1. Karl Wilmont an Mortimer

[509] London.


Du vermutest mich vielleicht noch in Bondly und wunderst Dich, den Brief von London datiert zu sehn? Nein, Mortimer, ich wünschte nicht, daß Du lange in Deinem Erstaunen bleiben mögest, denn ich fühle es, daß ich hiersein muß.

Ich habe vier glückliche Tage in Bondly an Emiliens Seite verlebt, und bei Gott, es hat mich noch nicht einen Augenblick gereuet, daß ich wieder so schnell abgereist bin. Ich sollte unwürdig genug sein, sie sogleich mit ihrer reichen Aussteuer zu heiraten und dann gemächlich von ihrem Vermögen zu leben? Es kam bloß auf mich an, aber bei der ersten Nachricht von Burtons Tode ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich ein unwürdiger Mensch wäre, wenn ich es täte. Du weißt, daß ich mehrere gute Empfehlungen an den Minister hatte, und er nahm mich freundlicher auf als ich erwarten konnte: bei ihm arbeite ich jetzt. Ich teilte Emilien sogleich, als ich in Bondly ankam, meinen Plan mit, und sie konnte ihn auf keine Weise mißbilligen. Das Bewußtsein ihrer Liebe begleitet mich an meinen Arbeitstisch und die schwersten Geschäfte lächeln mich an; wir sind beide jung, und so mag unsere Vereinigung noch immer ein Jahr oder etwas länger aufgeschoben bleiben; in dieser Zeit denke ich befördert zu werden und ihr dann doch mit einem kleinen Glücke entgegenzukommen.

Ich lächle über mich selber, wie ich bisher alles ernstere, festere Leben verabsäumt habe, sie nur so oft als möglich zu sehn suchte, und daß ich jetzt hier sitze, freiwillig von ihr verbannt und mir noch aus meinem kältern Sinn ein großes Verdienst mache. Aber bisher war sie mir ungewiß.

Zuweilen mache ich mir Vorwürfe darüber, daß ich innerlich so froh bin. Die Menschen, (und ich mit eingerechnet,) sind ausgemachte Narren. Einen trüben, verkehrten Sinn, in dem sich alle Gegenstände dunkel und unkenntlich abspiegeln, halten sie viel leichter für den Rahmen der Tugend, als die frohe Gemütsstimmung.[509] Ich freue mich ja nicht über Burtons Tod, nicht daß er mir aus dem Wege gegangen ist – o nein, nur über die Ebene, die plötzlich, ohne mein Zutun, vor meinen Füßen liegt. Die Menschen sind darin ganz gute Geschöpfe, und wohl mir, daß auch ich mir jetzt so recht wichtig und bedeutend vorkomme, daß ich alle Vorstellungen auf mich und mein künftiges Glück beziehe! Man lasse doch alle große kosmopolitische Plane, allen Kummer über Weltbegebenheiten fahren, und liebe sich und die Menschen recht innig, die der gütige Himmel dicht um uns angepflanzt hat! Dieser Empfindung, diesem Vorsatze will ich folgen, und Du, mein lieber Mortimer, bist mit unter meine Geliebten eingeschlossen; aber auch meine Schwester, die Du grüßen sollst, und jeden, der sonst im Hause nach mir frägt, selbst die häßliche Charlotte nicht abgerechnet, die Dir so zuwider ist.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 509-510.
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