11. William Lovell an Rosa

[490] Rom.


Mein Herz ist die Höhle des Aeolus geworden, in dem alle Stürme durcheinandermurren und sich mit wildem Grimme von ihren Ketten losreißen wollen. Oh, lassen Sie mich diesen Andrea begreifen, und ich will mich zufriedengeben und ich will alles übrige vergessen.

Ist die Welt nicht ein großes Gefängnis, in dem wir alle wie elende Missetäter sitzen, und ängstlich auf unser Todesurteil warten? O wohl den Verworfenen, die bei Karten oder Wein, bei einer Dirne oder einem langweiligen Buche sich und ihr Schicksal vergessen können!

Doch der schwarze Tag bricht endlich, endlich herein. Er kann nicht ausbleiben. Alle vorhergehenden Tage waren nur Vorbereitungen zum letzten schrecklichen. Die finstre Parze findet endlich die Stelle, wo sie den Faden zerreißt. – O wehe uns, Rosa, daß wir geboren wurden!

O des klagenden Toren! mit ohnmächtiger Kraft sperrt sich das arme Tier, in den Stall zu gehn, wo das schlachtende Messer seiner wartet. Die Zeit, dieser unbarmherzige Henkersknecht, schleppt dich hinein, das Tor schlägt hinter dir zu und du stehst einsam unter deinen Mördern.

Was kann der Mensch wollen und vollbringen? Was ist sein Tun und Streben? –

O daß wir wandern könnten in ein fremdes, andres Land; ausziehn aus der Knechtschaft, in der uns unsre Menschheit gefangenhält!

Gräßlich werden wir zurückgehalten, und die Kette wird immer kürzer und kürzer. Alle täuschenden Freuden schlagen rauschend die Flügel auseinander und sind im Umsehn entflogen. Der Putz des Lebens veraltet und zerfällt in Lumpen; alle Gebrechen werden sichtbar.

Einsam steh ich, mir selbst meine Qual und mein Henker, in der Ferne hör ich die Ketten der andern rasseln. – Schauder stehn vor unserm Gefängnisse zur Wacht. – Da läßt sich keiner bestechen – eisenfest und unwandelbar stehn sie da. – –

Ich habe den Ruf vom jenseitigen Ufer gehört; ich habe den seltsamen Wink verstanden, und das Boot eilt schon herüber, mich abzuholen; ich trage meine Sünden in meiner Hand und[490] gebe sie als Fährgeld ab. – – Die Wogen rauschen, es schwankt das Boot, das Steuer ächzt, und bald tret ich an das düstre fremde Gestade, und in doppelter Vereinigung kommen mir alle meine Schmerzen entgegen.

Gestern war ich bei Andrea und seiner Gesellschaft. Sie sprachen viel durcheinander und saßen in Reihen hinab, wie gefüllte Bilder aus Erde. Alle waren mir fremd und armselig, mit allen, selbst mit dem wunderbaren Andrea hatt ich ein inniges Mitleiden. Sie waren ernst und feierlich, und mir war, als müßt ich lachen. – Daß Gedanken und Vorstellungen den sogenannten Frohsinn aus unserm Gesichte verjagen können, ist bejammernswürdig.

Ich streckte meine Hand aus und berührte den Nächstsitzenden, und wie ins Reich der Vernichtung griff ich hinein und war ein Glied der zerbröckelnden Kette. Ich gehörte nun mit zum Haufen, und war mir selber fremd und armselig, so wie die übrigen.

Aller Augen waren starr auf die Wand geheftet, in allen spiegelte sich der Widerschein des Todes. Die Kerzen brannten dunkler, die Vorhänge rauschten geheimnisvoll, das Blut in meinen Adern wollte aufsieden und erstarrte.

Töne schlugen das Ohr mit seltsamer Bedeutung, wie Arabeskengebilde fuhr es durch meinen Sinn; ich erwartete etwas Fremdgestaltetes und lechzte nach etwas Ungeheuerm. Und ich vergaß hinter mir zu sehn und stand unter meinen Freunden einsam, wie in einem Walde von verdorrten Bäumen.

Schatten fielen von oben herunter und sanken in den Boden. Dämpfe standen wie Säulen im Gemache, Dämmerung wankte hin und wider wie ein Vorhang. Die Seele vergaß sich selbst und ward ein Bild von dem, was sie umgab.

Es kreiste und wogte gewaltig durcheinander; wie ein Unding, das zum Entstehen reif wird, so kämpfte die Masse gegen sich selbst. – Es schritt näher und glich einer Nebelgestalt; vor mir vorüber wie ein pfeifender Wind – und oh – Rosaline!

Sie war es, ganz, wie sie lebte. Sie warf einen Blick auf mich und wie ein Messer traf er meine Augen, wie ein Berg mein Herz. Ich sträubte mich gegen meine innerliche Empfindung und es zog mich ihr nach; – ich stürzte laut schreiend nach ihrem Gewande und stieß mit dem Kopfe an die Mauer.

Ich erschrak nicht, verwunderte mich nicht und erwachte auch nicht. Wie andre Elemente umgab mich alles, ich sah die Freunde wieder, ich hörte wieder die Bäume und Wasser, die ganze Mühle der gewöhnlichen Welt, mit allen ihren Gängen.[491]

Andrea und die übrigen waren stumm und kalt, aber sie standen fern, fern von mir hinunter, ich kannte sie alle und verstand sie nicht, ich kam zurück und war nicht unter ihnen.

Man öffnete die Fenster; die Morgenluft brach herein, der Himmel war wie eine Platte buntgestreifter Marmor, die Wände der Welt waren wie immer mit ihren seltsamen Gewächsen ausgelegt, und wie ein wildes Tier, so fiel eine nüchterne Empfindung mein Herz an.

Wo steht die letzte Empfindung, daß ich zu ihr gehe? Wo wandeln die seltsamsten Gefühle, daß ich mich unter sie mische? Daß ich von diesem Traume erwache und einen andern noch fester träume!

Wolken fliehn und kommen wieder, das seltsamste Morgenrot wird Tagesschein. – So wird es mit diesem Herzen gehn. – Leider, daß ich das schon jetzt empfinde!

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 490-492.
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