19

[84] Als Darja Alexandrowna allein geblieben war, musterte sie mit dem Kennerblick der Hausfrau ihr Zimmer. Alles, was sie beim Vorfahren am Haus und im Hause selbst gesehen hatte und jetzt in ihrem Zimmer sah, machte ihr den Eindruck jenes modernen europäischen Prunkes und Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen, den sie aber noch nie in Rußland und nun gar auf dem Lande gesehen hatte. Alles war hier modern, von den modernen französischen Tapeten bis zum Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte. Das Bett enthielt eine Sprungfedermatratze und ein besonderes Keilkissen; die kleinen Kopfkissen waren mit schwerseidenen Bezügen versehen. Der marmorne Waschtisch, der Frisiertisch, das Ruhebett, die Tischchen, die Bronze-Uhr auf dem Kamin, die Gardinen und Türvorhänge, alles war modern und kostbar.

Die kokette Zofe, die hereinkam, um ihre Dienste anzubieten, trug sich in Frisur und Kleidung moderner als Dolly und sah überhaupt ebenso modern und vornehm aus wie das ganze Zimmer. Darja Alexandrowna fühlte sich angenehm berührt von ihrer Höflichkeit, Sauberkeit und Dienstfertigkeit, hatte aber dabei doch eine unbehagliche Empfindung; sie schämte sich vor ihr wegen ihrer geflickten Nachtjacke, die sie unglücklicherweise gerade diesmal aus Versehen eingepackt hatte. Sie schämte sich wegen eben jener Flicken und gestopften Stellen, auf die sie zu Hause so stolz gewesen war. Zu Hause hatte sie sich gesagt, daß zu einem halben Dutzend Nachtjacken vierundzwanzig Ellen Nansok, die Elle zu fünfundsechzig Kopeken, erforderlich seien, und daß das mehr als fünfzehn Rubel austrage, ohne die Verzierung und ohne Macherlohn; diese fünfzehn Rubel hatte sie gespart. Aber dieser Kammerzofe gegenüber hatte sie, wenn sie sich auch nicht eigentlich richtig vor ihr schämte, doch ein unbehagliches Gefühl.[84]

Darja Alexandrowna empfand eine große Erleichterung, als ihre alte Bekannte Annuschka ins Zimmer trat. Die kokette Zofe wurde zu ihrer gnädigen Frau gerufen, und Annuschka blieb bei Darja Alexandrowna.

Sie war über Darja Alexandrownas Ankunft offenbar sehr erfreut und plauderte unermüdlich. Dolly merkte, daß sie die größte Lust hatte, ihre Ansicht über die Stellung ihrer Herrin auszusprechen und namentlich auch über Wronskis Liebe und Ergebenheit zu ihr; aber Dolly unterbrach sie absichtlich jedesmal, sobald sie davon zu reden anfing.

»Ich bin mit Anna Arkadjewna zusammen aufgewachsen; ich liebe und verehre sie über alles. Na, uns steht es ja nicht zu, darüber zu richten. Und dann liebt er sie auch, glaube ich, so sehr ...«

»Also, bitte, gib das zum Waschen, wenn es möglich ist«, unterbrach sie Darja Alexandrowna.

»Wie Sie befehlen. Bei uns sind für die kleine Wäsche zwei besondere Frauen angestellt, und alle Wäsche wird mit der Maschine gewaschen. Der Graf kümmert sich um alles persönlich. Nein, was das für ein Gatte ist ...«

Dolly war froh, als Anna zu ihr hereinkam und durch ihr Kommen dem Geschwätz Annuschkas ein Ende machte.

Anna hatte sich umgekleidet und trug jetzt ein ganz einfaches Batistkleid. Dolly betrachtete dieses einfache Kleid aufmerksam. Sie wußte, was es mit dieser Einfachheit auf sich hatte und wieviel Geld sie kostete.

»Eine alte Bekannte«, sagte Anna, auf Annuschka weisend.

Anna war jetzt nicht mehr befangen, sondern benahm sich völlig ungezwungen und ruhig. Dolly sah, daß sie sich bereits vollständig von der Erregung erholt hatte, in die sie durch ihre Ankunft versetzt worden war; sie hatte jenen oberflächlichen, gleichgültigen Ton angenommen, bei dem gleichsam die Tür zu der Abteilung, wo sich ihre innersten Gefühle und Gedanken befanden, verschlossen blieb.

»Nun, und was macht dein Töchterchen, Anna?« fragte Dolly.

