Sechstes Kapitel

[728] Die Leiche des Alten lag in der Kammer auf Stroh ausgebreitet, und Franz stand sinnend vor der Tür. Die Nachbarn traten herzu und trösteten ihn; Brigitte weinte von neuem, sooft darüber gesprochen wurde, sein Herz war zu, seine Augen waren wie vertrocknet, tausend neue Bilder zogen durch seine Sinne, er konnte sich selber nicht verstehn, er hätte gern mit jemand sprechen mögen, er wünschte Sebastian herbei, um ihm alles klagen zu können.

Am dritten Tage war das Begräbnis, und Brigitte weinte und klagte laut am Grabe, als sie den nun mit Erde zudeckten, den sie seit zwanzig Jahren so genau gekannt hatte, den sie fast einzig liebte. Sie wünschte auch bald zu sterben, um wieder in seiner Gesellschaft zu sein, um mit ihm die Gespräche fortzusetzen, die sie hier hatte abbrechen müssen. Franz schweifte im Felde umher,[728] und betrachtete die Bäume, die sich in einem benachbarten Teiche spiegelten. Er hatte noch nie eine Landschaft mit diesem Vergnügen beschaut, es war ihm noch nie vergönnt gewesen, die mannigfaltigen Farben mit ihren Schattierungen, das Süße der Ruhe, die Wirkung des Baumschlages in der Natur zu entdecken, wie er es jetzt im klaren Wasser gewahr ward. Über alles ergötzte ihn aber die wunderbare Perspektive, die sich bildete, und der Himmel dazwischen mit seinen Wolkenbildern, das zarte Blau, das zwischen den krausen Figuren und dem zitternden Laube schwamm. Franz zog seine Schreibtafel hervor, und wollte anfangen, die Landschaft zu zeichnen; aber schon die wirkliche Natur erschien ihm trocken gegen die Abbildung im Wasser, noch weniger aber wollten ihm die Striche auf dem Papiere genügen, die durchaus nicht das nachbildeten, was er vor sich sah. Er war bisher noch nie darauf gekommen, eine Landschaft zu zeichnen, er hatte sie immer nur als eine notwendige Zugabe zu manchen historischen Bildern angesehn, aber noch nie empfunden, daß die leblose Natur etwas für sich Ganzes und Vollendetes ausmachen könne, und so der Darstellung würdig sei. Unbefriedigt ging er nach der Hütte seines Pflegevaters zurück.

Seine Mutter kam ihm entgegen, die sich in der ungewohnten Einsamkeit nicht zu lassen wußte. Sie setzten sich beide auf eine Bank, die vor dem Hause stand, und unterredeten sich von mancherlei Dingen. Franz ward durch jeden Gegenstand den er sah, durch jedes Wort das er hörte, niedergeschlagen, die weidenden Herden, die ziehenden Töne des Windes durch die Bäume, das frische Gras und die sanften Hügel weckten keine Poesie in seiner Seele auf. Er hatte Vater und Mutter verloren, seine Freunde verlassen, er kam sich so verwaist und verachtet vor, besonders hier auf dem Lande, wo er mit niemand über die Kunst sprechen konnte, daß ihn fast aller Mut zum Leben verließ. Seine Mutter nahm seine Hand und sagte: »Lieber Sohn, du willst jetzt in die weite Welt hineingehn, wenn ich dir raten soll, tu es nicht, denn es bringt dir doch keinen Gewinn. Die Fremde tut keinem Menschen gut, wo er zu Hause gehört, da blüht auch seine Wohlfahrt; fremde Menschen werden es nie ehrlich mit dir meinen, das Vaterland ist gut, und warum willst du so weit weg und Deutschland verlassen, und was soll ich indessen anfangen? Dein Malen ist auch ein unsicheres Brot, wie du mir schon selber gesagt hast, du wirst darüber alt und grau; deine Jugend vergeht, und mußt noch obenein wie ein Flüchtling aus deinem Lande wandern. Bleib hier bei mir, mein Sohn, sieh, die Felder sind alle im[729] besten Zustande, die Gärten sind gut eingerichtet, wenn du dich des Hauswesens und des Ackerbaues annehmen willst, so ist uns beiden geholfen, und du führst doch ein sichres und ruhiges Leben, du weißt doch dann, wo du deinen Unterhalt hernimmst. Du kannst hier heiraten, es findet sich wohl eine Gelegenheit; du lernst dich bald ein, und die Arbeit des Vaters wird dann von dir fortgesetzt. Was sagst du zu dem allen, mein Sohn?«

