Vierzehntes Kapitel
Ich lerne meinen Vater persönlich kennen

[120] Es fiel mir ein, daß es doch wohl nicht mehr als billig sei, mich nach meinen eigentlichen Eltern zu erkundigen. Auf meine Erkundigungen erfuhr ich, daß meine Mutter schon gestorben sei, daß aber mein frommer Vater noch lebe. Ich reiste sogleich nach der Gegend, in welcher sein Kloster lag.

Die Gegend war einsam, aber sehr angenehm, das Kloster lag auf einem Berge, von wo man weit umher blühende Gefilde und Städte und Dörfer übersahe.

Ich ließ mich im Kloster melden und empfand einen kleinen Schauder, als ich die dunkeln Kreuzgänge hinunterging und in die engen trüben Zellen der Mönche hineinblickte. Das Kloster kam mir vor, wie eins von den dunkeln unterirdischen Zauberschlössern, von denen ich zuweilen in meiner Kindheit hatte erzählen hören, in welchen eine Schar von Menschen auf ihre Lebenszeit hineingebannt war, um hier wie in einem Grabe zu existieren.

Ich hatte gleich nach Endigung meines Prozesses wieder meinen schlichten Namen Peter Lebrecht angenommen und unter diesem ließ ich mich beim Pater Placidus meiden. Er stand bei einem Blumenbeete und betrachtete mit einem aufmerksamen Auge die aufblühenden Aurikeln. »Sehn Sie«, kam er mir mit einem heiligen Ton entgegen, »wie man allenthalben in der Natur die Erinnerung an den Tod findet, alles winkt und deutet auf[120] unsre Sterblichkeit, damit uns der Gedanke an den Tod stets einen neuen Antrieb zur Tugend gebe.«

Ich verbeugte mich und sah ihn mit einem mitleidigen Lächeln an, mit einer andächtigen Miene wandte er sich wieder zu seinen Aurikeln.

O armseliges Menschengeschlecht! dachte, oder sagte ich meinem Innern: auserlesen, um die Liebe zum Leben wie eine Sünde zu betrachten. Ihr Elenden, die ihr hier lebendig eingegraben seid, auf immer von der Natur und allen ihren Freuden verstoßen! Losgerissen von allen Menschen, ist euch die Tätigkeit, das Wirken unmöglich, Gesänge sind eure Tugend, eine versäumte Hora euer Laster; wenn ihr euer eingesunkenes Auge in trübem Grübeln auf ein welkes Blatt heftet, so bildet ihr euch ein, mehr getan zu haben, als der Mann, der im Getümmel der Welt mit himmlischer Menschenfreundlichkeit seine sinkenden Brüder unterstützt. – Was ist bei euch Tugend? – Die Regeln eures Ordens. – Das geadelte Leben des Menschen ist die Ausbildung seiner Vernunft und seiner Gefühle, euch ist beides unnütz und unmöglich. Jedermann strebt aus dem dumpfen Schlaf zu erwachen, der ihn an die Tierheit fesselt und euer Dasein ist ein einziges Bestreben, immer tiefer und tiefer in diesen Todesschlaf zu versinken.

Es war sehr gut, daß mein frommer Vater nichts von diesem inwendigen Gespräche verstand, er nahm mein Stillschweigen für mitgefühlte Andacht und führte mich mit großer Zufriedenheit durch alle Gänge des kleinen Gartens zeigte und erklärte mir das, was angepflanzt war, und konnte nicht genug eine Passionsblume, die in der Nacht aufgebrochen war, bewundern.

Ich bat ihn, mir auch seine Zelle zu zeigen. Wir verließen den Garten und er führte mich auf sein enges, dunkles Zimmer. Matt und gedämpft brach der muntre Sonnenschein durch die kleinen getrübten Scheiben, ein Kruzifix hing an der kahlen schwarzen Wand, ein andres stand auf einem kleinen Tische, in einem Winkel ein Bett.

Ich sagte ihm hier, wer ich sei und schloß ihn in meine Arme. Eine milde Röte leuchtete in seinem blassen Angesichte auf, er schien verlegen, er schlug die Augen nieder und drückte mich dann mit Innigkeit an seine Brust. »Mein Sohn!« rief er aus; »o ich danke dem Himmel, daß er meine Bitten erhört hat, und ihn mir von Angesicht zu Angesicht zeigt!«

Wir setzten uns beide und der alte Mann schien sich nach vielen Jahren zum ersten Male wieder als Mensch zu fühlen.

»Aber, mein Sohn«, sagte er nach einer langen Pause, in welcher[121] er mich aufmerksam betrachtet hatte, »ich finde in deinem Gesichte eine auffallende Ähnlichkeit mit deiner Mutter folge ihrem und meinem Beispiele und verlaß das unruhige Getümmel der Welt, wo unser ganzes Leben nichts als ein Kampf gegen Laster und Schwachheiten ist. Zwischen den stillen Mauern eines Klosters kannst du ruhig leben, ohne zu fürchten, Gott in jedem Augenblicke zu beleidigen; jeder Tag hat hier sein bestimmtes Tagewerk, ein Gebet reiht sich an das andre, keine Versuchungen fallen dich an. Hier gibt es keine Vorfälle, in welchen du das Gleichgewicht verlieren und ungewiß sein kannst, ob die Tugend in einer gewissen Lage wohl Tugend sei. Nein, hier geht dein Leben immer geradeaus, folge meinem Rate, mein Sohn, und meinem Beispiele.«

Ich fand dazu jetzt weniger Beruf als je; ich nahm einen zärtlichen Abschied von meinem Vater und verließ seinen trübseligen Aufenthalt. – Er sah mir wehmütig nach, als ich wieder in das unruhige Gewühl des Lebens und der Menschen hinunterging; ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehn.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 120-122.
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