XI

[420] Vor zwei Monaten hatte Pierre, der damals schon bei Rostows zu Besuch war, einen Brief vom Fürsten Fjodor erhalten, worin dieser ihn bat, nach Petersburg zu kommen zum Zweck der Beratung wichtiger Fragen, welche die Mitglieder eines Vereins in Petersburg beschäftigten, bei dessen Gründung Pierre in hervorragender Weise mitgewirkt hatte.

Als Natascha diesen Brief gelesen hatte, wie sie denn alle Briefe ihres Mannes las, redete sie ihm selbst zu, nach Petersburg zu fahren, so schwer es ihr auch fallen mußte, von ihm getrennt zu sein. Allem, was mit der geistigen, abstrakten Tätigkeit ihres Mannes zusammenhing, legte sie, ohne ein Verständnis dafür zu besitzen, eine gewaltige Wichtigkeit bei und befürchtete beständig, ihrem Mann bei dieser Tätigkeit ein Hemmnis zu sein. Auf Pierres schüchternen, fragenden Blick nach dem Durchlesen dieses Briefes antwortete sie mit der Bitte, er möchte doch hinfahren und ihr nur sicher die Zeit seiner Rückkehr angeben.[420] Und so wurde ihm denn auf vier Wochen Urlaub erteilt.

Von der Zeit an, wo Pierres Urlaub abgelaufen war (es war jetzt zwei Wochen her), befand sich Natascha in steter Angst, Bekümmernis und Aufregung.

Denisow, der aus Unzufriedenheit mit den derzeitigen Zuständen als General den Abschied genommen hatte, war in diesen letzten zwei Wochen zu Besuch gekommen und betrachtete Natascha mit Staunen und Betrübnis, wie man das unähnliche Porträt eines einstmals geliebten Menschen betrachtet. Eine niedergeschlagene, müde Miene, schiefe, unpassende Antworten, Gespräche über die Kinderstube, das war alles, was er von der ehemaligen Zauberin sah und hörte.

Natascha war diese ganze Zeit über traurig und reizbar, namentlich wenn ihre Mutter, ihr Bruder, Sonja oder Gräfin Marja, um sie zu trösten, sich bemühten, Pierre zu entschuldigen und Gründe für sein langes Ausbleiben zu ersinnen.

»Alle seine hohen Ideen, die zu nichts führen, und alle diese törichten Vereine, das sind lauter Dummheiten, lauter Possen«, so sprach Natascha von denselben Dingen, an deren große Wichtigkeit sie doch sonst so fest glaubte.

Und dann ging sie in das Kinderzimmer, um ihr einziges Söhnchen Petja zu nähren. Niemand war imstande ihr soviel Beruhigendes, Vernünftiges zu sagen wie dieses drei Monate alte kleine Wesen, wenn es an ihrer Brust lag und sie die Bewegungen seines Mündchens fühlte und das Schnaufen seines Näschens hörte. Dieses kleine Wesen sagte ihr: »Du bist ärgerlich, du bist eifersüchtig, du möchtest dich an ihm rächen, du ängstigst dich; aber ich hier bin ja er selbst. Ich hier bin er selbst ...« Und darauf war nichts zu erwidern. Das war die Wahrheit, die volle Wahrheit.[421]

Natascha nahm in diesen zwei Wochen der Unruhe so oft ihre Zuflucht zu dem Kleinen, um dort Beruhigung zu finden, und sie machte sich so viel mit ihm zu schaffen, daß sie ihm ein Übermaß von Nahrung gab und er krank wurde. Sie bekam einen großen Schreck über seine Krankheit; gleichzeitig aber war es gerade dies, was sie nötig hatte. Während sie das Kind pflegte, ertrug sie die Unruhe um ihren Mann leichter.

Sie war gerade dabei, den Kleinen zu nähren, als das Geräusch von Pierres Reiseschlitten an der Haustür hörbar wurde und die Kinderfrau, die schon wußte, womit sie ihrer gnädigen Frau eine Freude machen konnte, mit strahlendem Gesicht in die Tür trat.

»Ist er gekommen?« fragte Natascha schnell im Flüsterton; sie scheute sich, eine Bewegung zu machen, um nicht das Kind, das eingeschlafen war, zu wecken.

»Ja, er ist gekommen, Mütterchen«, flüsterte die Kinderfrau.

Das Blut stieg Natascha ins Gesicht, und ihre Füße machten unwillkürlich eine Bewegung; aber aufspringen und weglaufen, das durfte sie nicht. Der Kleine öffnete wieder seine Äuglein und sah sie an. »Da bist du ja«, schien er zu sagen und schmatzte wieder träge mit den Lippen.

Nachdem Natascha ihm sachte die Brust entzogen hatte, schaukelte sie ihn ein wenig hin und her, übergab ihn der Kinderfrau und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Aber an der Tür blieb sie noch einmal stehen, als empfände sie Gewissensbisse darüber, in ihrer Freude das Kind zu schnell verlassen zu haben, und sah sich um. Die Kinderfrau hob gerade mit hochgehobenen Ellbogen das Kind über das Bettgeländer.

»Gehen Sie nur, gehen Sie nur, Mütterchen, seien Sie ganz beruhigt, gehen Sie nur«, flüsterte die Kinderfrau lächelnd mit[422] der Vertraulichkeit, die zwischen ihr und ihrer gnädigen Frau herrschte.

Und Natascha lief mit leichten Schritten nach dem Vorzimmer.

Denisow, der gerade, eine kurze Pfeife rauchend, aus Nikolais Zimmer in den Saal kam, erkannte jetzt zum erstenmal Natascha wieder. Ein helles, glänzendes, freudiges Licht schien sich in Strömen von ihrem verklärten Gesicht zu ergießen.

»Er ist gekommen!« rief sie ihm im Vorbeilaufen zu, und Denisow hatte die Empfindung, daß er selbst über Pierres Ankunft entzückt sei, obwohl er ihn nicht besonders leiden konnte.

Als Natascha in das Vorzimmer hineingestürzt kam, erblickte sie eine hohe Gestalt in einem Pelz, die sich den Gurt abband. »Er ist es, er ist es! Wahrhaftig! Da ist er!« sagte sie bei sich, flog auf ihn zu, umarmte ihn und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Dann hielt sie ihn von sich ab und blickte ihm in das bereifte, rote, glückliche Gesicht. »Ja, er ist es, glücklich und zufrieden ...«

Da fielen ihr plötzlich alle die Qualen des Wartens ein, die sie in den letzten zwei Wochen durchgemacht hatte; die auf ihrem Gesicht strahlende Freude verschwand; sie runzelte die Stirn, und ein Strom von Vorwürfen und bösen Worten ergoß sich über Pierre.

»Ja, dir geht es wohl, du bist höchst vergnügt, du hast dich amüsiert ... Aber wie ist es mir gegangen? Wenn du doch wenigstens mit den Kindern Mitleid hättest; ich nähre, und da ist mir vor Aufregung die Milch verdorben. Petja war todkrank. Aber du bist höchst vergnügt. Ja, du bist vergnügt ...«

Pierre wußte, daß er sich nichts vorzuwerfen hatte, da es ihm nicht möglich gewesen war, früher zu kommen; er wußte, daß dieser Zornesausbruch von ihrer Seite ungehörig war, und wußte, daß er in zwei Minuten vorüber sein werde; und was die Hauptsache war, er wußte, daß er selbst froh und vergnügt[423] war. Er hätte lächeln mögen, wagte aber gar nicht daran zu denken. Er machte ein klägliches, erschrockenes Gesicht und krümmte sich zusammen.

»Ich konnte nicht eher. Wirklich nicht. Aber wie geht es Petja?«

»Jetzt ist es ja leidlich, komm nur. Daß du so gar kein Gewissen hast! Wenn du hättest sehen können, wie es mir ging, als du fort warst, was ich für Pein ausgestanden habe ...«

»Du bist doch gesund?«

»Komm, komm«, sagte sie, ohne seine Hand loszulassen. Und sie gingen in ihre Zimmer.

Als Nikolai und seine Frau kamen, um Pierre aufzusuchen, war er im Kinderzimmer, hielt den Säugling, der aufgewacht war, auf seiner gewaltig großen rechten Hohlhand und tätschelte ihn. Auf dem breiten Gesicht des Kindes mit dem offenstehenden, zahnlosen Mündchen lag ein fröhliches Lächeln. Der Sturm hatte sich schon längst gelegt, und heller, heiterer Sonnenschein glänzte auf dem Gesicht Nataschas, die mit inniger Rührung ihren Mann und ihr Söhnchen betrachtete.

»Und hast du mit dem Fürsten Fjodor alles zu deiner Zufriedenheit besprochen?« fragte Natascha.

»Ja, ganz nach Wunsch.«

»Sieh nur, wie er ihn gerade hält.« (Natascha meinte den Kopf des Kindes.) »Aber einen schönen Schreck hat er mir mit seiner Krankheit eingejagt ... Und hast du die Fürstin gesehen? Ist es wahr, daß sie eine Liebschaft mit diesem (du weißt schon) hat?«

»Ja, kannst du dir das vorstellen ...«

In diesem Augenblick traten Nikolai und Gräfin Marja ins Zimmer. Ohne seinen Sohn aus den Händen zu lassen, beugte Pierre sich nieder, um beide zu küssen, und antwortete auf ihre Fragen. Aber obwohl im Gespräch viele interessante Mitteilungen[424] von der einen und von der andern Seite zu machen waren, war es doch zweifellos, daß das Kind in dem Mützchen, mit dem wackelnden Köpfchen, Pierres ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Wie allerliebst!« sagte Gräfin Marja, indem sie das Kind betrachtete und mit ihm spielte. »Siehst du, das verstehe ich nicht, Nikolai«, wandte sie sich an ihren Mann, »daß du für das Entzückende dieser allerliebsten kleinen Wesen so gar kein Verständnis hast.«

»Ich verstehe es einmal nicht, ich bringe es nicht fertig«, erwiderte Nikolai und sah das Kind mit einem kalten Blick an. »Ein Stück Fleisch, weiter nichts. Komm, Pierre.«

»Die Hauptsache bleibt doch, daß er ein so überaus zärtlicher Vater ist«, sagte Gräfin Marja, um ihren Mann zu entschuldigen, »aber erst, wenn sie schon so ungefähr ein Jahr alt sind ...«

»Nein, Pierre gibt eine vorzügliche Kinderfrau ab«, sagte Natascha. »Er sagt, seine Hand wäre geradezu für das Gesäß eines kleinen Kindes geschaffen. Seht sie nur einmal an.«

»Na, nur nicht allein dazu«, sagte Pierre lachend, faßte das Kind anders und übergab es der Kinderfrau.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 420-425.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon