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[306] Hier erinnerte sich Ljewin an einen Vorfall, der sich vor kurzem mit Dolly und ihren Kindern zugetragen hatte. Die Kinder, die allein geblieben waren, hatten angefangen, Himbeeren über den Kerzen zu schmoren und sich gegenseitig Milch wie aus einem Brunnenrohr in den Mund zu gießen. Die Mutter hatte sie dabei betroffen und ihnen in Ljewins Gegenwart vorgehalten, wieviel Arbeit es die Erwachsenen gekostet habe, das herzustellen, was sie da vergeudeten, und daß diese Arbeit um ihretwillen geleistet werde, und daß, wenn sie die Tassen entzwei machten, sie nichts haben würden, um daraus Tee zu trinken, und wenn sie die Milch vergössen, sie keine Nahrung haben und vor Hunger umkommen würden.

Es hatte Ljewin überrascht, mit welchem stillen, trüben Unglauben die Kinder diese Lehren der Mutter anhörten. Es hatte ihnen nur leid getan, daß ihr lustiges Spiel nun zu Ende war, und sie hatten kein Wort von dem geglaubt, was die Mutter gesagt hatte. Sie hatten es auch nicht glauben können, weil sie nicht imstande waren, den ganzen Umfang dessen, wovon sie Nutzen zogen, zu ermessen, und sich darum auch nicht vorstellen konnten, daß das, was sie da zerstörten, dasselbe sei, wovon sie lebten.

›Das ist alles von selbst da‹, dachten sie, ›und daran ist nichts Besonderes und Wichtiges; denn das ist immer dagewesen und wird immer dasein. Und es ist immer ein und dasselbe. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken; das ist immer ohne weiteres so da; aber wir möchten uns gern etwas Eigenes, Neues ausdenken. Da haben wir uns nun ein Spiel erfunden, Himbeeren in eine Tasse zu tun und sie über dem Lichte zu schmoren und[306] einander die Milch von oben in einem Strahle gerade in den Mund zu gießen. Das ist lustig und etwas Neues und doch gewiß nicht eine schlechtere Handlung, als aus den Tassen zu trinken.

Tun wir denn nicht dasselbe, habe ich denn nicht dasselbe getan, als ich mit dem Verstande das Wesen der Naturkräfte und den Zweck des menschlichen Lebens zu erkennen suchte?‹ dachte er weiter.

›Und tun denn nicht alle philosophischen Lehren dasselbe, wenn sie den Menschen auf einem seltsamen Gedankenwege, der seinem Charakter gar nicht entspricht, zu der Erkenntnis dessen führen, was er schon lange weiß und mit solcher Sicherheit weiß, daß er ohne dieses Wissen überhaupt nicht leben könnte? Merkt man es nicht bei jedem Philosophen der Darlegung seiner Lehre deutlich an, daß er ebenso zweifellos wie der Bauer Fjodor (aber keineswegs mit größerer Klarheit als dieser) den Hauptzweck des Lebens im voraus kennt und nur auf dem zweifelhaften Wege des Verstandes wieder zu dem zurückkehren will, was allen von vornherein bekannt ist?

Nun wohl, man versetze einmal die Kinder in die Lage, daß sie sich alles allein beschaffen müßten, sich selbst das Geschirr herstellen, selbst die Milch melken müßten und so weiter. Würden sie dann Mutwillen treiben? Sie würden Hungers sterben. Nun wohl, man lasse uns leben mit unseren Leidenschaften und Gedanken, aber ohne eine Vorstellung von einem einzigen Gotte und Schöpfer oder ohne eine Vorstellung davon, was das Gute ist, ohne ein Verständnis für das sittlich Schlechte!

Nun schön, baut einmal ohne diese Begriffe etwas auf!

Wir verfallen nur deswegen darauf, zu zerstören, weil wir in geistigem Sinne satt sind. Die reinen Kinder!

Woher habe ich diese freudige, mit dem Bauern gemeinsame Erkenntnis, das einzige, was mir die Ruhe der Seele verleiht? Wo habe ich sie herbekommen?

