20. Einlage des vorigen Briefes (Emilie Burton an Amalie)

[559] Bondly.


Endlich, endlich muß ich es Ihnen bekennen, daß jener Unbekannte, von dem ich sprach, Lovell ist. – Sie werden erschrecken, Sie werden bei dem Namen zittern. Oh! Amalie, Sie haben ihn nie gekannt, Sie haben sein Herz nie genug gewürdiget. –[559]

Wie wäre es möglich gewesen, daß ich seinen Tränen, seinen Klagen hätte widerstehen können? Sein Jammer hat mein Herz getroffen, und, nein, Amalie, ich kann mir keine Vorwürfe darüber machen.

Ach der Arme! er ist von der ganzen Welt verstoßen und höhnisch von jedem Herzen zurückgewiesen, er sieht sich um, ob sich nicht noch irgendwo ihm eine Seele wohlwollend entgegenneigt, und nirgends, nirgends. – Ohne Freunde, ohne Liebe muß er seinen Kummer tragen; ja, ich habe mein Glück dem seinigen aufgeopfert, ich will ihm folgen, und seine harten Schicksale mit ihm teilen. – Mein Bruder hat kein Herz, da er ihn so unbarmherzig verstoßen kann; ich bin die einzige in der Welt, die ihn liebt, die einzige, die ihn wieder mit der Welt und den Menschen versöhnen wird. Ist mein ganzes Leben nicht verdienstlich genug, wenn ich diese eine Seele von der Verzweiflung gerettet habe?

In dieser Nacht fliehe ich mit ihm fort, ich folge ihm, wohin er mich führt. – Der Wagen hält eine Meile von hier im Walde, um ein Uhr bin ich dort. Ich kann von meinem Bruder nicht Abschied nehmen.

Meinetwegen war er hier in Bondly ungekannt, gleich am zweiten Tage entdeckte er sich mir. Er gehört mir nur einzig an, und niemand weiter in der Welt, so wie ich allein die Seinige bin.

Und wenn ich ihn auch nicht liebte, so würd ich ihm doch folgen, so innig hat er mich erschüttert, so sehr bin ich von seinen schweren Leiden durchdrungen. Ich würde ihm meine Gegenliebe heucheln, bloß um ihn wieder zu trösten, mit Freuden würde ich mein eigenes Herz aufopfern, bloß um das seinige zu retten.

Sie werden mich eine Schwärmerin nennen, aber glauben Sie mir, ich kann nicht anders. – Wenn er fort ist, was sollt ich dann noch hier bei meinem Bruder im einsamen Schlosse? – Nein, ich muß ihm folgen, auch wenn ich nicht wollte.

Grüßen Sie Ihren Bruder. – Ich weiß nicht, was er sagen wird, aber ich kann meinem Schicksale nicht entgegenhandeln. – Jeder muß nach seiner Überzeugung leben, und ich fühle in mir, daß ich recht tue. – Ich fürchte Karls Hitze, suchen Sie ihn daher zu beruhigen, wenn es irgend möglich ist. – Er hat mich nie recht herzlich geliebt, das habe ich immer sehr deutlich empfunden, so wenig wie ich ihn lieben konnte. –

Wie in der Zukunft alles werden wird, kann ich jetzt nicht wissen, aber in diesem Augenblicke kümmert es mich wenig.

Ich hätte Ihnen noch mehr zu sagen, aber die Zeit wird zu kurz; grüßen Sie Mortimer – entschuldigen Sie mich bei den[560] harten Menschen, die mich verdammen, und bleiben Sie immer meine Freundin.

Ihrem Bruder sagen Sie: er soll mich vergessen und es wird auch geschehen. Sie selbst, liebste Freundin –

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 559-561.
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