X

[459] Am 30. August kam Pierre wieder in Moskau an. Kaum hatte er den Schlagbaum passiert, als ihm ein Adjutant des Grafen Rastoptschin begegnete.

»Wir suchen Sie überall«, sagte der Adjutant. »Der Graf muß Sie notwendig sprechen. Er läßt Sie bitten, in einer sehr wichtigen Angelegenheit unverzüglich zu ihm zu kommen.«

Ohne erst nach seinem Haus heranzufahren, nahm sich Pierre eine Droschke und fuhr zum Oberkommandierenden von Moskau.

Graf Rastoptschin war erst diesen Morgen von seinem Landhaus in Sokolniki nach der Stadt gekommen. Sein Vorzimmer und sein Wartezimmer waren voll von Beamten, die teils von ihm hinbestellt waren, teils aus eigenem Antrieb gekommen waren, um Befehle einzuholen. Wasiltschikow und Platow hatten den Grafen bereits gesprochen und ihm erklärt, eine Verteidigung Moskaus sei ein Ding der Unmöglichkeit; die Stadt werde dem Feind überlassen werden. Diese Nachricht wurde allerdings der Hauptmasse der Einwohner vorenthalten; aber die höheren Beamten, die Chefs der verschiedenen Behörden, wußten ebensogut wie Graf Rastoptschin selbst, daß Moskau in die Hände des Feindes fallen werde; und so kamen sie denn, um die Verantwortung von sich abzuwälzen, alle zu ihm als dem Oberkommandierenden von Moskau mit der Anfrage, wie sie sich in den ihnen unterstellten Ressorts zu verhalten hätten.

In dem Augenblick, als Pierre das Wartezimmer betrat, kam[459] gerade ein Kurier, der von der Armee eingetroffen war, aus dem Arbeitszimmer des Grafen heraus.

Auf die Fragen, mit denen sich die Anwesenden an ihn wandten, machte der Kurier nur eine hoffnungslose Geste mit der Hand und ging durch das Zimmer hindurch.

Während Pierre in dem Wartezimmer wartete, betrachtete er rings um sich mit müden Augen die verschiedenen alten und jungen Militärs und Zivilbeamten, die sich im Zimmer befanden. Alle schienen unzufrieden und unruhig zu sein. Pierre trat an eine Gruppe von Beamten heran, von denen ihm einer bekannt war. Die Beamten fuhren, nachdem sie sich mit Pierre begrüßt hatten, in ihrem Gespräch fort.

»Wenn wir sie hinausschicken und dann wieder zurückkommen lassen, so ist ja dabei an sich kein Schade; aber in einer solchen Lage kann man für nichts die Verantwortung übernehmen«, bemerkte einer von ihnen.

»Aber sehen Sie nur, hier schreibt er doch ...«, begann ein anderer und zeigte auf ein gedrucktes Blatt, das er in der Hand hielt.

»Das ist etwas anderes. Für das Volk ist so etwas nötig«, erwiderte der erste.

»Was ist denn das?« fragte Pierre.

»Ein neues Flugblatt.«

Pierre nahm es in die Hand und las:

