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[298] Der Tag, an dem Sergei Iwanowitsch nach Pokrowskoje gekommen, war für Ljewin ganz besonders reich an Mühe und quälenden Gedanken.[298]

Es war die Zeit im Jahre, wo mit der allergrößten Eile gearbeitet werden muß, die Zeit, wo beim ganzen Volke eine so außerordentliche, aufopfernde Anspannung aller Kräfte für die Arbeit in Erscheinung tritt, wie sie in anderen Lebensverhältnissen nicht vorkommt, eine Anstrengung, die sehr hoch bewertet werden würde, wenn die Menschen, die diese trefflichen Eigenschaften an den Tag legen, sie selbst zu schätzen verständen, und wenn sich der gleiche Vorgang nicht alle Jahre wiederholte, und wenn die Ergebnisse dieser Anspannung nicht gar so einfacher Natur wären.

Den Roggen und den Hafer zu schneiden und einzufahren, die Wiesen zu mähen, die Brache aufzuackern, das Korn zu dreschen und die Wintersaat auszusäen, all das sieht so einfach und gewöhnlich aus; aber um mit alledem rechtzeitig fertig zu werden, muß die gesamte Bevölkerung eines Dorfes, alt und jung, diese drei, vier Wochen ohne Unterbrechung dreimal soviel wie gewöhnlich arbeiten, sich dabei von Kwaß, Zwiebeln und Schwarzbrot nähren, bei Nacht die Garben ausdreschen und das Stroh fortschaffen und sich nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf für den Tag gönnen. Und so spielt sich das alljährlich in ganz Rußland ab.

Ljewin, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande und in enger Berührung mit dem Landvolke verbracht hatte, fühlte jedesmal in dieser Arbeitszeit, daß die allgemeine Aufregung des Volkes sich auch ihm mitteilte.

Am frühen Morgen dieses Tages war er zur ersten Roggensaat hinausgeritten und zum Hafer, der in Schober zusammengefahren wurde. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, hatte mit seiner Frau und mit seiner Schwägerin, die inzwischen aufgestanden waren, Kaffee getrunken und war darauf zu Fuß nach dem Vorwerk gegangen, wo die neu aufgestellte Dreschmaschine zur Gewinnung des Saatkorns in Gang gesetzt werden sollte.

Diesen ganzen Tag über dachte Ljewin, während er mit dem Verwalter und den Bauern und zu Hause mit seiner Frau und mit Dolly und mit ihren Kindern und mit seinem Schwiegervater sprach, immer an den einen Gegenstand, der ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und suchte in allem eine Beziehung zu seiner Frage: ›Was bin ich denn? Und wo bin ich? Und wozu bin ich hier?‹

Ljewin stand in dem kühlen Raum der neugedeckten Getreidedarre mit dem noch nicht abgeblätterten, noch duftenden Laubwerk der Dünnlatten aus Hasel, die auf den frisch abgeschälten espenen Sparren des Strohdaches ruhten, und blickte bald durch[299] das offene Tor, in dem der trockene, bittere Staub vom Dreschen umherflog, auf das von der heißen Sonne beschienene Gras der Tenne und auf das frische, soeben aus der Scheune herausgebrachte Stroh, bald nach den buntköpfigen, weißbrüstigen Schwalben, die pfeifend unter das Dach geflogen kamen und mit den Flügeln flatternd in der freien Öffnung des Tores einen Augenblick auf einem Fleck schwebten, bald nach den Menschen, die sich in der dunklen, staubigen Darre umherbewegten; und es kamen ihm seltsame Gedanken:

›Wozu geschieht das alles?‹ dachte er. ›Wozu stehe ich hier und halte sie zur Arbeit an? Warum tummeln sie sich alle so geschäftig und bemühen sich, in meiner Gegenwart ihren Eifer zu zeigen? Warum müht sich diese alte Matrona, meine gute Bekannte, so ab? (Ich habe sie geheilt, als bei dem Brande ihres Hauses ein Balken auf sie gefallen war)‹, dachte er, indem er nach einer hageren alten Frau blickte, die, mit der Harke das Korn heranholend, eifrig mit den bloßen, von der Sonne schwarzgebrannten Füßen auf dem unebenen, harten Dreschboden hin und her ging. ›Damals ist sie noch wieder gesund geworden; aber wenn nicht heute oder morgen, so doch in zehn Jahren wird man sie einscharren, und es wird nichts von ihr übrigbleiben; auch von dieser geputzten Dirne da im roten Rock; die mit so geschickten, weichen Bewegungen die Ähren aus der Spreu zurückwirft, wird einmal nichts übrigbleiben, auch sie wird man einscharren, und diesen scheckigen Wallach, und den sehr bald‹, dachte er, indem er auf das schwer an seinem Bauche tragende und hastig mit aufgeblähten Nüstern atmende Pferd blickte, das unablässig auf das abschüssige, unter seinem Gewichte sich bewegende Tretrad trat. ›Auch dieses Tier wird man einscharren, und auch den Zureicher Fjodor wird man einscharren, mit seinem krausen Bart, der ganz voll Spreu sitzt, und mit seinem Hemd, das auf seiner weißen Schulter ein Loch hat. Und jetzt reißt er da die Garben auf und kommandiert und schreit die Weiber an und schiebt mit einer schnellen Bewegung den Riemen auf dem Schwungrad zurecht. Und was die Hauptsache ist: nicht nur sie, sondern auch mich wird man einscharren, und es wird nichts von mir übrigbleiben. Wozu also all das?‹

Diesen Gedanken gab er sich hin und blickte gleichzeitig auf die Uhr, um zu berechnen, wieviel in einer Stunde gedroschen würde. Er mußte das wissen, um danach die Arbeitsmenge für den Tag festzusetzen.

›Sie dreschen schon fast eine Stunde und haben erst den dritten Haufen angefangen‹, dachte Ljewin, trat zu dem Zureicher und[300] befahl ihm, indem er das Rasseln der Maschine zu übertönen versuchte, loser zuzureichen.

»Du gibst zuviel auf einmal, Fjodor! Siehst du, es verstopft sich, und dann schafft es nicht ordentlich. Du mußt es gleichmäßiger machen!«

Fjodor, ganz schwarz von dem Staube, der ihm an dem schweißigen Gesicht klebte, schrie irgend etwas zur Erwiderung, machte es aber nicht so, wie Ljewin es wollte.

Ljewin ging an die Trommel heran, schob Fjodor zur Seite und fing selbst an zuzureichen.

Nachdem er bis zum Mittagessen der Bauern gearbeitet hatte, bis zu dem es nicht mehr lange gewesen war, verließ er mit dem Zureicher zusammen die Getreidedarre und knüpfte mit ihm ein Gespräch an; sie waren neben einem Schober von gelben Roggengarben stehengeblieben, der auf dem Dreschboden zu Saatkorn sorgsam aufgebaut war.

Der Zureicher war in einem entfernten Dorf zu Hause, in demselben Dorf, wo Ljewin früher Land auf genossenschaftlicher Grundlage abgegeben hatte. Jetzt war das Land an den Herbergswirt verpachtet.

Ljewin sprach mit dem Zureicher Fjodor über dieses Land und fragte ihn, ob nicht vielleicht Platon, ein reicher, braver Bauer aus diesem Dorfe, Lust haben werde, es für das nächste Jahr zu pachten.

»Der Preis ist zu hoch, Konstantin Dmitrijewitsch; so viel kann Platon nicht herausarbeiten«, antwortete der Bauer und suchte die Ähren hervor, die ihm an der schweißigen Brust unter das Hemd geraten waren.

»Aber wie stellt es denn Kirillow an, daß er es herauswirtschaftet?«

»Mitjucha« (so nannte der Bauer verächtlich den Herbergswirt Dmitri Kirillow), »wie wird denn der nicht soviel herausschlagen, Konstantin Dmitrijewitsch! Der preßt die Leute aus und versteht sich auf seinen Vorteil. Der hat kein Erbarmen mit einem Christenmenschen. Dagegen Onkel Fokanütsch« (so nannte er den alten Platon), »der zieht keinem das Fell über die Ohren. Mal kreditiert er, mal läßt er etwas ab. Auch hält er nach der Ernte nicht Nachlese. Er hat ein menschliches Herz.«

»Aber warum läßt er denn etwas ab?«

»Ja, er tut es eben. Wissen Sie, die Menschen sind verschieden. Der eine lebt nur für seinen eigenen Vorteil, wie dieser Mitjucha, und stopft sich nur seinen Bauch voll; aber Fokanütsch, das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt für seine Seele. Er hat Gott vor Augen.«[301]

»Was heißt das: er hat Gott vor Augen, er lebt für seine Seele?« fragte Ljewin; er schrie die Frage beinahe heraus.

»Nun, ganz einfach: er lebt nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot. Die Menschen sind eben verschieden. Um gleich Sie zu nehmen, Sie werden ja doch auch niemandem zu nahe treten ...«

»Na ja, na ja, also adieu!« sagte Ljewin, der vor Aufregung kaum atmen konnte; er drehte sich um, nahm seinen Stock und ging schnell fort auf dem Wege nach seinem Hause. Bei den Worten des Bauern, daß Fokanütsch für seine Seele lebe, nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot, hatte er die Empfindung gehabt, als ob eine Menge unklarer, aber wichtiger Gedanken aus irgendeinem verschlossenen Raum in seinem Innern hervorbräche und als ob diese Gedanken dann, alle nach ein und demselben Ziel strebend, in seinem Kopf umherwirbelten und ihn mit ihrem Lichte blendeten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 298-302.
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