XXIX

[573] Als der französische Offizier und Pierre zusammen in die Wohnung hineingegangen waren, hielt Pierre es für seine Pflicht, dem Kapitän nochmals zu versichern, daß er nicht Franzose sei, und wollte sich dann von ihm entfernen; aber der französische[573] Offizier wollte davon nichts hören. Er war dermaßen höflich, liebenswürdig, gutmütig und seinem Lebensretter dermaßen aufrichtig dankbar, daß Pierre es nicht übers Herz brachte, ihm eine abschlägige Antwort zu erteilen, und sich mit ihm zusammen im Salon, dem ersten Zimmer, in das sie eingetreten waren, niedersetzte. Auf Pierres Versicherung, daß er nicht Franzose sei, zuckte der Kapitän, der offenbar nicht begriff, wie jemand eine so schmeichelhafte Benennung ablehnen könne, nur die Achseln und sagte, wenn Pierre denn durchaus für einen Russen gelten wolle, so habe er weiter nichts dagegen; er bleibe aber trotzdem mit ihm in gleicher Weise lebenslänglich durch das Gefühl der Dankbarkeit für die Lebensrettung verbunden.

Wäre dieser Mensch auch nur im geringsten mit der Fähigkeit begabt gewesen, die Gefühle anderer Leute zu verstehen, und hätte er von Pierres Empfindungen etwas geahnt, so wäre Pierre wahrscheinlich von ihm fortgegangen; aber die muntere Verständnislosigkeit dieses Menschen für alles, was nicht er selbst war, übte auf Pierre einen eigenen Reiz aus.

»Also entweder Franzose oder russischer Fürst inkognito«, sagte der Franzose mit einem Blick auf Pierres feine, wenn auch schmutzige Wäsche und auf den Ring an seinem Finger. »Ich verdanke Ihnen mein Leben und biete Ihnen meine Freundschaft an. Weder eine Beleidigung noch einen ihm geleisteten Dienst vergißt ein Franzose jemals. Ich biete Ihnen meine Freundschaft an. Weiter sage ich nichts.«

In dem Klang der Stimme, in dem Ausdruck des Gesichtes und in den Handbewegungen dieses Offiziers lagen so viel Gutherzigkeit und Edelmut (im französischen Sinne), daß Pierre das Lächeln des Franzosen unwillkürlich mit einem Lächeln erwiderte und die ihm hingestreckte Hand drückte.

»Kapitän Ramballe vom dreizehnten Chevauleger-Regiment,[574] Ritter der Ehrenlegion für die Schlacht am siebenten«, stellte er sich vor und verzog dabei die Lippen unter dem Schnurrbart zu einem selbstzufriedenen Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte. »Würden Sie wohl die Güte haben, mir jetzt auch zu sagen, mit wem ich die Ehre habe, mich so angenehm zu unterhalten, statt mit der Kugel dieses Narren im Leib im Lazarett zu liegen?«

Pierre erwiderte, er dürfe seinen Namen nicht nen nen, und wollte errötend anfangen von den Gründen zu sprechen, die ihm dies verboten; aber der Franzose unterbrach ihn eilig.

»Lassen Sie gut sein!« sagte er. »Ich verstehe Ihre Gründe; Sie sind Offizier, vielleicht ein höherer Offizier. Sie haben gegen uns die Waffen getragen. Aber das geht mich jetzt nichts an. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Das genügt mir. Ich bin ganz der Ihrige. Sie sind Edelmann?« fügte er mit einem leisen Beiklang von fragendem Ton hinzu. Pierre neigte den Kopf. »Wollen Sie mir gefälligst Ihren Taufnamen nennen? Ich werde keine weiteren Fragen stellen. Monsieur Pierre, sagen Sie. Vortrefflich; das ist alles, was ich zu wissen wünsche.«

