II

[9] Anna Pawlownas Salon begann sich allmählich zu füllen. Die höchste Noblesse Petersburgs fand sich ein, Menschen, die an Lebensalter und Charakter höchst verschieden waren, aber doch etwas Gleichartiges hatten durch die gesellschaftliche Sphäre, in der sie alle lebten. Da kam die Tochter des Fürsten Wasili, die schöne Helene, die ihren Vater abholen wollte, um mit ihm zusammen zu der Fete des Gesandten zu fahren; sie war in Balltoilette und trug als Abiturientin des Fräuleinstiftes eine Brosche mit dem Namenszug der Kaiserin. Dann kam die als »die reizendste Frau Petersburgs« bekannte, junge, kleine Fürstin Bolkonskaja, die sich im letzten Winter verheiratet hatte und, weil sie sich in anderen Umständen befand, größere Festlichkeiten nicht mehr besuchte, während sie an kleinen Abendgesellschaften noch teilnahm. Es erschien Fürst Ippolit, der Sohn des Fürsten Wasili, zusammen mit dem Vicomte Mortemart, den er vorstellte; auch der Abbé Morio fand sich ein, und viele andere.

»Haben Sie meine liebe Tante noch nicht gesehen, oder sind Sie vielleicht noch gar nicht mit ihr bekannt?« fragte Anna Pawlowna die eintreffenden Gäste und führte sie sehr feierlich zu einer kleinen alten Dame mit einem Kopfputz von hochragenden Bandschleifen, welche, sobald die Gäste begonnen hatten sich einzufinden, aus dem anstoßenden Zimmer[9] zum Vorschein gekommen war. Anna Pawlowna nannte die Namen der einzelnen Gäste, indem sie langsam ihre Augen von dem betreffenden Gast zu der Tante hinüberwandern ließ, und trat darauf ein wenig zurück. Alle Gäste machten die Begrüßungszeremonie mit dieser lieben Tante durch, die niemandem bekannt war, niemanden interessierte und mit niemandem irgendwelche Beziehungen hatte. Anna Pawlowna beaufsichtigte mit wehmütig feierlicher Teilnahme diese Begrüßungen, wobei sie ein beifälliges Stillschweigen beobachtete. Die Tante sprach mit jedem Gast in denselben Ausdrücken von seinem Befinden, von ihrem eigenen Befinden und von dem Befinden Ihrer Majestät, welches heute, Gott sei Dank, besser sei. Alle Gäste, die die Tante begrüßt hatten, traten dann mit einem Gefühl der Erleichterung, wie nach Erfüllung einer schweren Pflicht, höflichkeitshalber jedoch, ohne irgendwelche Eile merken zu lassen, von der alten Dame wieder fort, um nunmehr den ganzen Abend über auch nicht ein einziges Mal mehr zu ihr heranzukommen.

Die junge Fürstin Bolkonskaja hatte sich in einem samtenen, goldgestickten Beutelchen eine Handarbeit mitgebracht. Ihre hübsche Oberlippe mit dem leisen Schatten eines schwärzlichen Schnurrbärtchens war etwas zu kurz für die Zähne; aber um so reizender sah es aus, wenn sie sich öffnete, und noch mehr, wenn sie sich manchmal ausstreckte und zur Unterlippe hinabsenkte. Wie das immer bei hervorragend reizenden Frauen der Fall ist, erschien ihr Mangel, die Kürze der Lippe und der halbgeöffnete Mund, als eine besondere, nur ihr eigene Schönheit. Es war für alle ein herzliches Vergnügen, diese hübsche, von Gesundheit und Lebenslust erfüllte Frau anzusehen, die bald Mutter werden sollte und ihren Zustand so leicht ertrug. Die alten Herren und die blasierten, finsterblickenden jungen Leute hatten die Empfindung, als würden sie selbst ihr ähnlich, wenn[10] sie ein Weilchen in ihrer Nähe geweilt und sich mit ihr unterhalten hatten. Wer mit ihr sprach und bei jedem Wort, das er sagte, ihr strahlendes Lächeln und die glänzend weißen Zähne sah, die fortwährend sichtbar wurden, der konnte glauben, daß er heute ganz besonders liebenswürdig sei. Und das glaubte auch ein jeder.