Ich, der ich mit der Vorstellung von Gott erzogen bin und mein ganzes Leben mit den geistigen Gütern erfüllt habe, die mir das Christentum gegeben hat, und völlig erfüllt von diesen Gütern bin und durch sie lebe, ich zerstöre sie, wie die Kinder, weil ich kein Verständnis für sie habe, das heißt, ich will das zerstören, wodurch ich lebe. Aber sobald in meinem Leben ein wichtiger Augenblick kommt, dann gehe ich, wie die Kinder, wenn sie frieren und hungrig sind, zu Ihm hin, und habe in noch geringerem Grade als die Kinder, die die Mutter für ihre kindlichen Unarten schilt, eine Empfindung dafür, daß meine kindischen Versuche, vor lauter Wohlbefinden Tollheiten zu treiben, mir verziehen werden.[307]

Ja, ja, was ich weiß, weiß ich nicht durch den Verstand, sondern es ist mir gegeben, mir geoffenbart, und ich weiß es mit dem Herzen, weiß es durch den Glauben an das wichtigste Stück von dem, was die Kirche bekennt.‹

»Die Kirche? Die Kirche!« sagte Ljewin mehrmals vor sich hin. Er drehte sich auf eine andere Seite und blickte, auf den Arm gestützt, in die Ferne, nach der Herde, die am gegenüberliegenden Ufer zum Flusse hinabstieg.

›Aber kann ich alles das glauben, was die Kirche bekennt?‹ dachte er, indem er sich selbst prüfte und alles erwog, wodurch seine jetzige Ruhe gestört werden könnte. Er rief sich absichtlich jene Glaubenssätze der Kirche ins Gedächtnis zurück, die ihm immer am seltsamsten erschienen waren und am meisten Anstoß gegeben hatten. ›Die Schöpfung? Aber wodurch habe ich denn meinerseits das Sein erklärt? Durch das Sein? Durch nichts? ... Der Teufel und die Sünde. Aber wodurch erkläre ich denn das Böse? ... Der Erlöser? ...

Aber ich weiß nichts, nichts weiß ich und kann weiter nichts wissen als eben nur das, was mir wie allen anderen Menschen gesagt worden ist.‹

Und es schien ihm jetzt, daß es unter den Glaubenssätzen der Kirche keinen einzigen gebe, der dem wichtigsten Stücke widerstritte: dem Glauben an Gott, dem Glauben an das Gute als einzige Bestimmung des Menschen.

Unter jeden Glaubenssatz der Kirche konnte man den Glaubenssatz schreiben, daß man der Gerechtigkeit dienen müsse und nicht dem eigenen Vorteil. Und keiner jener kirchlichen Glaubenssätze widerstritt diesem Satze, ja es war vielmehr ein jeder von ihnen unumgänglich notwendig, damit sich jenes größte, beständig auf der Erde sichtbare Wunder vollziehe, das darin besteht, daß es einem jeden, im Verein mit Millionen verschiedenartiger Menschen, Weisen und Narren, Kindern und Greisen, mit allen, mit Bauern, mit Lwow, mit Kitty, mit Bettlern und Kaisern, möglich ist, in unzweifelhafter Weise ein und dasselbe zu verstehen und das Seelenleben zu führen, um dessentwillen allein das Leben lebenswert ist und das allein in Achtung bei uns steht.

Auf dem Rücken liegend, blickte er jetzt hinauf nach dem hohen, wolkenlosen Himmel. ›Weiß ich etwa nicht, daß dies ein unendlicher Raum und nicht ein rundes Gewölbe ist? Aber wie sehr ich auch die Augen zusammenkneifen und meine Sehkraft anstrengen mag, ich kann ihn immer nur als rund und begrenzt sehen; und obwohl ich weiß, daß ich einen unendlichen Raum vor mir habe, handle ich unzweifelhaft richtig, wenn ich[308] mich begnüge, ein festes, blaues Gewölbe zu sehen, richtiger, als wenn ich mich anstrenge, über dieses Gewölbe hinauszublicken.‹

Ljewin hörte nun auf zu denken und lauschte gleichsam nur auf die geheimnisvollen Stimmen in seinem Innern, die in freudiger Erregung miteinander Zwiesprache hielten.

›Ist das wirklich Glaube?‹ dachte er und fürchtete sich, an sein Glück zu glauben. »Mein Gott, ich danke dir!« murmelte er, indem er das aufsteigende Schluchzen unterdrückte und mit beiden Händen die Tränen wegwischte, mit denen sich seine Augen gefüllt hatten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 306-309.
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