Als das Hammelfleisch, Rührei, ein Samowar, Branntwein und Wein gebracht waren (letzteren hatten die Franzosen selbst mitgebracht; er stammte aus einem russischen Keller), da forderte Ramballe Pierre auf, an diesem Mittagessen teilzunehmen, und begann unverzüglich selbst mit dem Appetit und der Geschwindigkeit eines gesunden, hungrigen Menschen zu essen, indem er eilig mit seinen kräftigen Zähnen kaute, fortwährend vor Vergnügen schmatzte und dabei bemerkte: »Ausgezeichnet, ganz vorzüglich!« Sein Gesicht rötete sich und überzog sich mit Schweißtröpfchen. Pierre war hungrig und beteiligte sich sehr gern an der Mahlzeit. Morel, der Bursche, brachte eine Kasserolle mit warmem Wasser und stellte die Rotweinflasche hinein.[575] Außerdem brachte er eine Flasche mit Kwaß, die er zur Probe aus der Küche mitgenommen hatte. Dieses Getränk war den Franzosen schon bekannt, und sie hatten ihm einen besonderen Namen gegeben. Sie nannten es Schweine-Limonade, und Morel rühmte diese Schweine-Limonade, die er in der Küche gefunden hatte. Aber da der Kapitän den Wein zur Verfügung hatte, der bei einer Wanderung durch Moskau seine Beute geworden war, so überließ er den Kwaß dem Burschen Morel und hielt sich seinerseits an den Bordeaux. Er wickelte die Flasche bis an den Hals in eine Serviette und goß sich und Pierre Wein ein. Der gestillte Hunger und der genossene Wein machten den Kapitän noch lebhafter, und so redete er denn während des Mittagessens ununterbrochen.

»Ja, mein lieber Monsieur Pierre, ich fühle mich verpflichtet, eine stattliche Kerze dafür in eine Kirche zu stiften, daß Sie mich vor diesem Rasenden gerettet haben. Wissen Sie, ich habe schon genug von diesen Dingern, den Kugeln, im Leib. Da ist eine«, (er zeigte auf seine Seite), »die habe ich bei Wagram bekommen. Und eine zweite bekam ich bei Smolensk.« (Er wies auf eine Narbe, die er an der Wange hatte.) »Und dann dieses Bein, das nicht ordentlich gehen will, wie Sie sehen. Das habe ich bei der großen Schlacht vom siebenten an der Moskwa abbekommen. Donnerwetter, war das schön! Das war sehenswert; es war ein richtiges Feuermeer. Sie haben es uns sauer gemacht; Sie können sich dessen rühmen, alle Wetter! Aber, mein Ehrenwort, trotz des Hustens, den ich mir dabei geholt habe, wäre ich auf der Stelle bereit, die Geschichte noch einmal von vorn durchzumachen. Ich bedaure jeden, der das nicht gesehen hat.«

»Ich bin dabeigewesen«, sagte Pierre.

»Ah, wirklich? Nun, um so besser«, redete der Franzose weiter. »Sie sind tüchtige Feinde; das muß man Ihnen lassen. Die große[576] Schanze hat sich gut gehalten, Himmelsapperment! Für die haben Sie uns einen gehörigen Preis bezahlen lassen. Drei Attacken auf diese Schanze habe ich mitgemacht, so wahr ich hier sitze. Dreimal waren wir schon bei den Kanonen, und dreimal wurden wir niedergeworfen wie Pappsoldaten. Oh, das war mal schön, Monsieur Pierre! Ihre Grenadiere waren großartig, Schwerenot noch mal! Ich habe gesehen, wie sie sechsmal hintereinander ihre Reihen wieder schlossen und marschierten, als ob sie auf der Parade wären. Die schönen Menschen! Unser König von Neapel (und der ist ein Kenner auf diesem Gebiet) rief: ›Bravo!‹ ... Ja, ja, ihr seid ebensolche Soldaten wie wir«, fügte er nach kurzem Stillschweigen lächelnd hinzu. »Um so besser, um so besser, Monsieur Pierre. Furchtbar in der Schlacht, galant« (hier zwinkerte er ihm lächelnd zu) »gegen schöne Damen; so sind die Franzosen, Monsieur Pierre; nicht wahr?«

Der Kapitän war von einer so naiven, gutmütigen Heiterkeit und einer so ungetrübten Selbstzufriedenheit, daß Pierre, der ihn heiter ansah, beinahe selbst mit den Augen zu zwinkern anfing. Wahrscheinlich brachte das Wort »galant« den Kapitän auf den Gedanken an die Situation in Moskau.

»Apropos, sagen Sie doch, ist es wahr, daß alle Frauen Moskau verlassen haben? Eine wunderliche Idee! Was hatten sie denn zu fürchten?«

»Würden die französischen Damen nicht auch Paris verlassen, wenn die Russen dort einzögen?« fragte Pierre.

»Ha, ha, ha!« lachte der Franzose lustig, wie ein echter Sanguiniker, und klopfte Pierre auf die Schulter. »Da haben Sie einen guten Witz gemacht. Paris? Ja, Paris, Paris ...«

»Paris ist die Hauptstadt der Welt«, sagte Pierre, den angefangenen Satz des andern ergänzend.

Der Kapitän blickte Pierre an. Er hatte die Gewohnheit an sich,[577] mitten im Gespräch innezuhalten und mit lachenden, freundlichen Augen vor sich hin zu sehen.

»Nun, wenn Sie mir nicht gesagt hätten, daß Sie Russe sind, hätte ich gewettet, daß Sie ein Pariser wären. Sie haben so etwas Undefinierbares, dieses ...« Und nachdem er dieses Kompliment gesagt hatte, blickte er schweigend vor sich hin.

»Ich bin in Paris gewesen; ich habe dort mehrere Jahre gelebt«, sagte Pierre.

»Oh, das merkt man Ihnen leicht an. Paris ...! Wer Paris nicht kennt, der ist ein Wilder. Einen Pariser erkennt man auf zwei Meilen. Paris, das ist Talma, die Duchesnois, Potier, die Sorbonne, die Boulevards«, und da er bemerkte, daß der Schluß gegen das Vorhergehende etwas abfiel, fügte er rasch hinzu: »Es gibt nur ein Paris in der Welt. Sie sind in Paris gewesen und sind Russe geblieben. Nun, das tut meiner Hochachtung für Sie keinen Eintrag.«

Infolge des genossenen Weines und infolge davon, daß er mehrere Tage in der Einsamkeit und in trüben Gedanken verlebt hatte, empfand Pierre unwillkürlich ein gewisses Vergnügen an der Unterhaltung mit diesem heitern, gutherzigen Menschen.

»Um wieder auf Ihre Damen zurückzukommen«, sagte der Franzose, »es heißt ja, sie seien sehr schön. Welche verdrehte Idee, davonzugehen und sich in den Steppen zu vergraben, während die französische Armee in Moskau ist! Welch eine schöne Gelegenheit haben sie verpaßt, Ihre Damen. Ihre Bauern, ja, das ist etwas anderes; aber Sie, die Gebildeten, Sie sollten uns doch besser kennen. Wir haben Wien, Berlin, Madrid, Neapel, Rom, Warschau, alle Hauptstädte der Welt eingenommen. Wir werden gefürchtet, aber geliebt. Es macht einem jeden Freude,[578] uns näher kennenzulernen. Und dann der Kaiser ...«, begann er; aber Pierre unterbrach ihn.