Franz schwieg eine Weile still, nicht weil er den Vorschlag bei sich überlegte, sondern weil an diesem Tage alle Vorstellungen so schwer in seine Seele fielen, daß sie lange hafteten. Ihm lag Herr Zeuner von neuem in den Gedanken, er sah die ganze Gesellschaft noch einmal, und fühlte alle Beängstigungen wieder, die er dort erlitten hatte. »Es kann nicht sein, liebe Mutter«, sagte er endlich. »Seht, ich habe so lange auf die Gelegenheit zum Reisen gewartet, jetzt ist sie gekommen, und ich kann sie nicht wieder aus den Händen gehen lassen. Ich habe mir ängstlich und sorgsam all mein Geld, dessen ich habhaft werden konnte, dazu gesammelt; was würde Dürer sagen, wenn ich jetzt alles aufgäbe?«

Die Mutter wurde über diese Antwort sehr betrübt, sie sagte sehr weichherzig: »Was aber suchst du in der Welt, lieber Sohn? Was kann dich so heftig antreiben, ein ungewisses Glück zu erproben? Ist denn der Feldbau nicht auch etwas Schönes, und immer in Gottes freier Welt zu hantieren und stark und gesund zu sein? Mir zuliebe könntest du auch etwas tun, und wenn du noch so glücklich bist, kömmst du doch nicht weiter, als daß du dich satt essen kannst, und eine Frau ernährst und Kinder großziehst, die dich lieben und ehren. Alles dies zeitliche Wesen kannst du nun hier schon haben, hier hast du es gewiß, und deine Zukunft ist noch ungewiß. Ach lieber Franz, und es ist denn doch auch eine herzliche Freude, das Brot zu essen, das man selber gezogen hat, seinen eigenen Wein zu trinken, mit den Pferden und Kühen im Hause bekannt zu sein, in der Woche zu arbeiten und des Sonntags zu rasten. Aber dein Sinn steht dir nach der Ferne, du liebst deine Eltern nicht, du gehst in dein Unglück, und verlierst gewiß deine Zeit, vielleicht noch deine Gesundheit.«

»Es ist nicht das, liebe Mutter!« rief Franz aus, »und Ihr werdet mich auch gar nicht verstehn, wenn ich es Euch sage. Es ist mir gar nicht darum zu tun, Leinwand zu nehmen und die Farben mit mehr oder minder Geschicklichkeit aufzutragen, um damit meinen täglichen Unterhalt zu erwerben, denn seht, in manchen[730] Stunden kömmt es mir sogar sündhaft vor, wenn ich es so beginnen wollte. Ich denke an meinen Erwerb niemals, wenn ich an die Kunst denke, ja ich kann mich selber hassen, wenn ich zuweilen darauf verfalle. Ihr seid so gut, Ihr seid so zärtlich gegen mich, aber noch weit mehr als Ihr mich liebt, liebe ich meine Hantierung. Nun ist es mir vergönnt, alle die Meister wirklich zu sehn, die ich bisher nur in der Ferne verehrt habe. Wenn ich dies erleben kann, und beständig neue Bilder sehn, und lernen, und die Meister hören; wenn ich durch ungekannte Gegenden mit frischem Herzen streifen kann, so mag ich keines ruhigen Lebens genießen. Tausend Stimmen rufen mir herzstärkend aus der Ferne zu, die ziehenden Vögel, die über meinem Haupte wegfliegen, scheinen mir Boten aus der Ferne, alle Wolken erinnern mich an meine Reise, jeder Gedanke, jeder Pulsschlag treibt mich vorwärts, wie könnt ich da wohl in meinen jungen Jahren ruhig hier sitzen und den Wachstum des Getreides abwarten, die Einzäunung des Gartens besorgen und Rüben pflanzen! Nein, laßt mir meinen Sinn, ich bitte Euch darum, und redet mir nicht weiter zu, denn Ihr quält mich nur damit.«

