Fünftes Kapitel

[978] Castellani war zurückgekommen, Franz hatte in seiner und Lenorens Gesellschaft Florenz verlassen. Jetzt waren sie vor Rom, die Sonne ging unter, alle stiegen aus dem Wagen, um den erhabenen Anblick zu genießen. Eine mächtige Glut hing über der Stadt, das Riesengebäude, die Peterskirche, ragte über allen Häusern hervor, alle Gebäude sahen dagegen nur wie Hütten aus. – Sternbalds Herz klopfte, er hatte nun das, was er von Jugend auf immer mit so vieler Inbrunst gewünscht hatte, er stand nun an der Stelle, die ihm so oft ahndungsvoll vorgeschwebt war, die er schon in seinen Träumen gesehn hatte.

Sie fuhren durchs Tor, sie stiegen in ihrem Quartiere ab. Sternbald fühlte sich immer begeistert, die Straßen, die Häuser, alles redete ihn an.

Castellani war ein großer Freund der Kunst, er studierte sie unablässig, und schrieb darüber, sprach auch viel mit seinen Freunden. Sternbald war sein Liebling, dem er gern alle seine Gedanken mitteilte, dem er nichts verbarg. Er hatte in Rom viele Bekannte, meistens junge Leute, die sich an ihn schlossen, ihn oft besuchten und gewissermaßen eine Schule oder Akademie um ihn bildeten. Auch ein gewisser Camillo, dessen Andrea del Sarto schon erwähnt hatte, besuchte ihn. Dieser Camillo war ein Greis, lang und stark, der Ausdruck seiner Mienen hatte etwas Seltsames, seine großen feurigen Augen konnten erschrecken, wenn er sie plötzlich herumrollte. Seine Art zu sprechen war ebenso auffallend, er galt bei allen seinen Bekannten für wahnsinnig, sie behandelten ihn als einen Unverständigen, den man schonen müsse, weil er der Schwächere sei. Er sprach wenig, und hörte nur zu, Castellani war freundlich gegen ihn, nahm aber sonst mit ihm wenige Rücksicht.

Sternbald besuchte die Kirchen, die Gemäldesammlungen, die Maler. Er konnte nicht zur Ruhe kommen, er sah und erfuhr so viel, daß er nicht Zeit hatte, seine Vorstellungen zu ordnen. Dabei gab er sich Mühe, mit jedem Tage in seinen Begriffen weiterzukommen,[978] und in das eigentliche Wesen und die Natur der Kunst einzudringen. Er fühlte sich zu Castellani freundschaftlich hingezogen, weil er durch diesen am meisten in seiner Ausbildung, in der Erkenntnis gewann; er besuchte die Gesellschaften fleißig, und bestrebte sich, kein Wort, nichts, was er dort lernte, wieder zu verlieren.

Castellanis Begriffe von der Kunst waren so erhaben, daß er keinen der lebenden oder gestorbenen Künstler für ein Musterbild, für vollendet wollte gelten lassen. Er belächelte oft Sternbalds Heftigkeit, der ihm Raffael, Buonarotti, oder gar Albrecht Dürer nannte, der sich ungern in Vergleichungen einließ, und meinte, jeder sei für sich der Höchste und Trefflichste. »Ihr seid noch jung«, sagte dann sein älterer Freund, »wenn Ihr weiterkommt, werdet Ihr statt der Künstler die Kunst verehren, und einsehn, wie viel noch einem jeden gebricht.«

Sternald gewöhnte sich mit einiger Überwindung an seine Art zu denken, er zwang sich, nicht heftig zu sein, nicht seine Gefühle sprechen zu lassen, wenn sein Verstand und Urteil in Anspruch genommen wurden. Er sah jetzt mehr als jemals ein, wie weit er in der Kunst zurück sei, ja wie wenig die Künstler selbst von ihrer Beschäftigung Rechenschaft geben könnten.

Es ward so eingerichtet, daß sich die Gesellschaft zweimal in der Woche versammelte, und jedesmal wurde über die Kunst disputiert, wobei sich Castellani besonders mit seinen Reden hervortat. Sie waren an einem Nachmittage wieder versammelt, auch Camillo war zugegen, der abseits in einer Ecke stand und kaum hinzuhören schien.

»Wenn man«, sprach Castellani, »erst mehr die Frage untersuchen wird: Was soll Kunst sein? was kann sie sein? so werden wir auf diesem Wege weiterkommen. Ich bin gar nicht in Abrede, und es wäre töricht von mir, dergleichen zu leugnen, daß Michael Angelo ein ausgezeichneter Geist ist, nur ist es wohl Übereilung des Zeitalters, ihn und Raffael über alle übrigen Sterblichen hinüberzuheben, und zu sagen: seht, sie haben die Kunst erfüllt!

Jegliche Kunst hat ihr eigentümliches Gebiet, ihre Grenzen, über die sie nicht hinausschreiten darf, ohne sich zu versündigen. So die Poesie, Musik, Skulptur und Malerei. Keiner muß in das Gebiet des andern streifen, jeder Künstler muß seine Heimat kennen. Dann muß jeglicher die Frage genau untersuchen: was er mit seinen Mitteln für vernünftige Menschen zu leisten imstande ist. Er wird seine Historie wählen, er wird den Gegenstand überdenken,[979] um sich keine Unwahrscheinlichkeiten zuschulden kommen zu lassen, um nicht durch Einwürfe des kalten, richtenden Verstandes seinen Zauber der Komposition wieder zu zerstören. Den Gegenstand gut zu wählen ist aber nicht genug, auch den Augenblick seiner Handlung muß er fleißig überdenken, damit er den größten, interessantesten heraushebe, und nicht am Ende male, was sich nicht darstellen läßt. Dazu muß er die Menschen kennen, er muß sein Gemüt und fremde Gesinnungen beobachtet haben, um den Eindruck hervorzubringen, dann wird er mit gereinigtem Geschmacke das Bizarre vermeiden, er wird nur täuschen und hinreißen, rühren aber nicht erstaunen wollen. Nach meinem wohlüberdachten Urteil hat noch keiner unsrer Maler alle diese Forderungen erfüllt, und wie könnte es irgendeiner, da sich noch keiner der erstgenannten Studien beflissen hat? Diese müssen erst in einem hohen Grade ausgebildet sein, ehe die Künstler nur diese Forderungen anerkennen werden.

Um namentlich von Buonarotti zu sprechen, so glaube ich, daß er durch sein Beispiel die Kunst um viele wichtige Schritte wieder zurückgebracht hat, statt ihr weiterzuhelfen, denn er hat gegen alle Erfordernisse eines guten Kunstwerks gesündigt. Was will die richtige Zeichnung seiner einzelnen Figuren, seine Gelehrsamkeit im Bau des menschlichen Körpers, wenn seine Gemälde selbst so gar nichts sind? Was soll ich aber genießen und fühlen, wenn die Ausführung auch gar keinen Tadel verdiente?«

»Nichts!« rief Camillo aus, indem er mit dem höchsten Unwillen hervortrat. »Glaubt Ihr, daß der große, der übergroße Buonarotti daran gedacht hat, Euch zu entzücken, als er seine mächtigen Werke entwarf? Oh, ihr Kurzsichtigen, die ihr das Meer in Bechern erschöpfen wollt, die ihr dem Strome der Herrlichkeit seine Ufer macht, welcher unselige Geist ist über euch gekommen, daß ihr also verwegen sein dürft? Ihr glaubt die Kunst zu ergründen, und ergründet nur eure Engherzigkeit, nach dieser soll sich der Geist Gottes richten, der jene erhabene Ebenbilder des Schöpfers beseelt. Ihr lästert die Kunst, wenn ihr sie erhebt, sie ist nur ein Spiel eurer nichtigen Eitelkeit. Wie der Allmächtige den Sünder duldet, so erlaubt auch Ange los Größe, seine unsterblichen Werke, seine Riesengestalten dulden es, daß ihr so von ihnen sprechen dürft, und beides ist wunderbar.«

Er verließ im Zorne den Saal, und alle erhuben ein lautes Lachen. »Was er nicht versteht«, sagte Sternbalds Nachbar, »hält er für Unsinn.« Sternbald aber war von den Worten und den Gebärden des Greises tief ergriffen, dieser enthusiastische Unwille[980] hatte ihn mit angefaßt, er verließ schnell die Gesellschaft, ohne sich zu entschuldigen, ohne Abschied zu nehmen.

Er ging dem Alten durch die Straßen nach, und traf ihn in der Nähe des Vatikans. »Verzeiht«, sagte Sternbald, »daß ich Euch anrede, ich gehöre nicht zu jenen, meine Meinung ist nicht die ihrige, immer hat sich mein Herz dagegen empört, so mit dem Ehrwürdigsten der Welt umzugehn.«

»Ich war ein Tor«, sagte der Greis, »daß ich mich wieder, wie mir oft geschieht, von meiner Hitze übereilen ließ. Wozu Worte? Wer versteht die Rede des andern?«

Er nahm Franz bei der Hand, sie gingen durch das große Vatikan, der Alte eilte nach der Kapelle des Sixtus. Schon fiel der Abend und seine Dämmerung herein, die großen Säle waren nur ungewiß erleuchtet. Er stellte ihn vor die Propheten und Sibyllen, und ging schweigend wieder fort.

In der ruhigen Einsamkeit schaute Sternbald das erhabene Gedicht mit demütigen Augen an. Die großen Gestalten schienen sich von oben herabzubewegen. Er stand da, und bat den Figuren, dem Geiste Michael Angelos seine Verirrung ab.

Die großen Apostel an der Decke sahen ihn ernst mit ihren ewigen Zügen und Mienen an, die Schöpfungsgeschichte lag wunderbar da, der Allmächtige auf dem Sturmwinde herfahrend. Er fühlte sich innerlich neu verändert, neu geschaffen, noch nie war die Kunst so mit Heeresmacht auf ihn zugekommen.

»Hier hast du dich verklärt, Buonarotti, großer Eingeweihter«, sagte Franz, »hier schweben deine furchtbaren Rätsel, du kümmerst dich nicht darum, wer sie versteht.«

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 978-981.
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