»Anny?« (so nannte sie ihre Tochter). »Sie ist gesund. Sie hat sich sehr herausgemacht. Möchtest du sie sehen? Komm, ich will sie dir zeigen. Ich habe eine schreckliche Not mit den Wärterinnen gehabt«, erzählte sie. »Wir hatten eine italienische Amme genommen. Sie war ja ganz gut, aber dumm, dumm! Wir wollten sie entlassen; aber das Kind hatte sich so an sie gewöhnt, daß wir sie immer noch bei uns haben.«

»Aber wie habt ihr es denn eingerichtet? ...« begann Dolly und wollte fortfahren: ›Welchen Familiennamen wird das kleine[85] Mädchen führen?‹ Aber da bemerkte sie, daß Annas Gesicht sich auf einmal verfinsterte, und so gab sie denn ihrer Frage schnell eine andere Fortsetzung. »Wie habt ihr es denn eingerichtet? Habt ihr sie schon entwöhnt?«

Aber Anna hatte sie verstanden.

»Du wolltest doch nach etwas anderem fragen? Du wolltest nach ihrem Namen fragen, nicht wahr? Das ist ein Schmerz für Alexei. Sie hat keinen Namen. Das heißt, sie ist eine Karenina«, sagte Anna und kniff die Augen so zu, daß nur die sich zusammenschließenden Wimpern zu sehen waren. »Aber« (ihr Gesicht wurde auf einmal wieder hell) »darüber wollen wir später reden. Komm, ich will sie dir zeigen. Elle est très gentille.1 Sie kriecht schon.«

Der Luxus, den Darja Alexandrowna schon im ganzen Hause angestaunt hatte, überraschte sie im Kinderzimmer noch mehr. Da waren Wägelchen, die Wronski aus England hatte kommen lassen, und Geräte zum Gehenlernen, und ein eigens zum Kriechen eingerichtetes Polster, wie ein Billard aussehend, und Wiegen, und eigentümliche moderne Badewannen. All das war englisches Erzeugnis, zuverlässig und dauerhaft und augenscheinlich sehr kostspielig. Das Zimmer war groß, sehr hoch und hell.

Als sie eintraten, saß die Kleine im bloßen Hemdkleidchen auf einem Sesselchen am Tische und nahm ihr aus einer Suppe bestehendes Mittagsmahl ein, womit sie sich ihre ganze kleine Brust begossen hatte. Ein russisches Mädchen, das für die Kinderstube angestellt war, fütterte die Kleine und aß offenbar selbst mit ihr zusammen. Weder die italienische Amme noch die englische Wärterin waren anwesend; sie befanden sich im anstoßenden Zimmer, und daher hörte man ihr Gespräch, das in einem seltsamen Französisch geführt wurde, die einzige Art, wie sie sich miteinander verständigen konnten.

Als sie Annas Stimme hörte, trat die Engländerin, eine vornehm gekleidete große Person mit einem unangenehmen Gesicht und wenig vertrauenerweckendem Ausdruck, hastig ihre blonden Locken zurückschüttelnd, in die Tür und begann sich sogleich zu entschuldigen, obwohl ihr Anna gar keinen Vorwurf gemacht hatte. Auf jede Bemerkung Annas antwortete sie eilig ein paarmal hintereinander: »Yes, Mylady.«

Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Augenbrauen und dem dunklen Haar, seiner gesunden Gesichtsfarbe und seinem kräftigen Körperchen mit der rosigen Haut gefiel Darja Alexandrowna sehr, trotz der finsteren Miene, mit der es das ihm neue Gesicht betrachtete; das gesunde Aussehen des Kindes erregte[86] sogar ihren Neid. Auch die Art, wie es kroch, fand Darja Alexandrownas Beifall. Keines ihrer Kinder war so gekrochen. Diese Kleine bot, als sie auf den Teppich gesetzt und ihr hinten das Kleidchen aufgeschürzt war, einen allerliebsten Anblick. Mit ihren glänzenden, schwarzen Augen blickte sie wie ein kleines Tierchen die Erwachsenen an, lächelte und war offenbar über die ihr zuteil werdende Bewunderung erfreut; dann hielt sie die Beine seitwärts, stemmte sich energisch auf die Arme, zog ihren ganzen Hinterkörper flink heran und griff hierauf wieder mit den Ärmchen nach vorn aus.

Aber der allgemeine Ton in der Kinderstube und namentlich die Engländerin erregten Darja Alexandrownas starkes Mißfallen. Nur daraus, daß in eine so gesetzwidrige Familie wie die Annas eine wirklich gute englische Wärterin wohl nicht eingetreten wäre, vermochte Darja Alexandrowna es sich zu erklären, daß Anna bei ihrer Menschenkenntnis eine so unsympathische, wenig ansehnliche Engländerin für ihr Töchterchen hatte nehmen können. Außerdem merkte Darja Alexandrowna sogleich nach ein paar Worten, daß Anna, die Amme, die Wärterin und das Kind keine rechte Fühlung miteinander hatten und daß der Besuch der Mutter hier etwas Ungewöhnliches war. Anna wollte der Kleinen ein bestimmtes Spielzeug reichen, konnte es aber nicht finden.

Das Erstaunlichste aber war, daß Anna bei der Frage, wieviel Zähne die Kleine schon habe, sich irrte und von den beiden letzten Zähnen gar nichts wußte.

»Es ist mir manchmal recht schmerzlich, daß ich hier sozusagen überflüssig bin«, sagte sie, als sie mit Dolly aus dem Kinderzimmer wieder hinausging und ihre Schleppe in die Höhe hob, um an den Spielsachen, die bei der Tür lagen, vorbeizukommen. »Bei dem ersten Kinde war das anders.«

»Ich dachte, im Gegenteil«, erwiderte Darja Alexandrowna schüchtern.

»O nein! Du weißt wohl, ich habe ihn wiedergesehen, meinen Sergei«, sagte Anna und kniff die Augen zu, als ob sie nach etwas weit Entferntem blickte. »Indessen, davon reden wir später noch. Du glaubst gar nicht, es geht mir wie einem Hungernden, dem auf einmal ein reiches Mahl vorgesetzt wird und der nun nicht weiß, wonach er zuerst greifen soll. Das reiche Mahl, das bist du und die Gespräche, die ich mit dir zu führen gedenke und die ich bisher mit niemand führen konnte; und da weiß ich gar nicht, welches Gespräch ich zuerst in Angriff nehmen soll. Mais je ne vous ferai grâce de rien.2 Ich habe ein Bedürfnis, alles auszusprechen. Ja, ich muß dir doch zunächst[87] eine Skizze der Gesellschaft entwerfen, die du bei uns vorfindest«, begann sie. »Ich fange mit den Damen an. Da ist die Prinzessin Warwara. Du kennst sie, und ich weiß, wie ihr beide, du und Stiwa, über sie denkt. Stiwa sagt immer, Warwaras ganzer Lebenszweck bestehe darin, nachzuweisen, daß sie besser sei als Tante Katerina Pawlowna; das ist ganz richtig; aber sie hat ein gutes Herz, und ich bin ihr sehr dankbar. In Petersburg gab es eine Zeit, wo ich notwendig eine Dame der Gesellschaft zur Freundin haben mußte. Da war sie zur Stelle. Aber sie hat wirklich ein gutes Herz und hat mir meine Stellung wesentlich erleichtert. Ich sehe, daß du die ganze Schwierigkeit meiner Stellung nicht überblickst ... ich meine, dort, in Petersburg«, fügte sie hinzu. »Hier bin ich vollständig ruhig und glücklich. Nun, aber davon später. Ich muß dir doch unsere Gäste weiter aufzählen. Dann kommt Swijaschski; er ist Adelsmarschall und ein sehr verständiger Mensch; aber er hat Alexei nötig. Du verstehst, bei seinem Vermögen kann Alexei jetzt, wo wir auf dem Lande wohnen, einen großen Einfluß ausüben. Ferner Tuschkewitsch; du hast ihn schon gesehen, er verkehrte viel bei Betsy. Jetzt hat man ihn dort abgeschoben, und er ist nun zu uns gekommen. Er ist, wie Alexei zu sagen pflegt, einer von den Menschen, die sehr angenehm sind, wenn man sie für das nimmt, was sie scheinen möchten; et puis, ›il est comme il faut‹3, wie die Prinzessin Warwara sagt. Dann Weslowski ... den kennst du. Ein sehr netter junger Mensch«, sagte sie, und ein schelmisches Lächeln spielte dabei um ihre Lippen. »Was ist denn das für eine tolle Geschichte, die er mit Ljewin gehabt hat? Weslowski hat Alexei davon erzählt; aber wir glauben es nicht recht. Il est très gentil et naïf4«, sagte sie wieder mit demselben Lächeln. »Die Männer müssen Unterhaltung haben, und Alexei braucht ein Publikum; darum ist mir diese ganze Gesellschaft wertvoll. Es muß bei uns lebhaft und heiter zugehen, und Alexei darf nicht dazu kommen, nach etwas Neuem zu verlangen. Ferner wirst du den Verwalter zu sehen bekommen. Er ist ein Deutscher, ein sehr braver Mensch, und versteht seine Sache. Alexei schätzt ihn sehr. Dann der Arzt, ein junger Mensch, nicht eigentlich vollständiger Nihilist, aber, weißt du, er ißt mit dem Messer ... jedoch ein sehr tüchtiger Arzt. Dann der Baumeister ... Une petite cour.5«

Fußnoten

1 (frz.) Sie ist ganz allerliebst.


2 (frz.) Aber ich werde dir nichts ersparen.


3 (frz.) und außerdem benimmt er sich so, wie es sich gehört.


4 (frz.) Er ist sehr liebenswürdig und naiv.


5 (frz.) Ein kleiner Hof.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 84-88.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon