10. William Lovell an Eduard Burton

[256] London.


Ich bin auf dem Landhause meines Vaters, nahe bei London, ich sehe die Türme der Stadt, die Amalie bewohnt, ich höre ihre Glocken aus der Ferne – oh, das Herz schlägt mir ängstlich und ungestüm, daß ich sie so nahe bei mir weiß und sie noch nicht gesehen habe – ja, ich muß sie heut noch sprechen.

Mein Vater war ungemein fröhlich, da er mich wiedersah, seine Freude hatte einen Anstrich von Melancholie, die mich gerührt hat, er sah bleich und krank aus, er umarmte mich mit einer Herzlichkeit, in der ich ihn noch nie gesehn habe, er findet überhaupt sein Glück in dem meinigen und in der Zukunft, die er mir ebnen will; er sprach so manches von Verbindungen, die er meinetwegen suchen würde; er schien mir ankündigen zu wollen, wie sehr er einst meine Verheiratung mit der einzigen Tochter und Erbin des Lord Bentink wünschen würde – wer weiß, wie viel Unglück mir noch die trübe Zukunft aufbewahrt. – Ich überlasse mich zuweilen mit einer unbegreiflichen Trägheit der Zeit, daß sie den Knäuel auseinander wickele, der mir zu verworren scheint.

Von Dir hab ich also nun auf lange Abschied genommen? – Bald werden sich Städte und Meere zwischen uns werfen, bald wird ein Brief von Dir zu mir Wochen auf seiner Reise brauchen. – Den Abend vor meiner Abreise von Bondly ging ich noch einmal durch die mir so bekannten Gärten, ich nahm von jedem Orte Abschied, der mir durch die Zeit, oder irgendeine Erinnerung wert geworden war. Aus den Wipfeln fiel eine schwere Ahndung auf mich herab, daß ich nie dort wieder wandeln würde, oder im Verluste aller dieser großen Gefühle, die den Geist in die Unendlichkeit drängen und uns aus unsrer eigenen Natur herausheben.

Wenn ich nun einst wiederkehrte, den Busen mit den schönsten Gefühlen angefüllt, mein Geist genährt mit den Erfahrungen der Vorwelt und eigenen Beobachtungen, wenn ich nun bemüht gewesen wäre, die Schönheiten der ganzen Natur in mich[256] zu saugen, um dann ein fades, alltägliches Leben zu führen, von der Langeweile gequält, von allen meinen großen Ahndungen verlassen; – wie ein Gefangener, der seinen Ketten entspringt, im hohen Taumel durch den sonnbeglänzten Wald schwärmt – und dann zurückgeführt, von neuem an die kalte gefühllose Mauer geschmiedet wird. –

Doch, ich sehe Dich lächeln – nun wohl, ich gebiete meiner Phantasie, und diese schwarzen Gestalten sinken mit ihrem nächtlichen Dunkel vom Tuche herab, und ein liebliches Morgenrot dämmert empor – da hebt sich nun die ganze Landschaft majestätisch und schön aus dem chaotischen Nebel empor, wie von der Hand eines Gottes angerührt steht die Natur in ihrer reizendsten Schöne da und die Phantasie verliert sich in den Gebirgen, den Grenzen des Horizontes. – Schon ist die Natur geschäftig, in fernen Landen alle meine Ideale zu realisieren, schon seh ich jede Landschaft wirklich, die ich einst als Gemälde bewunderte oder von der ich in einer Beschreibung entzückt ward, die Kunstwerke des großen Menschenalters stehn vor mir, die die grausame Hand der unerbittlichen Zeit selbst nicht zu zernichten wagte, um nicht die glänzendste Periode der Weltgeschichte auszulöschen. –

Oh, wenn Amalie mich liebte! – Eduard, ja, ich werde sie heut noch sehn!

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 256-257.
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