26. Betty an Amalie

[623] Bondly.


Wie befinden Sie sich, teuerste Amalie? Wenn Sie ebensoviel an mich denken, wie ich an Sie, so denken Sie recht oft an mich; doch das darf ich nicht hoffen. Sie sind immer so gut und Ihre[623] Briefe sind so gut, daß ich glaube, ich könnte auf Erden keine bessere Freundin finden. Nach Eduard liebe ich Sie und meinen alten lieben Vater am meisten, der zwar zuweilen etwas viel spricht, es aber doch immer herzlich gut meint. Manche Leute haben ihm daraus zuweilen einen Vorwurf gemacht, aber man lasse doch den alten Mann, wenn es ihm nur Vergnügen macht. Sehn Sie, in seinem Elende konnte er sich manchmal recht gut trösten, wenn er selbst lange Reden über das Unglück, oder über seine Standhaftigkeit hielt; er sagte selbst, daß im Sprechen eine große Erleichterung stecke. Freilich wird mein Vater keinem andern Menschen so liebenswürdig vorkommen, wie ich ihn sehe, indessen wird ihn doch gewiß jeder für einen guten und rechtschaffenen Mann halten, und das ist für mich weit mehr, als die Liebenswürdigkeit. Mich freut es immer von neuem, daß er sich jetzt so glücklich fühlt, da er wieder Bedienten befehlen und ausreiten, und Anordnungen über die Jagd treffen kann, und Eduard tut ihm alles Ersinnliche zu Gefallen.

Mir ist oft recht sonderbar zumute, wenn ich jetzt unter Eduards Büchern manche wiederfinde, die ich in meiner unglücklichen Lage las, und die mich oft trösteten; ich habe sie von neuem und mit einer unbeschreiblichen Sehnsucht durchgelesen, sie haben mich wieder gerührt und ich halte sie in großen Ehren. Von je hab ich unsern armen Otway recht innig bemitleidet, der so großen Mangel litt, um den sich niemand kümmerte, und aus dem doch so oft ein recht himmlischer Engel schreibt: wie konnten die Menschen so wenig für ihn sorgen! Sie verdienen es gar nicht, daß sie ihn lesen dürfen. – Ich möchte alle jene Bücher wieder zurückhaben, mit denen ich im trüben Wetter so vertraut ward, die ich mit verweinten Augen und mit einem mattklopfenden Herzen las: ich kann mich in manchen Stunden so in jene Zeit zurückfühlen, daß ich noch jetzt über manche Vorfälle von neuem weinen muß, und wenn ich dann meine Tränen auf den Wangen fühle, so ist mir oft plötzlich, als wäre alles noch ebenso, als wären alle bisherigen Freuden nur ein leichter Schlummer gewesen. Wenn man erst über das Unglück hinüber ist, so erinnert man sich seiner mit einer gewissen stillen und unbeschreiblichen Freude.[624]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 623-625.
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