»Nun so magst du es haben«, sagte Brigitte in halbem Unwillen, »aber ich weiß, daß es dich noch einmal gereut, daß du dich wieder hieherwünschest, und dann ist's zu spät, daß du dann das hoch und teuer schätzest, was du jetzt schmähst und verachtest.«

»Ich habe Euch etwas zu fragen, liebe Mutter«, fuhr Franz fort. »Der Vater ist gestorben, ohne mir Rechenschaft davon zu geben; er sagte mir, ich sei sein Sohn nicht, und brach dann ab. Was wißt Ihr von meiner Herkunft?«

»Nichts weiter, lieber Franz«, sagte die Mutter, »und dein Vater hat mir darüber nie etwas anvertraut. Als ich ihn kennenlernte und heiratete, warst du schon bei ihm, und damals zwei Jahr alt; er sagte mir, daß du sein einziges Kind seist von seiner verstorbenen Frau. Ich verwundere mich, warum der Mann nun zu dir anders gesprochen hat.«

Franz blieb also über seine Herkunft in Ungewißheit; diese Gedanken beschäftigten ihn sehr, und er wurde in manchen Stunden darüber verdrüßlich und traurig. Das Erntefest war indes herangekommen, und alle Leute im Dorfe waren fröhlich; jedermann war nur darauf bedacht, sich zu vergnügen; die Kinder hüpften umher und konnten den Tag nicht erwarten. Franz hatte sich vorgenommen, diesen Tag in der Einsamkeit zuzubringen, sich nur mit seinen Gedanken zu beschäftigen und sich nicht um die Fröhlichkeit der übrigen Menschen zu bekümmern. Er[731] war in der Woche, die er hier bei seinen Pflegeeltern zugebracht hatte, überhaupt ganz in sich versunken, nichts konnte ihm rechte Freude machen, denn er selbst war hier anders, und alles ereignete sich so ganz anders, als er es vorher vermutet hatte. Am Tage vor dem Erntefest erhielt er einen Brief von seinem Sebastian, denn es war vorher ausgemacht, daß dieser ihm schreiben solle, während er sich hier auf dem Dorfe befinde. Wie wenn nach langen Winternächten und trüben Wochen der erste Frühlingstag über die starre Erde geht, so erheiterte sich Franzens Gemüt, als er diesen Brief in der Hand hielt; es war, als wenn ihn plötzlich sein Freund Sebastian selber anrühre, und ihm in die Arme fliege; er hatte seinen Mut wieder, er fühlte sich nicht mehr so verlassen, er erbrach das Siegel.

Wie erstaunte und freute er sich zu gleicher Zeit, als er drinnen noch ein anderes Schreiben von seinem Albrecht Dürer fand, welches er nie erwartet hatte. Er war ungewiß, welchen Brief er zuerst lesen sollte; doch schlug er Sebastians Brief auseinander, welcher folgendermaßen lautete:


Liebster Franz.


Wir gedenken Deiner in allen unsern Gesprächen, und so kurze Zeit Du auch entfernt bist, so dünkt es mich doch schon recht lange. Ich kann mich immer noch nicht in dem Hause ohne Dich schicken und fügen, alles ist mir zu leer und doch zu enge, ich kann nicht sagen, ob sich das wieder ändern wird. Als ich von Dir an jenem schönen und traurigen Morgen durch die Kornfelder zurückging, als ich alle die Stellen wieder betrat wo ich mit Dir gegangen war, und der Stadt mich nun immer mehr näherte; o Franz! ich kann es Dir nicht sagen, was da mein Herz empfand. Es war mir alles im Leben taub und ohne Reiz, und ich hätte vorher niemals geglaubt, daß ich Dich so liebhaben könnte. Wie wollte ich jetzt mit den Stunden geizen, die ich sonst unbesehn und ungenossen verschwendete, wenn ich nur mit Dir wieder sein könnte! Alles was ich in die Hände nehme erinnert mich an Dich, und meine Palette, meine Pinsel, alles macht mich wehmütig. Als ich wieder in die Stadt hineinkam, als ich die gewohnten Treppen unsers Hauses hinauf stieg, und da wieder alles liegen und stehn sah, wie ich es am frühen Morgen verlassen hatte, konnt ich mich der Tränen nicht enthalten, ob ich gleich sonst nie so weich gewesen bin. Halte mich nicht für härter oder vernünftiger, lieber Franz, wie Du es nennen magst, denn ich bin es nicht, wenn sich auch bei mir mein Gefühl anders[732] äußert als bei Dir. Ich war den ganzen Tag verdrüßlich, ich maulte mit jedermann; was ich tat war mir nicht recht, ich wünschte Staffelei, und das Porträt, das ich vor mir hatte, weit von mir weg, denn mir gelang kein Zug, und ich spürte auch nicht die mindeste Lust zum Malen. Meister Dürer war selbst an diesem Tage ernster als gewöhnlich, alles war im Hause still, und wir fühlten es, daß mit Deiner Abreise eine andre Epoche unsers Lebens anfing.

Dein Schmied hat uns besucht; er ist ein lieber Bursche, wir haben viel über ihn gelacht, uns aber auch recht an ihm erfreut. Unermüdet hat er uns einen ganzen Tag lang zugesehn, er wunderte sich darüber, daß das Malen so langsam von der Stelle gehe. Er setzte sich nachher selber nieder und zeichnete ein paar Verzierungen nach, die ihm ziemlich gut gerieten; es gereut ihn jetzt, daß er das Schmiedehandwerk erlernt, und sich nicht lieber so wie wir auf die Malerei gelegt hat. Meister Dürer meint, daß viel aus ihm werden könnte, wenn er noch anfinge; und er selber ist halb und halb dazu entschlossen. Er hat Nürnberg schon wieder verlassen; von Dir hat er viel gesprochen und Dich recht gelobt.

Daß Du Dich von Deinen Empfindungen so regieren und zernichten lässest, tut mir sehr weh, Deine Überspannungen rauben Dir Kräfte und Entschluß, und wenn ich es Dir sagen darf, Du suchst sie gewissermaßen. Doch mußt Du darüber nicht zornig werden, jeder Mensch ist einmal anders eingerichtet als der andere. Aber strebe darnach, etwas härter zu sein, und Du wirst ein viel ruhigeres Leben führen, wenigstens ein Leben, in welchem Du weit mehr arbeiten kannst, als in dem Strom dieser wechselnden Empfindungen, die Dich notwendig stören und von allem abhalten müssen.

Lebe recht wohl, und schreibe mir ja recht fleißig, damit wir uns einander nicht fremde werden, wie es sonst gar zu leicht geschieht. Teile mir alles mit was Du denkst und fühlst, und sei überzeugt, daß in mir beständig ein mitempfindendes Herz schlägt, das jeden Ton des Deinigen beantwortet.

Ach! wie lange wird es währen, bis wir uns wiedersehn! Wie traurig wird mir jedesmal die Stunde vorkommen, in welcher ich mit Lebhaftigkeit an Dich denke, und die schreckliche leere Nichtigkeit der Trennung so recht im Innersten fühle. Es ist um unser menschliches Leben eine dürftige Sache, so wenig Glanz und so viele Schatten, so viele Erdfarben, die durchaus keinen Firnis vertragen wollen. Lebe wohl. Gott sei mit Dir. –[733]

Der Brief des wackern Albert Dürer lautete also:


Mein lieber Schüler und Freund!


