VII

[444] Helene war sich darüber klar, daß vom geistlichen Standpunkt aus die Erledigung der Sache leicht und einfach war und daß ihre Berater nur deshalb Schwierigkeiten machten,[444] weil sie Bedenken hatten, wie die weltliche Gewalt die Sache ansehen werde.

Daher sagte sich Helene, daß es erforderlich sei, in der Gesellschaft die Sache vorzubereiten. Sie erweckte die Eifersucht des alten Würdenträgers und sagte ihm dann dasselbe, was sie ihrem andern Galan gesagt hatte, d.h. sie erklärte, das einzige Mittel, Rechte auf sie zu gewinnen, bestehe darin, sie zu heiraten. Der bejahrte hochgestellte Herr war über diesen Vorschlag, eine Frau zu heiraten, deren Mann noch lebte, im ersten Augenblick ebenso überrascht wie der junge Prinz. Aber Helenes unerschütterliche Überzeugung, daß dies ebenso einfach und natürlich sei, wie wenn sich ein Mädchen verheirate, wirkte auch auf ihn. Wäre an Helene selbst auch nur das geringste Anzeichen von Schwanken, Scham oder Verheimlichung zu merken gewesen, so wäre ihr Spiel ohne Zweifel verloren gewesen; aber nicht nur mangelte es vollständig an solchen Anzeichen von Verheimlichung und Scham, sondern sie erzählte sogar ganz im Gegenteil mit großer Harmlosigkeit und gutmütiger Naivität ihren guten Freunden (und dazu gehörte ganz Petersburg), daß ihr sowohl der Prinz als auch der hohe Würdenträger Heiratsanträge gemacht hätten und daß sie beide sehr gern habe und fürchte, den einen oder den andern zu verletzen.

Augenblicklich verbreitete sich in Petersburg das Gerücht, nicht etwa daß Helene sich von ihrem Mann scheiden lassen wolle (wäre dies der Inhalt des Gerüchtes gewesen, so hätten sich gewiß sehr viele gegen ein so gesetzwidriges Vorhaben ausgesprochen), sondern geradezu, daß die unglückliche, interessante Helene sich im Zweifel befinde, welchen von zwei Bewerbern sie heiraten solle. Die Frage war also nicht mehr darauf gerichtet, ob das überhaupt möglich sei, sondern nur darauf, welche Partie größere Vorteile biete und wie der Hof die Sache ansehen werde. Allerdings[445] gab es einige verstockte Menschen, die sich nicht zu der Höhe dieser Anschauung erheben konnten und in diesem Vorhaben eine Beschimpfung des Sakramentes der Ehe erblickten; aber es waren ihrer nur wenige, und sie schwiegen; die meisten sprachen lebhaft interessiert von dem Glück, das der schönen Helene zufalle, und erörterten die Frage, welche Partie die bessere sei. Darüber aber, ob es recht oder unrecht sei, bei Lebzeiten des Gatten einen andern zu heiraten, redeten sie überhaupt nicht; denn diese Frage war für Leute, die klüger waren als Hinz und Kunz (wie man sich ausdrückte), offenbar längst entschieden, und wer an der Richtigkeit der Entscheidung der Frage gezweifelt hätte, der hätte damit lediglich seine eigene Beschränktheit und seine Unfähigkeit, in den Kreisen der besseren Gesellschaft zu leben, an den Tag gelegt.

Nur Marja Dmitrijewna Achrosimowa, die in diesem Sommer nach Petersburg gekommen war, um einen ihrer Söhne wiederzusehen, erlaubte sich, ihrer Ansicht, die zu der der Gesellschaft in starkem Gegensatz stand, unverhohlenen Ausdruck zu geben. Als sie mit Helene auf einem Ball zusammentraf, hielt sie sie mitten im Saal an und sagte, während ein allgemeines Stillschweigen eintrat, mit ihrer derben, kräftigen Stimme zu ihr: »Bei euch hier heiratet man ja wohl jetzt zum zweitenmal, während der erste Mann noch lebt. Denkst du vielleicht, daß du damit eine neue Erfindung gemacht hast? Das haben andre schon vor dir getan, meine Verehrteste! In allen« (hier bediente sie sich eines sehr kräftigen Ausdrucks) »machen Sie es so.« Und nach diesen Worten ging Marja Dmitrijewna, indem sie sich mit einer ihr geläufigen drohenden Gebärde ihre weiten Ärmel aufstreifte und mit strengen Blicken um sich sah, weiter durch den Saal.

Aber obwohl man sich vor Marja Dmitrijewna fürchtete, betrachtete man sie in Petersburg doch als eine Art von weiblichem Hanswurst und beachtete daher von dem, was sie gesagt hatte,[446] nur das eine derbe Wort und kolportierte dieses flüsternd in der Stadt, in der Meinung, daß in diesem Wort der ganze geistige Gehalt jener Äußerung stecke.

Fürst Wasili, der in der letzten Zeit besonders häufig vergaß, was er früher gesagt hatte, und hundertmal ein und dasselbe wiederholte, sagte jedesmal, wenn er mit seiner Tochter zusammentraf:

»Helene, ich möchte dir ein paar Worte sagen.« Dabei führte er sie beiseite und zog in seiner absonderlichen Manier ihre Hand nach unten. »Ich habe Wind bekommen von gewissen Plänen in betreff ... Du weißt schon. Nun, mein liebes Kind, du weißt, daß mein Vaterherz sich freut, daß du ... Du hast so viel gelitten ... Aber, mein liebes Kind ... frage nur dein Herz um Rat. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Und um seine Erregung, die bei ihm jedesmal die gleiche war, zu verbergen, drückte er seine Wange an die Wange seiner Tochter und ging dann von ihr weg.

Bilibin, der sich das Renommee eines außerordentlich klugen Mannes zu bewahren gewußt hatte und ein uneigennütziger Freund Helenes war, einer von jenen Freunden, wie sie stets in der Umgebung vielbewunderter Frauen zu finden sind, von jenen Freunden, bei denen es ausgeschlossen ist, daß sie jemals in die Rolle von Liebhabern übergehen, Bilibin sprach einmal seiner Freundin Helene gegenüber im engeren Freundeskreis seine Ansicht über diese ganze Angelegenheit aus.

»Hören Sie, Bilibin«, hatte Helene gesagt und dabei mit ihrer weißen, ringgeschmückten Hand seinen Frackärmel berührt; sie nannte solche Freunde wie Bilibin immer mit dem Familiennamen. »Sagen Sie mir aufrichtig, wie wenn Sie mit einer Schwester sprächen: was soll ich tun? Welchen von beiden soll ich nehmen?«[447]

Bilibin zog die Haut über den Augenbrauen zusammen, legte seine Lippen zu einem Lächeln zurecht und überlegte ein Weilchen.

»Überraschend kommt mir diese Frage nicht; das wissen Sie«, erwiderte er. »Als Ihr wahrer Freund habe ich über Ihre Angelegenheit nachgedacht und immer wieder nachgedacht. Sehen Sie, wenn Sie den Prinzen heiraten« (dies war der junge Mann), Bilibin bog einen Finger ein, »so verlieren Sie für immer die Möglichkeit, den andern zu heiraten, und erregen außerdem das Mißfallen des Hofes. (Wie Sie wissen, existiert da so eine Art von Verwandtschaft.) Heiraten Sie dagegen den alten Grafen, so verschönern Sie ihm seine letzten Lebenstage, und wenn Sie dann die Witwe des großen N.N. sind, so begeht der Prinz keine Mesalliance mehr, wenn er Sie heiratet.« Hier aufzog Bilibin die Hautfalten auf der Stirn wieder auseinander.

»Das nenne ich einen wahren Freund!« sagte Helene mit strahlender Miene und berührte noch einmal mit der Hand Bilibins Ärmel. »Aber die Sache ist die, daß ich sie beide liebe und keinem von ihnen Schmerz bereiten möchte. Ich möchte für beide mein Leben hingeben, um sie glücklich zu machen.«

Bilibin zuckte die Achseln, um damit zu verstehen zu geben, daß für solches Leid auch er keine Hilfe wisse.

»Ein Hauptweib!« dachte er. »Das heißt klipp und klar aussprechen, um was es sich handelt. Am liebsten wäre sie mit allen dreien zugleich verheiratet.«

»Aber sagen Sie«, fuhr er laut fort, da er infolge seines fest begründeten Renommees nicht fürchtete, sich durch eine so naive Frage zu blamieren, »wie sieht denn Ihr Mann die Sache an? Ist er damit einverstanden?«

»Oh, er liebt mich so sehr!« antwortete Helene, die aus einem nicht recht verständlichen Grund sich einbildete, Pierre liebe sie ebenfalls. »Er ist für mich zu allem bereit.«[448]

Bilibin zog die Stirnhaut zusammen, um anzudeuten, daß sich ein Witzwort vorbereitete.

»Sogar zur Scheidung!« sagte er.

Helene lachte.

Zu denjenigen, die sich erlaubten an der gesetzlichen Zulässigkeit der in Aussicht genommenen Wiederverheiratung zu zweifeln, gehörte auch Helenes Mutter, die Fürstin Kuragina. Sie wurde beständig von Neid auf ihre Tochter gequält, und jetzt, wo ihr der Anlaß des Neides besonders naheging, da es sich um eine Herzenssache handelte, ließ ihr der Gedanke, daß ihre Tochter ihre Absicht erreichen könnte, keine Ruhe. Sie befragte einen russischen Geistlichen, ob eine Scheidung und Wiederverheiratung bei Lebzeiten des Mannes möglich sei, und der Geistliche erklärte ihr, daß das unmöglich sei, und zeigte ihr auch zu ihrer Freude eine Stelle im Evangelium, wo die Eingehung einer zweiten Ehe bei Lebzeiten des Mannes ausdrücklich verboten wird.

Mit diesen Argumenten bewaffnet, die ihr unwiderleglich schienen, fuhr die Fürstin zu ihrer Tochter, und zwar frühmorgens, um sie allein zu treffen.

Helene hörte die Einwendungen ihrer Mutter mit einem milden, spöttischen Lächeln an.

»Es steht ja geradezu in der Schrift: ›Wer eine Abgeschiedene freiet ...‹«, sagte die alte Fürstin.

»Ach, Mama, reden Sie doch keine Torheiten. Sie verstehen ja davon gar nichts. In meiner Stellung habe ich Pflichten«, erwiderte Helene auf französisch; sie ging absichtlich vom Russischen zum Französischen über, weil es ihr, wenn sie russisch sprach, immer so vorkam, als sei ihre Sache doch einigermaßen mißlich.

»Aber, liebes Kind ...«

»Ach, Mama, begreifen Sie denn nicht, daß der Heilige Vater, der das Recht hat, Dispens zu erteilen ...«[449]

In diesem Augenblick trat die Gesellschaftsdame, welche Helene sich hielt, ein und meldete, Seine Hoheit sei im Saal und wünsche sie zu sprechen.

»Nein, sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht sehen will und auf ihn wütend bin, weil er nicht Wort gehalten hat.«

»Gräfin, für jede Sünde gibt es ein Erbarmen«, sagte eintretend ein blonder junger Mann mit langem Gesicht und langer Nase.

Die alte Fürstin stand respektvoll auf und knickste. Der junge Mann, der hereingekommen war, schenkte ihr keine Beachtung. Die Fürstin nickte ihrer Tochter zu und ging mit gleitendem Gang zur Tür.

»Nein, sie hat recht«, dachte die alte Fürstin, deren Überzeugungen sämtlich durch das Erscheinen Seiner Hoheit in Trümmer gefallen waren. »Sie hat recht; aber wie haben wir nur in unserer Jugend, die nun unwiederbringlich dahin ist, darüber in Unkenntnis sein können! Und es wäre doch so einfach gewesen«, dachte die alte Fürstin, als sie in ihren Wagen stieg.

Anfang August hatte sich Helenes Angelegenheit völlig geklärt, und sie schrieb an ihren Mann, von dem sie annahm, daß er sie sehr liebe, einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, daß sie Herrn N.N. zu heiraten beabsichtige und zur einzig wahren Religion übergetreten sei; sie bat ihn, alle für die Scheidung unumgänglichen Formalitäten zu erledigen, über die ihm der Überbringer dieses Briefes nähere Auskunft geben werde.

»Und nun bitte ich Gott, mein Freund, Sie unter Seinen heiligen, starken Schutz zu nehmen. Ihre Freundin Helene.«

Dieser Brief wurde in Pierres Haus zu der Zeit abgegeben, als er sich auf dem Schlachtfeld von Borodino befand.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 444-450.
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