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[202] Er wußte nicht, ob es spät oder früh sei. Die Lichter waren schon tief herabgebrannt. Dolly war eben im Arbeitszimmer gewesen und hatte den Arzt gebeten, sich doch auf dem Sofa zur Ruhe zu legen. Ljewin saß bei ihm, hörte seine Erzählungen von einem marktschreierischen Magnetiseur an und blickte unverwandt nach der Asche an der Zigarre des Arztes. Es war wieder einmal eine Zeit der Erholung für ihn, und er hatte all das Schreckliche vergessen. Er dachte mit keinem Gedanken an das, was jetzt vorging. Er hörte die Erzählung des Arztes und verstand sie. Plötzlich ertönte ein Schreien, wie er es noch nie gehört hatte. Dieses Schreien war so furchtbar, daß Ljewin nicht einmal aufsprang, sondern nur, ohne Atem zu holen, mit einem erschrocken fragenden Blick den Arzt ansah. Der Arzt hatte den Kopf zur Seite geneigt, horchte und lächelte befriedigt. Alles[202] war diese ganze Zeit her so ungewöhnlich gewesen, daß Ljewin jetzt durch nichts mehr in Erstaunen versetzt wurde. ›Es wird wohl so sein müssen‹, dachte er und blieb sitzen. Aber dann kam ihm der Gedanke: ›Wer hat so geschrien?‹ Er sprang auf, lief auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer, ging um Jelisaweta Petrowna und die Fürstin herum und stellte sich auf seinen Platz am Kopfende. Das Schreien war verstummt; aber irgend etwas hatte sich verändert. Was sich verändert hatte, das sah und verstand er nicht, und er wollte es auch nicht sehen und verstehen. Aber er merkte es an Jelisaweta Petrownas Gesicht: dieses Gesicht war ernst und blaß, und obwohl es ebenso fest und entschlossen aussah wie vorher, so zuckte doch die Kinnlade ein wenig und die Augen waren unverwandt auf Kitty gerichtet. Kittys glühendes, abgequältes Gesicht, auf dessen schweißfeuchter Haut eine Haarsträhne festklebte, war zu ihm gewendet und suchte seinen Blick. Die aufgehobenen Hände verlangten nach den seinigen. Mit ihren von Schweiß glühenden Händen ergriff sie seine kalten Hände und drückte sie an ihr Gesicht.

»Geh nicht weg, geh nicht weg! Ich fürchte mich nicht, ich fürchte mich nicht!« sagte sie hastig. »Mama, nehmen Sie mir die Ohrringe ab; sie belästigen mich. Du fürchtest dich doch nicht? Schnell, schnell, Jelisaweta Petrowna ...«

Sie sprach hastig, ganz hastig und versuchte zu lächeln. Aber auf einmal verzerrte sich ihr Gesicht, und sie stieß ihn von sich zurück.

»Nein, das ist entsetzlich! Ich sterbe, ich sterbe! Geh, geh!« schrie sie, und wieder ertönte dasselbe unnatürliche, grauenhafte Schreien.

Ljewin faßte sich an den Kopf und lief aus dem Zimmer hinaus.

»Es ist nichts Schlimmes, es ist nichts Schlimmes, es geht alles gut!« rief ihm Dolly nach.

Aber da mochte jemand sagen, was er wollte, Ljewin wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen den Türpfosten gelehnt, stand er im Nebenzimmer und hörte jemand in einer Weise kreischen und heulen, wie es seinen Ohren ganz fremd war, und er wußte, was da so schrie, das war ehemals seine Kitty gewesen. Nach dem Kinde trug er schon längst kein Verlangen mehr. Er haßte jetzt dieses Kind sogar. Sein Wunsch ging jetzt nicht einmal darauf, daß sie am Leben bleiben, sondern nur darauf, daß diese furchtbaren Leiden aufhören möchten.

»Doktor, was ist denn das? Was ist denn das? Mein Gott!« rief er und ergriff den hereinkommenden Arzt bei der Hand.[203]

»Es geht zu Ende«, antwortete der Arzt. Sein Gesicht war, als er das sagte, so ernst, daß Ljewin dieses »es geht zu Ende« in dem Sinne von »sie stirbt« auffaßte.

Seiner Sinne nicht mächtig, lief er in das Schlafzimmer. Das erste, was er sah, war Jelisaweta Petrownas Gesicht. Es sah noch finsterer und strenger aus. Kittys Gesicht war nicht da. An der Stelle, wo dieses Gesicht früher gewesen war, befand sich etwas Furchtbares, furchtbar wegen der krampfhaften Verzerrung wie auch wegen der Laute, die von dort herkamen. Er warf sich mit dem Kopfe gegen das Holz der Bettstelle und meinte, das Herz müßte ihm vor Weh zerspringen. Das schreckliche Schreien schwieg keinen Augenblick, es wurde noch immer schrecklicher; dann, als hätte es die äußerste Grenze des Schrecklichen erreicht, verstummte es plötzlich. Ljewin traute seinen Ohren nicht; aber es war kein Zweifel: das Schreien war verstummt, und er hörte eine leise Geschäftigkeit, ein Rascheln, schnelle Atemzüge, und Kittys lebendige, zärtliche, glückliche Stimme sagte leise und fast versagend: »Es ist zu Ende.«

Er hob den Kopf. Sie hatte die Arme kraftlos auf die Bettdecke sinken lassen und lag in überraschender Schönheit still da; schweigend blickte sie ihn an; sie wollte lächeln, aber sie konnte es nicht.

Und plötzlich fühlte Ljewin sich aus jener geheimnisvollen, schrecklichen, fremden Welt, in der er diese zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, bekannte Welt zurückversetzt, die aber jetzt in einem neuen, so hellen Glanze des Glückes erstrahlte, daß er es nicht ertragen konnte. Die so lange straff angespannten Saiten rissen sämtlich. Ein Schluchzen und Freudentränen, auf die er gar nicht gefaßt gewesen war, überkamen ihn, seinen ganzen Körper erschütternd, mit solcher Gewalt, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen hinderten.

Er fiel vor dem Bett auf die Knie, hielt die Hand seiner Frau an seine Lippen und küßte sie wieder und wieder, und diese Hand antwortete durch eine schwache Bewegung der Finger auf seine Küsse. Unterdessen aber flackerte am Fußende des Bettes in Jelisaweta Petrownas geschickten Händen wie das Flämmchen über einem Nachtlämpchen, noch unsicher, das Leben eines menschlichen Wesens, das vorher noch nicht da war und das ebenso wie alle anderen, mit demselben Rechte und demselben persönlichen Interesse, zu leben und seinesgleichen zu zeugen bestimmt war.

»Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Knabe! Seien Sie ganz unbesorgt!« hörte Ljewin die Hebamme sagen, die mit zitternder Hand dem Kinde einen klatschenden Schlag auf den Rücken gab.[204]

»Mama, ist es wahr?« fragte Kitty.

Nur ein Schluchzen der Fürstin gab ihr Antwort.

Und mitten in dem Schweigen ertönte als eine jeden Zweifel ausschließende Antwort auf die Frage der jungen Mutter eine ganz andere Stimme als alle die gedämpft sprechenden im Zimmer. Es war der kecke, dreiste, rücksichtslose Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das sich, ohne daß man gewußt hätte woher, eingefunden hatte.

Wenn jemand ein Weilchen vorher zu Ljewin gesagt hätte, Kitty sei gestorben und er selbst auch, und sie hätten Kinder, die Engel seien, und Gott stehe unmittelbar vor ihren Augen da, so hätte er sich über nichts dabei gewundert; aber jetzt, wo er in die Welt der Wirklichkeit zurückgekehrt war, bedurfte es für ihn einer großen Anstrengung der Denkkraft, um zu begreifen, daß sie lebte und gesund war und daß dieses so verzweifelt schreiende Wesen sein Sohn war. Kitty lebte, ihre Qualen hatten ein Ende gefunden. Und er war unbeschreiblich glücklich. Daß Kitty gerettet war, das verstand er, und das machte ihn vollkommen glücklich. Aber das Kind? Woher war das gekommen? Wozu war es da? Wer war es? ... In diesen Gedanken konnte er sich durchaus nicht hineinfinden. Das Kind erschien ihm als etwas Überflüssiges, Unnötiges, und er vermochte sich lange nicht an diesen Zuwachs zu gewöhnen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 202-205.
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