Es hat Gott gefallen, daß wir nun nicht mehr nebeneinander leben sollen, ob mich gleich kein Zwischenraum gänzlich von Dir wird trennen können. So wie die Abwechselungen des Lebens gehen, so ist es nun unter uns dahin gekommen, daß wir nur aneinander denken, aneinander schreiben können. Ich habe Dir alle meine Liebe, alle meine herzlichsten Wünsche mit auf den Weg gegeben, und der allmächtige Gott leite jeden Deiner Schritte. Bleib ihm und der Redlichkeit treu, und Du wirst mit Freuden dieses Leben überstehn können, in welchem uns mancherlei Leiden suchen irrezumachen. Es freut mich, daß Du der Kunst so fleißig gedenkst, und zwar Vertrauen, aber kein übermütiges zu Dir selber hast. Das Zagen, das Dich oft überfällt, kömmt einem in der Jugend wohl, und ist viel eher ein gutes als ein schlimmes Zeichen. Es ist immer etwas Wunderbares darinnen, daß wir Maler nicht so recht unter die übrigen Menschen hineingehören, daß unser Treiben und unsre Geschäftigkeit die Welthändel und ihre Ereignisse so um gar nichts aus der Stelle rückt, wie es doch bei den übrigen Handwerken der Fall ist; das befällt uns sehr oft in der Einsamkeit oder unter kunstlosen Menschen, und dann möchte uns schier aller Mut verlassen. Ein einziges gutes Wort, das wir plötzlich hören, ist aber auch wieder imstande, alle schaffende und wirkende Kraft in uns zurückzuliefern, und Gottes Segen obendrein, so daß wir dann mit Großherzigkeit wieder an unsere Arbeit gehen mögen. Ach Lieber! die ganze menschliche Geschäftigkeit läuft im Grunde so auf gar nichts hinaus, daß wir nicht einmal sagen können: dieser Mensch ist unnütz, jener aber nützlich. Es ist die Erde zum Glück so eingerichtet, daß wir alle darauf Platz finden mögen, groß und klein, Vornehme und Geringe. Mir ist es in meinen jüngeren Jahren oft ebenso wie Dir ergangen, aber die guten Stunden kommen doch immer wieder. Wärst Du ohne Anlage und Talent, so würdest Du diese Leere in Deinem Herzen niemals empfinden.

Mein Weib läßt Dich grüßen. Bleib nur immer der Wahrheit treu, das ist die Hauptsache. Deine fromme Empfindung, so schön sie ist, kann Dich zu weit leiten, wenn Du Dich nicht von der Vernunft regieren lässest. Nicht eigentlich zu weit; denn man kann gewiß und wahrlich nicht zu fromm und andächtig sein, sondern ich meine nur, Du dürftest endlich etwas Falsches in Dein Herz aufnehmen, das Dich selber hinterginge, und so[734] unvermerkt ein Mangel an wahrer Frömmigkeit entstehn. Doch sage ich dieses gar nicht, um Dich zu tadeln, sondern es geschieht nur, weil ich an manchen sonst guten Menschen dergleichen bemerkt habe, wenn sie an Gott und die Unsterblichkeit mit zu großer Rührung, und nicht mit froher Erhebung der Seele gedacht haben, mit weichherziger Zerknirschung und nicht mit erhabner Mutigkeit, so sind sie am Ende in einen Zustand von Weichlichkeit verfallen, in welchem sie die tröstende wahre Andacht verlassen hat, und sie sich und ihrem Kleinsinn überlassen blieben. Doch wie ich sage, es gilt nicht Dir, denn Du bist zu gut, zu herzlich, als daß Du je darin verfallen könntest, und weil Du große Gedanken hegst, und mit warmer brünstiger Seele die Bibel liesest und die heiligen Geschichten, so wirst Du auch gewißlich ein guter Maler werden, und ich werde noch einst stolz auf Dich sein.

Suche recht viel zu sehen, und betrachte alle Kunstsachen genau und wohl, dadurch wirst Du Dich endlich gewöhnen mit Sicherheit selbst zu arbeiten und zu erfinden, wenn Du an allen das Vortreffliche erkennst, und auch dasjenige, was einen Tadel zulassen dürfte. Dein Freund Sebastian ist ein ganz melancholischer Mensch geworden, seit Du von uns gereiset bist; ich denke, es soll sich wohl wieder geben, wenn erst einige Wochen verstrichen sind. Gehab Dich wohl, und denke unsrer fleißig. – –


Durch Franzens Geist ergoß sich Heiterkeit und Stärke, er fühlte wieder seinen Mut und seine Kraft. Albrechts Stimme berührte ihn wie die Hand einer stärkenden Gottheit, und er spürte in allen Adern seinen Gehalt und sein künftiges arbeitreiches Leben. Wie wenn man oft alte längst vergessene Bücher wieder aufschlägt, und in ihnen Belehrungen oder unerwarteten Trost im Leiden antrifft, so kamen vergangene Zeiten mit ihren Gedanken in seine Seele zurück, alte Entwürfe, die ihm von neuem gefielen. »Ja«, sagte er, indem er die Briefe zusammenfaltete, und sorgfältig in seine Schreibtafel legte, »es soll schon mit mir werden, weiß ich doch, daß mein Meister was von mir hält; warum will ich denn verzagen?«

Es war am folgenden Tage, an welchem das Erntefest gefeiert werden sollte. Franz hatte nun keinen Widerwillen mehr gegen das frohe aufgeregte Menschengetümmel, er suchte die Freude auf, und war darum auch bei dem Feste zugegen. Er erinnerte sich einiger guten Kupferstiche von Albrecht Dürer, auf denen tanzende Bauern dargestellt waren, und die ihm sonst überaus[735] gefallen hatten; er suchte nun beim Klange der Flöten diese possierlichen Gestalten wieder, und fand sie auch wirklich; er hatte hier Gelegenheit, zu bemerken, welche Natur Albrecht auch in diese Zeichnungen zu legen gewußt hatte.

Der Tag des Festes war ein schöner warmer Tag, an dem alle Stürme und rauhen Winde von freundlichen Engeln zurückgehalten wurden. Die Töne der Flöten und Hörner gingen wie eine liebliche Schar ruhig und ungestört durch die sanfte Luft hin. Die Freude auf der Wiese war allgemein, hier sah man tanzende Paare, dort scherzte und neckte sich ein junger Bauer mit seiner Liebsten, dort schwatzten die Alten und erinnerten sich ihrer Jugend. Die Gebüsche standen still und waren frisch grün und überaus anmutig, in der Ferne lagen krause Hügel mit Obstbäumen bekränzt. »Wie«, sagte Franz zu sich, »sucht ihr Schüler und Meister immer nach Gemälden, und wißt niemals recht, wo ihr sie suchen müßt? Warum fällt es keinem ein, sich mit seiner Staffelei unter einen solchen unbefangenen Haufen niederzusetzen, und uns auch einmal diese Natur ganz wie sie ist darzustellen? Keine abgerissene Fragmente aus der alten Historie und Göttergeschichte, die so oft weder Schmerz noch Freude in uns erregen, keine kalte Figuren aus der Legende, die uns oft gar nicht ansprechen, weil der Maler die heiligen Männer nicht selber vor sich sah, und er ohne Begeisterung arbeitete. Diese Gestalten, wörtlich so und ohne Abänderung niedergeschrieben, damit wir lernen, welche Schöne, welche Erquickung in der einfachen Natürlichkeit verborgen liegt. Warum schweift ihr immer in der weiten Ferne, und in einer staubbedeckten unkenntlichen Vorzeit herum, uns zu ergötzen? Ist die Erde, wie sie jetzt ist, keiner Darstellung mehr wert, und könnt ihr die Vorwelt malen, wenn ihr gleich noch so sehr wollt? Und wenn ihr größere Geister nun auch hohe Ehrfurcht in unser Herz hineinbannt, wenn eure Werke uns mit ernster feierlicher Stimme anreden: warum sollen nicht auch einmal die Strahlen einer weltlichen Freude aus einem Gemälde herausbrechen? Warum soll ich in einer freien herzlichen Stunde nicht auch einmal Bäuerlein, und ihre Spiele und Ergötzungen lieben? Dort werden wir beim Anblick der Bilder älter und klüger, hier kindischer und fröhlicher.«