»Der Kaiser ...«, wiederholte Pierre, und sein Gesicht nahm plötzlich einen trüben, verlegenen Ausdruck an. »Ist denn der Kaiser wirklich ...«

»Der Kaiser? Der Kaiser ist die Großmut, die Gnade, die Gerechtigkeit, die Ordnung, das Genie in eigener Person; das ist der Kaiser. Das sage ich Ihnen, ich, Kapitän Ramballe. Ich versichere Ihnen, ich war sein Feind, noch vor acht Jahren war ich sein Feind. Mein Vater, ein Graf, war Emigrant. Aber er hat mich besiegt, dieser Mann. Er hat mich gepackt. Ich habe nicht widerstehen können, als ich sah, wie er Frankreich groß machte und mit Ruhm schmückte. Als ich begriff, was er wollte, als ich sah, daß er uns auf Lorbeeren bettete, sehen Sie, da habe ich mir gesagt: ›Das ist ein Souverän!‹ und habe mich ihm zu eigen gegeben. So ist das! Ja, mein Lieber, er ist der größte Mann aller vergangenen und kommenden Jahrhunderte.«

»Ist er in Moskau?« fragte Pierre stotternd und machte dabei ein Gesicht wie ein Verbrecher.

Der Franzose sah Pierres Verbrechergesicht an und lächelte.

»Nein, noch nicht; er wird erst morgen seinen Einzug halten«, sagte er und fuhr dann in seiner Erzählung fort.

Ihr Gespräch wurde durch ein Geschrei mehrerer Stimmen am Tor und durch den Eintritt Morels unterbrochen, der dem Kapitän zu melden kam, Württemberger Husaren seien gekommen und wollten ihre Pferde auf demselben Hof unterbringen, auf dem schon die Pferde des Kapitäns ständen; besondere Schwierigkeit entstände dadurch, daß die Husaren nicht verständen, was ihnen gesagt würde.

Der Kapitän ließ sich den ältesten Unteroffizier hereinrufen und fragte ihn in strengem Ton, zu welchem Regiment er[579] gehöre, wer ihr Kommandeur sei, und mit welchem Recht er sich erlaube, ein Quartier in Anspruch zu nehmen, das bereits belegt sei. Auf die ersten beiden Fragen nannte der Deutsche, der nur schlecht Französisch verstand, sein Regiment und seinen Kommandeur; aber die letzte Frage verstand er nicht und antwortete, indem er in sein Deutsch verunstaltete französische Worte hineinmengte, er sei der Quartiermacher des Regiments, und es sei ihm vom Kommandeur befohlen, in dieser Straße alle Häuser der Reihe nach mit Beschlag zu belegen. Pierre, der Deutsch konnte, übersetzte dem Kapitän das, was der Deutsche sagte, und übermittelte die Antwort des Kapitäns auf deutsch dem Württemberger Husaren. Nachdem der Deutsche verstanden hatte, was zu ihm gesagt wurde, gab er nach und führte seine Leute fort. Der Kapitän trat auf die Freitreppe hinaus und erteilte mit lauter Stimme Befehle.

Als er wieder in das Zimmer zurückkehrte, saß Pierre immer noch auf demselben Platz, auf dem er vorher gesessen hatte, den Kopf auf die Arme gestützt. Sein Gesicht drückte einen tiefen Schmerz aus. Er litt wirklich in diesem Augenblick schwer. Als der Kapitän hinausgegangen und Pierre allein geblieben war, hatte er auf einmal wieder seine Gedanken gesammelt und war sich der Lage, in der er sich befand, bewußt geworden. Nicht daß Moskau von den Feinden besetzt war, auch nicht, daß diese glücklichen Sieger in der Stadt die Herren spielten und ihn gönnerhaft behandelten, nicht das war es, was ihn in diesem Augenblick quälte, so schwer er es auch empfand. Was ihn quälte, war das Bewußtsein seiner eigenen Schwäche. Die paar Gläser Wein, die er getrunken hatte, und das Gespräch mit diesem gutherzigen Menschen hatten die düster grübelnde Stimmung zerstört, in der Pierre die letzten Tage verbracht hatte und die zur Ausführung seiner Absicht unumgänglich notwendig war. Die[580] Pistole und der Dolch und der Kaftan waren bereit, und Napoleon hielt morgen seinen Einzug. Pierre hielt die Ermordung des Bösewichtes noch für ebenso nützlich und verdienstvoll wie vorher; aber er fühlte, daß er diese Tat jetzt nicht zur Ausführung bringen werde. Warum, das wußte er nicht; aber er hatte gewissermaßen eine Ahnung, daß er seine Absicht nicht verwirklichen werde. Er kämpfte gegen das Bewußtsein seine Schwäche an, fühlte aber unklar, daß er sie nicht überwinden könne und daß das frühere düstere Gebäude von Gedanken an Rache, Mord und Selbstaufopferung bei der ersten Berührung durch einen beliebigen Menschen wie ein Kartenhaus zusammenfiel.

Der Kapitän trat, leicht hinkend und etwas vor sich hin pfeifend, ins Zimmer.

Das Geplar des Franzosen, das vorher für Pierre amüsant gewesen war, erschien ihm jetzt widerwärtig. Auch das Liedchen, das dieser pfiff, und sein Gang und die Gebärde, mit der er sich den Schnurrbart drehte, alles wirkte jetzt auf Pierre wie eine Beleidigung. »Ich will sofort weggehen und kein Wort mehr mit ihm reden«, dachte Pierre. Er dachte das und blieb trotzdem auf demselben Fleck sitzen. Ein seltsames Gefühl der Schwäche hielt ihn an seinem Platz wie angeschmiedet fest; er wollte aufstehen und fortgehen, konnte es aber nicht.

Der Kapitän dagegen schien sehr vergnügt zu sein. Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Seine Augen glänzten, und sein Schnurrbart zuckte leise, als ob er still für sich über einen amüsanten Gedanken lächelte.

»Ein prächtiger Mensch, der Oberst, dieser Württemberger«, sagte er auf einmal. »Er ist ja ein Deutscher, aber ein braver Kerl trotz alledem. Aber freilich ein Deutscher.« (Er setzte sich Pierre gegenüber.) »Apropos, Sie können also Deutsch?«

Pierre sah ihn schweigend an.[581]

»Wie sagt man für asile auf deutsch?«

»Asile?« wiederholte Pierre. »Asile heißt auf deutsch ›Unterkunft‹.«

»Wie sagen Sie?« fragte der Kapitän rasch und mißtrauisch.

»›Unterkunft‹«, sagte Pierre noch einmal.

»›Onterkoff‹«, sprach der Kapitän nach und blickte Pierre einige Sekunden lang mit lachenden Augen an. »Die Deutschen sind armselige Tröpfe! Nicht wahr, Monsieur Pierre?« fragte er.

»Nun, wie ist's? Noch eine Flasche von diesem Moskauer Bordeaux, nicht wahr? Morel wärmt uns noch ein Fläschchen. Morel!« rief der Kapitän vergnügt.

Morel brachte Kerzen und noch eine Flasche Wein. Der Kapitän betrachtete Pierre jetzt im Hellen und war augenscheinlich betroffen über das verstörte Gesicht desselben. Mit dem Ausdruck aufrichtiger Betrübnis und Teilnahme im Gesicht trat er an Pierre heran und beugte sich über ihn.

»Aber wir sind traurig?« sagte er und berührte Pierres Arm. »Sollte ich Sie irgendwie gekränkt haben? Nein, sagen Sie aufrichtig: haben Sie etwas gegen mich? Oder vielleicht grämen Sie sich über die Lage?«

Pierre gab ihm keine Antwort, sah ihm aber freundlich in die Augen. Dieser Ausdruck von Teilnahme berührte ihn angenehm.

»Mein Ehrenwort! Ganz abgesehen davon, daß ich Ihnen Dank schulde, hege ich eine wahre Freundschaft für Sie. Kann ich etwas für Sie tun? Verfügen Sie ganz über mich. Auf Leben und Tod. Das sage ich Ihnen, Hand aufs Herz«, sagte er und schlug sich auf die Brust.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Pierre.