»Der durchlauchtige Fürst ist, um sich schneller mit denjenigen Truppen zu vereinigen, die demnächst zu ihm stoßen werden, durch Moschaisk hindurchgezogen und hat in einer festen Stellung haltgemacht, wo der Feind Mühe haben wird, ihn anzugreifen. Von hier aus sind achtundvierzig Geschütze nebst der zugehörigen Munition an ihn abgegangen, und der Durchlauchtige erklärt, er werde Moskau bis zum letzten Blutstropfen verteidigen und sei[460] bereit, nötigenfalls sogar in den Straßen der Stadt zu kämpfen. Macht euch darüber keine Gedanken, Brüder, daß die Behörden ihre Tätigkeit eingestellt haben: es war notwendig, sie wegzuschaffen; aber wir werden schon noch mit dem Bösewicht ins Gericht gehen! Wenn es so weit ist, brauche ich tüchtige Männer aus Stadt und Land. Ich werde zwei Tage vorher einen Aufruf erlassen; aber jetzt ist es noch nicht an der Zeit, daher schweige ich. Als Waffe ist ein Beil gut; auch ein Spieß ist nicht übel; am besten aber ist eine dreizinkige Heugabel, denn so ein Franzose ist nicht schwerer als eine Roggengarbe. Morgen nachmittag werde ich das Bild der Iberischen Muttergottes nach dem Katharinenhospital zu den Verwundeten bringen lassen. Da wollen wir das Wasser weihen; dann werden sie schneller gesund werden. Ich bin jetzt auch wieder gesund; ich hatte ein schlimmes Auge; aber jetzt kann ich wieder mit beiden sehen.«

»Aber ich habe doch von militärischer Seite gehört«, bemerkte Pierre, »daß ein Kampf in der Stadt unmöglich sei und daß die Position ...«

»Na ja, davon sprechen wir ja eben«, unterbrach ihn der erste Beamte.

»Und was bedeutet das hier: ›Ich hatte ein schlimmes Auge; aber jetzt kann ich wieder mit beiden sehen‹?« fragte Pierre.

»Der Graf hatte ein Gerstenkorn«, erwiderte der Adjutant lächelnd, »und er beunruhigte sich sehr darüber, als ich ihm sagte, es kämen viele Leute, um sich, zu erkundigen, wie es ihm gehe. Aber wie ist es denn mit Ihnen, Graf?« fragte der Adjutant Pierre unvermittelt und lächelte dabei. »Wir haben gehört, es hätte bei Ihnen häusliche Zwistigkeiten gegeben, und die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin ...«

»Ich weiß von nichts«, antwortete Pierre gleichmütig. »Was haben Sie denn gehört?«

»Na ja, wissen Sie, die Leute denken sich so etwas oft geradezu aus. Ich sage ja auch nur, daß ich es gehört habe.«

»Was haben Sie denn gehört?«[461]

»Nun, es heißt«, erwiderte der Adjutant, wieder mit demselben Lächeln, »die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin, habe vor, ins Ausland zu reisen. Wahrscheinlich ist das dummes Zeug ...«

»Kann sein«, antwortete Pierre, zerstreut um sich blickend. »Aber wer ist denn das da?« fragte er und wies auf einen kleinen, alten Mann in einem langen, sauberen, blauen Rock, mit schneeweißem Bart, ebensolchen Augenbrauen und frischer Gesichtsfarbe.

»Der? Das ist ein Kaufmann, das heißt ein Restaurateur, Wereschtschagin. Sie haben vielleicht die Geschichte von der Proklamation gehört.«

»Ah, also das ist dieser Wereschtschagin!« sagte Pierre, indem er das feste, ruhige Gesicht des alten Kaufmanns betrachtete und darin nach einem Zug suchte, der auf Hochverrat hindeuten könnte.

»Er selbst ist das nicht. Das ist der Vater dessen, der die Proklamation geschrieben hat«, erwiderte der Adjutant. »Jener selbst, der junge Mann, sitzt im Gefängnis, und es wird ihm voraussichtlich schlecht ergehen.«

Ein alter Herr mit einem Ordensstern und ein andrer, ein deutscher Beamter, mit einem Ordenskreuz am Hals, traten zu der in Unterhaltung begriffenen Gruppe heran.

»Sehen Sie«, sagte der Adjutant, »das ist eine verwickelte Geschichte. Es tauchte damals, so vor zwei Monaten, diese Proklamation auf. Dem Grafen wurde darüber Bericht erstattet. Er ordnete die Anstellung einer Untersuchung an. Gawriil Iwanowitsch hier hat die Untersuchung geführt; die Proklamation hatten genau dreiundsechzig Personen in Händen gehabt. Er[462] kommt also zu einem: ›Von wem haben Sie sie bekommen?‹ ›Von dem und dem.‹ Nun geht er zu diesem: ›Von wem haben Sie sie erhalten?‹ und so weiter. So kam man schließlich zu Wereschtschagin ... einem Kaufmannssöhnchen, das ein bißchen an den Wissenschaften herumgerochen hat; wissen Sie, so ein ›charmanter junger Mann‹«, sagte der Adjutant lächelnd. »Er wird also gefragt: ›Von wem hast du die Proklamation bekommen?‹ Und die Hauptsache war, wir wußten, von wem er sie bekommen hatte. Er konnte sie von keinem andern bekommen haben als vom Postdirektor. Aber zwischen den beiden bestand, wie sich zeigte, eine Verabredung. Er sagte: ›Von niemandem; ich habe sie selbst verfaßt.‹ Man bedrohte ihn, man redete ihm gütlich zu; er blieb dabei: ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Es wurde dies also dem Grafen gemeldet. Der Graf ließ ihn zu sich bringen. ›Von wem hast du die Proklamation erhalten?‹ ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Nun, Sie kennen ja den Grafen!« sagte der Adjutant mit einem stolzen, vergnügten Lächeln. »Er geriet in einen furchtbaren Zorn; aber denken Sie auch nur: eine solch freche, hartnäckige Verlogenheit!«

»Aha! Dem Grafen lag daran, daß der junge Wereschtschagin den Postdirektor Klutscharew angäbe; ich verstehe!« sagte Pierre.

»Das war durchaus nicht erforderlich«, erwiderte der Adjutant mit erschrockener Miene. »Klutscharew hatte schon ohnedies genug auf dem Kerbholz und ist darüber auch in die Verbannung geschickt worden. Aber die Sache war die: der Graf war über das Verhalten des jungen Mannes im höchsten Grade empört. ›Wie kannst du die Proklamation verfaßt haben?‹ sagte er zu ihm. Er nahm die ›Hamburger Zeitung‹ vom Tisch. ›Da steht sie ja! Du hast sie nicht verfaßt, sondern übersetzt, und zwar schlecht übersetzt, weil du Dummkopf nicht ordentlich französisch kannst.‹ Aber was meinen Sie wohl? ›Nein‹, sagte er, ›ich habe gar keine[463] Zeitung gelesen; ich habe die Proklamation selbst verfaßt.‹ ›Nun, wenn es wirklich so ist, dann bist du ein Hochverräter, und ich werde dich vor Gericht stellen, und du wirst gehängt werden. Sage: von wem hast du sie bekommen?‹ ›Ich habe gar keine Zeitungen zu sehen bekommen; ich habe sie selbst verfaßt.‹ Dabei blieb er. Der Graf ließ auch den Vater hinzurufen; aber der junge Mensch beharrte bei seiner Aussage. So wurde er denn vor Gericht gestellt und verurteilt, ich glaube, zu Zwangsarbeit. Jetzt kommt nun der Vater her, um für ihn um Gnade zu bitten. Aber an dem Jungen ist nichts dran! Wissen Sie, so ein Kaufmannssöhnchen, ein Modenarr, der den Mädchen die Köpfe verdreht; hat irgendwo ein paar Vorlesungen gehört und bildet sich nun wer weiß was darauf ein. Was das für ein Früchtchen ist, können Sie auch daraus sehen: sein Vater hat hier ein Restaurant an der Kamenny-Brücke, und in diesem Restaurant befindet sich ein großes Bild, das Gott als Weltherrscher darstellt, wie er in der einen Hand das Zepter hält und in der andern die Weltkugel; und da hat der junge Mensch dieses Bild auf einige Tage in seine Wohnung genommen, und was hat er gemacht? Er hat einen Schurken von Maler gefunden ...«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 459-464.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Vögel. (Orinthes)

Die Vögel. (Orinthes)

Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon