5

[166] Das Wartezimmer des berühmten Petersburger Rechtsanwaltes war gefüllt, als Alexei Alexandrowitsch es betrat. Drei Klientinnen, eine alte Dame, eine junge Dame und eine Kaufmannsfrau mittleren Alters sowie drei Klienten, ein deutscher Bankier mit einem Siegelring am Finger, ein bärtiger Kaufmann und ein Beamter mit grimmiger Miene, in Uniform, mit einem Orden am Halse, warteten offenbar schon lange. Zwei Schreiber des Rechtsanwaltes saßen, mit Schreiben beschäftigt, an Tischen; man hörte das Geräusch ihrer Federn auf dem Papier. Die Schreibgeräte waren außerordentlich schön; Alexei Alexandrowitsch, dessen besondere Liebhaberei dies war, konnte nicht umhin, es zu bemerken. Einer der Schreiber wandte sich, ohne aufzustehen, mit zusammengekniffenen Augen ärgerlich zu Alexei Alexandrowitsch.

»Was ist Ihnen gefällig?«

»Ich habe geschäftlich mit dem Herrn Rechtsanwalt zu sprechen.«

»Der Herr Rechtsanwalt ist sehr in Anspruch genommen«, antwortete der Schreiber in strengem Tone, indem er mit der Feder auf die Wartenden wies, und schrieb dann weiter.

»Hat er nicht vielleicht dazwischen einen Augen blick für mich Zeit?« fragte Alexei Alexandrowitsch.

»Er hat keinen freien Augenblick; er ist immer beschäftigt. Bitte zu warten!«

»Möchten Sie dann nicht so freundlich sein, ihm meine Karte zu überreichen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, da er die Notwendigkeit einsah, sein Inkognito aufzugeben.

Der Schreiber nahm die Karte hin, machte ein Gesicht, als ob ihn deren Inhalt sehr wenig befriedigte, und ging zu dem Rechtsanwalt hinein.

Alexei Alexandrowitsch billigte grundsätzlich das öffentliche Gerichtsverfahren; nur gewisse Einzelheiten in seiner praktischen Anwendung bei uns in Rußland hatten, mit Rücksicht auf höhere, ihm wohlbekannte dienstliche Verhältnisse, nicht seinen vollen Beifall, und er mißbilligte diese Einzelheiten, soweit er imstande war, etwas, was die allerhöchste Bestätigung[166] gefunden hatte, zu mißbilligen. Sein ganzes Leben lang war er auf dem Verwaltungsgebiete tätig gewesen; so oft es daher vorkam, daß er etwas mißbilligte, wurde sein Mißvergnügen gemildert durch die Erwägung, daß Fehler bei allen Dingen unvermeidlich seien, immer aber die Möglichkeit einer Verbesserung vorliege. An der neuen Gerichtsordnung mißbilligte er die Stellung, die dem Anwaltsstande zugewiesen war. Aber bisher hatte er mit Rechtsanwälten noch nichts zu schaffen gehabt, und daher war seine Mißbilligung nur theoretisch gewesen; jetzt jedoch wurde diese Mißbilligung noch verstärkt durch den unangenehmen Eindruck, den er in dem Wartezimmer des Rechtsanwaltes empfangen hatte.

»Der Herr Rechtsanwalt wird sogleich herauskommen«, meldete der Schreiber, und wirklich erschien nach zwei Minuten in der Tür die lange Gestalt eines bejahrten juristischen Kollegen, der mit dem Rechtsanwalt verhandelt hatte, und die Gestalt des Rechtsanwaltes selbst.

Der Rechtsanwalt war ein kleiner, stämmiger, kahlköpfiger Mann mit dunklem, rötlich schimmerndem Barte, hellen, langhaarigen Brauen und vorstehender Stirn. Geputzt war er, wie wenn er auf die Freite ging, von der Krawatte und der doppelten Uhrkette bis zu den Lackstiefeln. Sein Gesicht trug einen Ausdruck von Klugheit und plebejischer Verschmitztheit; aber der Anzug war geckenhaft und zeugte von schlechtem Geschmack.

»Bitte, näher zu treten«, sagte der Rechtsanwalt, zu Alexei Alexandrowitsch gewendet. Mit finsterer Miene ließ er ihn an sich vorbeigehen und machte dann die Tür zu. »Wenn es gefällig ist?« Er wies auf einen Lehnsessel neben dem mit Papieren bedeckten Schreibtische, nahm selbst auf einer Art von Präsidentensitz Platz, rieb sich die kleinen Hände, deren kurze Finger mit weißen Haaren bewachsen waren, und neigte den Kopf auf die Seite. Aber kaum war er in dieser Haltung zur Ruhe gekommen, als über dem Tische eine Motte vorbeiflog. Mit einer Geschwindigkeit, die man gar nicht von ihm hätte erwarten können, machte der Rechtsanwalt die Arme auseinander, fing die Motte und nahm wieder seine frühere Haltung ein.

»Bevor ich anfange, meine Angelegenheit darzulegen«, begann Alexei Alexandrowitsch, der erstaunt die Bewegungen des Rechtsanwaltes mit den Augen verfolgt hatte, »muß ich bemerken, daß die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen möchte, Geheimnis bleiben muß.«

Ein kaum merkbares Lächeln ließ den rötlichen, herabhängenden Schnurrbart des Rechtsanwaltes ein wenig auseinandergehen.[167]

»Ich wäre kein Rechtsanwalt, wenn ich nicht imstande wäre, die mir anvertrauten Geheimnisse zu bewahren. Aber wenn Sie die ausdrückliche Versicherung wünschen ...«

Alexei Alexandrowitsch blickte ihm ins Gesicht und sah, daß die klugen grauen Augen lachten; sie machten den Eindruck, als hätten sie schon alles durchschaut.

»Sie kennen meinen Namen?« fuhr Alexei Alexandrowitsch fort.

»Ich kenne Sie und Ihre verdienstvolle (wieder fing er eine Motte) Tätigkeit wie jeder Russe«, versetzte der Rechtsanwalt mit einer Verbeugung.

Aufseufzend nahm Alexei Alexandrowitsch seinen Mut zusammen. Aber da er sich nun einmal dazu entschlossen hatte, fuhr er mit seiner dünnen, schrillen Stimme fort, ohne Verlegenheit, ohne zu stocken, mit besonderer Betonung einzelner Worte.

»Ich habe das Unglück«, begann er, »ein betrogener Ehemann zu sein, und wünsche die Beziehungen zu meiner Frau in gesetzlicher Form zu lösen, das heißt, mich von ihr scheiden zu lassen, aber so, daß der Sohn nicht der Mutter verbleibt.«

Die grauen Augen des Rechtsanwaltes bemühten sich, nicht zu lachen; aber sie hüpften förmlich in unhemmbarer Freude, und Alexei Alexandrowitsch sah, daß dies nicht etwa nur die Freude darüber war, einen gewinnbringenden Auftrag zu erhalten; nein, das war ein Triumphieren, ein Frohlocken, ein Aufleuchten, ähnlich jenem häßlichen Aufleuchten, das er manchmal in den Augen seiner Frau gesehen hatte.

»Sie wünschen meine Mitwirkung zur Durchführung der Ehescheidung?«

»Ja, ganz richtig; nur muß ich vorher bemerken, daß ich Ihre Aufmerksamkeit vielleicht unnötigerweise in Anspruch nehme. Ich bin heute nur gekommen, um mir vorläufig Ihren Rat zu erbitten. Ich wünsche die Scheidung; aber für mich sind die Formen von Wichtigkeit, unter denen die Scheidung sich bewerkstelligen läßt. Es ist sehr wohl möglich, daß, wenn diese Formen meinen Wünschen nicht entsprechen sollten, ich von dem Rechtswege Abstand nehme.«

»Oh, das ist immer so«, erwiderte der Rechtsanwalt. »Das steht dann ganz in Ihrem Belieben.«

Der Rechtsanwalt richtete seine Blicke nach unten, auf Alexei Alexandrowitschs Füße, da er wohl die Empfindung hatte, daß der Anblick seiner unbezwingbaren Freude seinen Klienten verletzen könne. Er bemerkte eine Motte, die vor seiner Nase vorbeiflog, und zuckte schon mit der Hand; aber aus achtungsvoller Rücksicht auf Alexei Alexandrowitschs Lage fing er sie nicht.[168]

»Obgleich mir unsere gesetzlichen Bestimmungen über diesen Gegenstand in den Hauptzügen bekannt sind«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, »so würde ich doch wünschen, die Formen genauer kennenzulernen, in denen derartige Angelegenheiten in der Praxis erledigt werden.«

»Sie wünschen also«, antwortete, ohne die Augen zu erheben, der Rechtsanwalt, dem es Vergnügen machte, auf den Ton seines Klienten einzugehen, »daß ich Ihnen die Wege darlege, auf denen die Erfüllung Ihres Wunsches möglich ist?«

Und auf Alexei Alexandrowitschs bejahendes Kopfnicken fuhr er fort, indem er nur ab und zu einen flüchtigen Blick auf dessen Gesicht richtete, das sich mit roten Flecken bedeckt hatte.

»Nach unseren Gesetzen«, begann er, und in seinem Tone lag eine leise Andeutung, daß er diese unsere Gesetze nicht billige, »ist eine Ehescheidung, wie Ihnen bekannt sein wird, in folgenden Fällen möglich ... Warten!« rief er dem Schreiber zu, der den Kopf durch die Tür hereinsteckte, stand aber trotzdem auf, sagte ein paar Worte zu ihm und setzte sich dann wieder hin. »In folgenden Fällen: körperliche Mängel der Ehegatten, ferner fünfjährige Abwesenheit ohne Benachrichtigung«, sagte er und bog einen seiner kurzen, mit Haaren bewachsenen Finger ein, »ferner Ehebruch« (dieses Wort sprach er mit sichtlichem Vergnügen aus). »Die Unterabteilungen sind folgende (er fuhr fort, seine dicken Finger einzubiegen, obgleich die Fälle offenbar nicht mit ihren Unterabteilungen wie Bestandteile derselben Klasse zusammengezählt werden konnten): körperliche Mängel des Mannes oder körperliche Mängel der Frau, ferner Ehebruch des Mannes oder Ehebruch der Frau.« Da er nun alle Finger verbraucht hatte, so bog er sie alle wieder gerade und fuhr fort: »Das ist die theoretische Anschauung; aber ich nehme an, daß Sie mir die Ehre, sich an mich zu wenden, deswegen erwiesen haben, um die praktische Anwendung kennenzulernen. Und daher muß ich Ihnen auf Grund meiner Kenntnis früherer Prozesse mitteilen, daß alle Fälle von Ehescheidungen auf folgende Vorbedingungen zurückzuführen sind: – körperliche Mängel kommen ja doch, soweit ich verstanden habe, nicht in Frage? Und ebensowenig Abwesenheit ohne Benachrichtigung?«

Alexei Alexandrowitsch neigte bestätigend den Kopf.

»... auf folgende Vorbedingungen zurückzuführen sind: Ehebruch eines der Gatten und Überführung des schuldigen Teiles auf Grund beiderseitiger Übereinkunft und zweitens in Ermangelung einer solchen Übereinkunft die zwangsweise Überführung. Ich muß dazu bemerken, daß dieser Fall in der Praxis nur selten vorkommt«, sagte der Rechtsanwalt, warf einen flüchtigen[169] Blick auf Alexei Alexandrowitsch und schwieg dann, wie ein Pistolenhändler, der die Vorzüge der einen und der anderen Waffe auseinandergesetzt hat und nun abwartet, welche der Käufer wählen wird. Aber Alexei Alexandrowitsch schwieg, und daher fuhr der Rechtsanwalt fort: »Das Gewöhnlichste, Einfachste und Vernünftigste ist nach meinem Urteile Ehebruch auf Grund beiderseitiger Übereinkunft. Ich würde mir nicht erlauben, mich in dieser Weise auszudrücken, wenn ich mit einem Mann von geringer geistiger Entwickelung spräche; aber ich nehme an, daß Ihnen das Gesagte verständlich ist.«

Alexei Alexandrowitsch war jedoch derart verstört, daß er die Vernünftigkeit des Ehebruchs auf Grund beiderseitiger Übereinkunft nicht sogleich zu verstehen vermochte, und diese Verständnislosigkeit gab sich in seinem Blicke zu erkennen; aber der Rechtsanwalt kam ihm sofort zu Hilfe:

»Die betreffenden Ehegatten können nicht mehr miteinander leben; das ist die zugrunde liegende Tatsache. Und wenn über diese Tatsache beide einverstanden sind, werden die Einzelheiten und Formfragen gleichgültig. Zugleich ist dies das einfachste und zuverlässigste Mittel.«

Alexei Alexandrowitsch hatte die Sache jetzt völlig verstanden. Aber er hatte gewisse religiöse Bedenken, die ihm die Anwendung dieses Mittels unmöglich machten.

»Das kommt im vorliegenden Falle nicht in Frage«, erwiderte er. »Hier ist nur eine Möglichkeit: die zwangsweise Überführung mit Hilfe der in meinen Händen befindlichen Briefe.«

Bei der Erwähnung der Briefe preßte der Rechtsanwalt die Lippen zusammen und ließ einen dünnen, hohen Ton vernehmen, der Mitleid und Geringschätzung ausdrückte.

»Ziehen Sie, bitte, folgendes in Erwägung«, begann er. »Derartige Prozesse werden, wie Ihnen bekannt sein wird, von der geistlichen Behörde entschieden; die verehrlichen Protopopen legen aber in solchen Dingen mit einer besonderen Liebhaberei Wert auf die kleinlichsten Einzelheiten.« Er sagte das mit einem Lächeln, das zeigte, daß er diesen Geschmack der Protopopen teilte. »Briefe können ja ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade als Bestätigung dienen; aber die Beweise müssen auf geradem Wege erbracht werden, das heißt durch Zeugen. Überhaupt aber, wenn Sie mir die Ehre erweisen, mich Ihres Vertrauens zu würdigen, so überlassen Sie, bitte, es mir, die anzuwendenden Mittel auszuwählen. Wer den Erfolg will, muß sich auch die Mittel gefallen lassen.«

»Wenn es so ist ...«, begann Alexei Alexandrowitsch, der plötzlich ganz blaß geworden war; aber in diesem Augenblicke[170] stand der Rechtsanwalt auf und ging wieder nach der Tür zu dem Schreiber hin, der von neuem das Gespräch unterbrochen hatte.

»Sagen Sie ihr, daß wir hier keine billige Schundware führen!« sagte er und kehrte wieder zu Alexei Alexandrowitsch zurück.

Während er sich wieder auf seinen Platz begab, fing er unvermerkt noch eine Motte. ›Mein Rips wird im Sommer gut aussehen!‹ dachte er stirnrunzelnd.

»Also Sie beliebten zu sagen ...«, wandte er sich fragend an seinen Klienten.

»Ich werde Ihnen meinen Entschluß brieflich mitteilen«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, stand auf und faßte nach dem Tische. Nachdem er eine kleine Weile schweigend dagestanden hatte, sagte er: »Aus Ihren Worten kann ich somit schließen, daß es möglich ist, die Scheidung durchzusetzen. Ich möchte Sie bitten, mir auch noch mitzuteilen, welches Ihre Bedingungen sind.«

»Es ist durchaus möglich, wenn Sie mir volle Handlungsfreiheit lassen«, erwiderte der Rechtsanwalt, ohne auf die Frage zu antworten. »Wann kann ich darauf rechnen, von Ihnen Nachricht zu erhalten?« fragte er, indem er mit zur Tür kam; seine Augen glänzten nicht minder als seine Lackstiefel.

»In einer Woche. Und Sie werden dann die Güte haben, mir Ihre Antwort zukommen zu lassen, ob Sie meine Vertretung in dieser Angelegenheit übernehmen wollen und unter welchen Bedingungen.«

»Sehr wohl.«

Der Rechtsanwalt verbeugte sich achtungsvoll, ließ seinen Klienten aus der Tür und überließ sich dann, als er allein geblieben war, seiner freudigen Stimmung. Er war so vergnügt, daß er ganz gegen seine sonstigen Grundsätze der Dame, die von der Gebühr etwas abhandeln wollte, wirklich etwas abließ und keine Motten mehr fing, da er fest beschloß, im nächsten Winter seine Möbel mit Samt beziehen zu lassen, so wie es bei seinem Kollegen Sigonin war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 166-171.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon