir und klagte sich an, er sei unvorsichtig gewesen, er habe der Person damals meinen Namen genannt, und ich stünde jedenfalls in dem Verzeichnis, das bei ihr gefunden wurde.

BEERMANN springt auf. Wie heißt sie?

WASNER. Hauteville.

BEERMANN. Also Ihnen verdankt man die Geschichte. Zornig. Herr, wissen Sie auch, was Sie angerichtet haben? Wie viele Familienväter Sie an den Rand der Verzweiflung getrieben haben?

WASNER. Ich weiß es.

BEERMANN. Sie wissen es nicht!

WASNER. Ich bin ja deswegen hier.

BEERMANN verständnislos. Was?

WASNER. Ich soll Sie ersuchen, daß Sie noch heute nacht eine Ausschußsitzung einberufen. Der Verein muß alles tun, daß dieser Prozeß abgewendet wird.

BEERMANN. Hätten Sie keinen anonymen Brief geschrieben![375]

WASNER. Ich bitte, hören Sie mich an. Es ist jemand kompromittiert, der Ihnen nahe steht. Ich ging auf jene Nachricht sofort in die Polizei und wollte mich als Vertreter des Sittlichkeitsvereins einführen. Aber sowie ich das sagte, wurde ich förmlich hinausgeworfen. Auf der Treppe begegnete mir unser Kommerzienrat Bolland, dem es beim Polizeipräsidenten ebenso ergangen war. Ich klagte ihm mein Leid, und da gestand er mir, daß auch er jener Circe zum Opfer gefallen ist.

BEERMANN. Unser Kommerzienrat Bolland?

WASNER. Leider. Ich verstehe es allerdings nicht, denn er ist wohl kaum durch das Sammeln von Beweisstücken in Versuchung geraten.

BEERMANN. Und was wollen Sie jetzt von mir?

WASNER. Unser Freund schickt mich zu Ihnen. Er wäre selbst gekommen, aber die Erschütterung warf ihn aufs Krankenlager. Er bittet Sie flehentlich, Sie sollen den Ausschuß sofort zusammenrufen. Wir haben einflußreiche Persönlichkeiten im Verein, die es beim Ministerium durchsetzen müssen, daß die Sache niedergeschlagen wird.

BEERMANN. Hätten Sie keinen anonymen Brief geschrieben!

WASNER. Ich war dazu moralisch verpflichtet.

BEERMANN. Und jetzt sind wir moralisch verpflichtet, die Geschichte zu vertuschen. Betty kommt von links.


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 374-376.
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