Der Kapitän sah Pierre prüfend an, ebenso wie er ihn angesehen hatte, als er sich hatte sagen lassen, wie asile auf deutsch hieße, und plötzlich leuchtete sein Gesicht auf.[582]

»Ah, dann trinke ich also auf unsere Freundschaft!« rief er fröhlich und goß zwei Gläser voll Wein.

Pierre nahm das vollgeschenkte Glas und trank es aus. Auch Ramballe leerte das seinige, drückte Pierre noch einmal die Hand und stützte sich in nachdenklicher, melancholischer Haltung mit dem Ellbogen auf den Tisch.

»Ja, mein teurer Freund, das sind die Launen des Schicksals«, begann er. »Wer hätte mir das vorhergesagt, daß ich Soldat und Dragonerkapitän im Dienst Bonapartes sein würde, wie wir ihn ehemals nannten. Und nun bin ich doch mit ihm hier in Moskau. Ich muß Ihnen sagen, lieber Freund«, fuhr er in dem trübseligen, gemessenen Ton jemandes fort, der sich anschickt, eine lange Geschichte zu erzählen, »daß unsere Familie eine der ältesten Frankreichs ist.«

Und mit der leichten, harmlosen Offenherzigkeit des Franzosen erzählte der Kapitän Pierre die Geschichte seiner Vorfahren und vieles aus seiner Kindheit, seiner Jugend und seinem Mannesalter und unterrichtete ihn über seine sämtlichen Verwandtschafts-, Vermögens- und Familienverhältnisse. Selbstverständlich spielte »meine arme Mutter« in dieser Erzählung eine große Rolle.

»Aber alles das ist nur die äußere Szenerie des Lebens; der eigentliche Kern des Lebens ist doch die Liebe! Die Liebe! Nicht wahr, Herr Pierre?« sagte er, lebhaft werdend. »Noch ein Glas!«

Pierre trank wieder aus und goß sich ein drittes Glas ein.

»Oh«, rief der Kapitän, »die Weiber, die Weiber!« Und Pierre mit feuchtschimmernden Augen anblickend, begann er von der Liebe und seinen Liebesabenteuern zu reden.

Diese Abenteuer waren, seiner Darstellung nach, sehr zahlreich gewesen, und das konnte man im Hinblick auf das selbstgefällige,[583] hübsche Gesicht des Offiziers und die schwärmerische Begeisterung, mit der er von den Frauen sprach, auch gern glauben. Zwar trugen alle Liebesgeschichten Ramballes jenen charakteristischen Zug von Unsauberkeit an sich, in welchem die Franzosen den ausschließlichen Reiz und die Poesie der Liebe sehen; aber der Kapitän erzählte seine Geschichten mit einer solchen aufrichtigen Überzeugung davon, daß er allein alle Reize der Liebe erfahren und kennengelernt habe, und schilderte die Frauen in so verlockenden Farben, daß Pierre ihm mit Interesse zuhörte.

Es war offenbar, daß die Liebe, die für den Franzosen eine solche Wichtigkeit besaß, weder jene Liebe einfachster, niedriger Art war, wie sie Pierre einst für seine Frau empfunden hatte, noch auch jene von ihm selbst unterdrückte romantische Liebe, die er für Natascha empfand (diese beiden Arten von Liebe schätzte Ramballe in gleicher Weise gering: die erstere war ihm die Liebe der Fuhrleute, die andere die Liebe der Einfaltspinsel); die Liebe, die der Franzose so hoch schätzte, bestand vornehmlich in einer Verkünstelung der Beziehungen zum Weib und in einer Häufung von Ungeheuerlichkeiten, die nach seiner Ansicht dem Gefühl erst den rechten Reiz gaben.

So erzählte der Kapitän eine rührende Geschichte von seiner Liebe zu einer bezaubernden fünfunddreißigjährigen Marquise und zugleich zu einem entzückenden, unschuldigen siebzehnjährigen jungen Mädchen, der Tochter der bezaubernden Marquise. Der Kampf der Großmut zwischen Mutter und Tochter, der damit geendet hatte, daß die Mutter, sich selbst zum Opfer bringend, ihrem Liebhaber ihre Tochter zur Frau angeboten hatte, versetzte selbst jetzt noch, wo dies eine weit zurückliegende Erinnerung war, den Kapitän in starke Aufregung. Dann erzählte er eine Geschichte, bei der der Gatte die Rolle des Liebhabers und er, der Liebhaber, die Rolle des Gatten gespielt[584] hatte, und einige komische Begebnisse aus seinen souvenirs d'Allemagne, wo die Leute für asile »Unterkunft« sagen und die Ehemänner Sauerkraut essen und die jungen Mädchen gar zu blond sind.

Das letzte Erlebnis in Polen endlich, das dem Kapitän noch frisch im Gedächtnis haftete und das er mit lebhaften Gestikulationen und heißem Gesicht erzählte, bestand darin, daß er einem Polen das Leben gerettet hatte (überhaupt waren in den Erzählungen des Kapitäns Lebensrettungen ein immer wiederkehrendes Moment) und dieser Pole ihm seine bezaubernde Gattin, eine Pariserin ihrem ganzen geistigen Wesen nach, anvertraut hatte, während er selbst in französische Dienste getreten war. Der Kapitän war glücklich gewesen; die bezaubernde Polin hatte mit ihm entfliehen wollen; aber von Edelsinn geleitet, hatte der Kapitän dem Gatten die Frau zurückgegeben und dabei zu ihm gesagt: »Ich habe Ihnen das Leben gerettet und rette jetzt Ihre Ehre!« Als der Kapitän diese Worte anführte, wischte er sich die Augen und schüttelte sich, als wollte er sich einer Schwäche erwehren, die ihn bei dieser rührenden Erinnerung überkam.

Während Pierre die Erzählungen des Kapitäns anhörte, ging es ihm, wie das in später Abendzeit und nach Weingenuß nichts Seltenes ist: er folgte allem, was der Kapitän sagte, und verstand alles, verfolgte aber gleichzeitig eine Reihe persönlicher Erinnerungen, die auf einmal aus nicht recht verständlichem Grund vor sein geistiges Auge traten. Und während er die Liebesgeschichten des Franzosen anhörte, mußte er auf einmal, für ihn selbst überraschend, an seine eigene Liebe zu Natascha denken, und indem er im Geist die einzelnen Bilder dieser Liebe sich wieder vergegenwärtigte, verglich er sie im stillen mit Ramballes Erzählungen. Er folgte der Erzählung von dem Kampf des Pflichtgefühls mit der Liebe und glaubte gleichzeitig alle,[585] selbst die kleinsten Einzelheiten seiner letzten Begegnung mit dem Gegenstand seiner Liebe beim Sucharew-Turm vor sich zu sehen. Damals hatte diese Begegnung ihm keinen besonderen Eindruck gemacht; er hatte sogar seitdem nicht ein einziges Mal wieder daran gedacht; aber jetzt schien es ihm, daß diese Begegnung etwas sehr Bedeutsames und Poetisches gehabt habe.

Er glaubte jetzt die Worte zu hören, die sie damals gesprochen hatte: »Pjotr Kirillowitsch, kommen Sie doch her; ich habe Sie erkannt!« Er glaubte ihre Augen vor sich zu sehen und ihr Lächeln und ihr Reisehäubchen und eine Haarsträhne, die sich daraus hervorgestohlen hatte. Und in alledem fand er etwas Zartes, Rührendes.

Als der Kapitän seine Erzählung von der bezaubernden Polin beendet hatte, wandte er sich an Pierre mit der Frage, ob er selbst schon einmal ein ähnliches Gefühl der Selbstaufopferung und des Neides gegen den legitimen Gatten kennengelernt habe.

Durch diese Frage herausgefordert, hob Pierre den Kopf in die Höhe und fühlte das unabweisbare Bedürfnis, die Gedanken, die ihn beschäftigten, auszusprechen; er begann dem Franzosen auseinanderzusetzen, wie er die Liebe zum Weib etwas anders auffasse. Er sagte, daß er sein ganzes Leben lang nur ein einziges weibliches Wesen geliebt habe und noch liebe, und daß dieses Wesen ihm nie angehören könne.

»Ei der Tausend!« sagte der Kapitän.

Dann legte ihm Pierre dar, daß er dieses Mädchen seit dessen frühster Jugend geliebt habe; aber er habe nicht an sie zu denken gewagt, weil sie zu jung gewesen sei und er selbst ein illegitimer Sohn ohne Namen. Später aber, als ihm ein Name und Reichtum zugefallen sei, habe er deswegen nicht gewagt an sie zu denken, weil er sie zu sehr geliebt und zu hoch über alles in der Welt und erst recht über sich selbst gestellt habe.[586]

Als Pierre bis zu diesem Punkt seiner Erzählung gelangt war, richtete er an den Kapitän die Frage, ob er ihn auch wohl verstehe.

Der Kapitän machte eine Gebärde, die besagte: selbst wenn er ihn nicht verstehen sollte, bitte er ihn doch fortzufahren.

»Platonische Liebe, Nebeldunst ...«, murmelte er vor sich hin.

War es nun der genossene Wein oder das Bedürfnis, sich offen auszusprechen, oder der Gedanke, daß dieser Mensch keine der handelnden Personen seiner Geschichte kenne oder jemals kennenlernen werde: genug, eines hiervon oder alles zusammen löste Pierre die Zunge. Und mit lispelnder Sprache, die feuchtglänzenden Augen irgendwohin in die Ferne gerichtet, erzählte er seine ganze Geschichte: von seiner Heirat, und von Nataschas Liebe zu seinem besten Freund, und von ihrem Treubruch und von all seinen harmlosen Beziehungen zu ihr. Durch Ramballes Fragen veranlaßt, erzählte er auch, was er anfangs verheimlicht hatte: von seiner Stellung in der Gesellschaft; ja, er nannte dem Kapitän sogar seinen Namen.

Was dem Kapitän in Pierres Erzählung am allermeisten imponierte, das war, daß dieser reich war, zwei Paläste in Moskau besaß, dies alles aber im Stich gelassen hatte und, statt aus Moskau wegzugehen, unter Verheimlichung seines Namens und Standes in der Stadt geblieben war.

Es war schon späte Nacht, als sie beide zusammen auf die Straße hinaustraten. Die Nacht war warm und hell. Links vom Haus leuchtete der Feuerschein des ersten in Moskau ausgebrochenen Brandes, an der Petrowka-Straße. Rechts stand hoch am Himmel die junge Mondsichel, und auf der dem Mond entgegengesetzten Seite hing jener helle Komet, den Pierre in seiner Seele mit seiner Liebe in eine geheimnisvolle Beziehung brachte. Am Tor standen Gerasim, die Köchin und zwei Franzosen.[587] Man hörte ihr Lachen und das Gespräch, das sie miteinander führten, obwohl sie ihre Sprache wechselseitig nicht verstanden. Sie schauten nach dem Feuerschein hin, der über der Stadt sichtbar war.

Der kleine, ferne Brand in der gewaltigen Stadt hatte weiter nichts Besorgniserregendes.

Der Anblick des hohen Sternenhimmels, des Mondes, des Kometen und des Feuerscheins erfüllte Pierres Seele mit freudiger Rührung. »Ah, wie schön das ist! Was will ich noch weiter?« dachte er. Da fiel ihm auf einmal sein Vorhaben ein, und der Kopf wurde ihm schwindlig, eine Schwäche kam über ihn, so daß er sich an den Zaun lehnen mußte, um nicht zu fallen.

Ohne von seinem neuen Freund Abschied zu nehmen, ging Pierre mit unsicheren Schritten vom Tor weg, legte sich, als er in sein Zimmer gekommen war, auf das Sofa und schlief sofort ein.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 573-588.
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