So stritt Franz mit sich selber, und unterhielt seinen Geist mit seiner Kunst, wenn er gleich nicht arbeitete. Es konnte ihm überhaupt nicht leicht etwas begegnen, wobei er nicht an Malereien gedacht hätte, denn es war schon frühe Gewohnheit, seine Beschäftigung in allem was er in der Natur oder unter Menschen[736] sah und hörte, wiederzufinden. Alles gab ihm Antworten zurück, nirgend traf er eine Lücke, in der Einsamkeit sah ihm die Kunst zu, und in der Gesellschaft saß sie neben ihm, und er führte mit ihr stille Gespräche; darüber kam es aber auch, daß er so manches in der Welt gar nicht bemerkte, was weit einfältigern Gemütern ganz geläufig war, weshalb es auch geschah, daß ihn die beschränkten Leute leicht für unverständig oder albern hielten. Dafür bemerkte er aber manches, das jedem andern entging, und die Wahrheit und Feinheit seines Witzes setzte dann die Menschen oft in Erstaunen. So war Franz Sternbald um diese Zeit, ich weiß nicht ob ich sagen soll ein erwachsenes Kind, oder ein kindischer Erwachsener. O wohl dir, daß dir das Auge noch verhüllt ist über die Torheit und Armseligkeit der Menschen, daß du dir und deiner Liebe dich mit aller Unbefangenheit ergeben kannst! Seliges Leben, wenn der Mensch nur noch in sich lebt, und die übrigen umher nicht in sein Inneres einzudringen vermögen und ihn dadurch beherrschen. Es kommt bei den meisten eine Zeit, wo der Winter beständig in ihren Sommer hineinscheint, wo sie sich selbst vergessen, um es nur den andern Menschen recht zu machen, wo sie ihrem Geiste keine Opfer mehr bringen, sondern ihr eigenes Herz als Opfer auf den Altar der weltlichen Eitelkeiten niederlegen.

Als es Abend geworden war und der rote Schimmer bebend an den Gebüschen hing, war seine Empfindung sanfter und schöner geworden. Er wiederholte den Brief Dürers in seinen Gedanken, und zeichnete sich dabei die schönen Abendwolken in seinem Gedächtnisse ab. Er hatte sich im Garten in eine Laube zu einem frischen Bauermädchen gesetzt, das schon seit lange viel und lebhaft mit ihm gesprochen hatte. Jetzt lag das Abendrot auf ihren Wangen, er sah sie an, sie ihn, und er hätte sie gern geküßt, so schön kam sie ihm vor. Sie fragte ihn, wann er zu reisen gedächte, und es war das erstemal, daß er ungern von seiner Reise sprach. »Ist Italien weit von hier?« fragte die unwissende Gertrud.

»O ja«, sagte Franz, »manche Stadt, manches Dorf, mancher Berg liegt zwischen uns und Italien. Es wird noch lange währen, bis ich dort bin«

»Und Ihr müßt dahin?« fragte Gertrud.

»Ich will und muß«, antwortete er; »ich denke dort viel zu lernen für meine Malerkunst. Manches alte Gebäude, manchen vortrefflichen Mann habe ich zu besuchen, manches zu tun und zu erfahren, ehe ich mich für einen Meister halten darf.«[737]

»Aber Ihr kommt doch wieder?«

»Ich denke«, sagte Franz, »aber es kann lange währen, und dann ist hier vielleicht alles anders, dann bin ich hier längst vergessen, meine Freunde und Verwandten sind vielleicht gestorben, die Burschen und Mädchen, die eben so fröhlich singen, sind dann wohl alt und haben Kinder. Daß das Menschenleben so kurz ist, und daß in der Kürze dieses Lebens so viele und betrübte Verwandlungen mit uns vorgehn!«

Gertrud ward von ihren Eltern abgerufen und sie ging nach Hause, Franz blieb allein in der Laube. »Freilich«, sagte er zu sich, »ist es etwas Schönes, ruhig nur sich zu leben, und recht früh das stille Land aufzusuchen, wo wir einheimisch sein wollen. Wem die Ruhe gegönnt ist, der tut wohl daran; mir ist es nicht so. Ich muß erst älter werden, denn jetzt weiß ich selber noch nicht was ich will.«

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 728-738.
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