Die kleine Fürstin ging in schaukelndem Gang, mit kleinen, schnellen Schritten, den Arbeitsbeutel in der Hand, um den Tisch herum, setzte sich auf das Sofa, nicht weit von dem silbernen Samowar, und legte vergnügt ihr Kleid in Ordnung, als ob alles, was sie nur tun mochte, eine Erheiterung für sie selbst und für ihre gesamte Umgebung sei.

»Ich habe mir eine Handarbeit mitgebracht«, sagte sie, sich an alle zugleich wendend, während sie ihren Ridikül auseinanderzog.

»Aber hören Sie mal, Annette«, wandte sie sich an die Wirtin, »solche häßlichen Streiche dürfen Sie mir nicht spielen. Sie haben mir geschrieben, es wäre bei Ihnen nur eine ganz kleine Abendgesellschaft. Und nun sehen Sie, in was für einem Aufzug ich hergekommen bin.«

Sie breitete die Arme auseinander, um ihr elegantes graues, mit Spitzen besetztes Kleid zu zeigen, um welches sich ein wenig unterhalb der Brust an Stelle eines Gürtels ein breites Band schlang.

»Seien Sie unbesorgt, Lisa, Sie sind doch immer die Netteste von allen«, antwortete Anna Pawlowna.

»Sie wissen, daß mein Mann mich verlassen wird«, fuhr sie, zu einem General gewendet, in demselben Ton fort. »Er will sich totschießen lassen. Sagen Sie mir, wozu nur dieser abscheuliche Krieg?« sagte sie zu dem Fürsten Wasili und wandte sich dann, ohne dessen Antwort abzuwarten, zu seiner Tochter, der schönen Helene.[11]

»Was ist diese kleine Fürstin für ein allerliebstes Wesen!« sagte Fürst Wasili leise zu Anna Pawlowna.

Bald nach der kleinen Fürstin trat ein plumpgebauter, dicker junger Mann ein, mit kurzgeschorenem Kopf, einer Brille, hellen Beinkleidern nach der damaligen Mode, hohem Jabot und braunem Frack. Er war ein unehelicher Sohn des Grafen Besuchow, der einst unter der Kaiserin Katharina einer der höchsten Würdenträger gewesen war und jetzt in Moskau im Sterben lag. Dieser dicke junge Mann war noch nie im Staatsdienst tätig gewesen, war soeben erst aus dem Ausland, wo er erzogen worden war, zurückgekehrt und befand sich heute zum erstenmal in Gesellschaft. Anna Pawlowna begrüßte ihn mit derjenigen Art von Verbeugung, mit welcher die auf der hierarchischen Stufenleiter am niedrigsten stehenden Besucher ihres Salons sich zu begnügen hatten. Aber trotz dieses niedrigsten Grades von Begrüßung prägte sich beim Anblick des eintretenden Pierre auf Anna Pawlownas Gesicht eine Unruhe und Furcht aus, wie man sie etwa beim Anblick eines übergroßen Gegenstandes empfindet, der nicht an seinem richtigen Platz ist. Obwohl aber Pierre tatsächlich etwas größer war als die andern im Zimmer befindlichen Männer, so konnte doch diese Furcht nur durch den klugen und zugleich schüchternen, beobachtenden und ungekünstelten Blick seiner Augen veranlaßt sein, durch den er sich von allen anderen in diesem Salon Anwesenden unterschied.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Monsieur Pierre, daß Sie eine arme Patientin besuchen«, sagte Anna Pawlowna zu ihm, indem sie mit der Tante, zu der sie ihn hinführte, einen ängstlichen Blick wechselte. Pierre murmelte etwas Unverständliches und fuhr fort, etwas mit den Augen zu suchen. Mit frohem, vergnügtem Lächeln verbeugte er sich vor der kleinen Fürstin wie vor einer guten Bekannten und trat dann zu der Tante hin.[12] Anna Pawlownas Furcht erwies sich als nicht unbegründet, da Pierre, ohne die Äußerungen der Tante über das Befinden Ihrer Majestät zu Ende zu hören, von ihr wieder zurücktrat. Erschrocken hielt ihn Anna Pawlowna mit den Worten auf: »Sie kennen den Abbé Morio wohl noch nicht? Er ist ein sehr interessanter Mann ...«

»Ja, ich habe von seinem Plan gehört, einen ewigen Frieden herzustellen, und das ist ja auch sehr interessant, aber allerdings schwerlich ausführbar.«

»Meinen Sie?« erwiderte Anna Pawlowna, um nur überhaupt etwas zu sagen und sich dann wieder ihren Aufgaben als Wirtin zuzuwenden; aber Pierre beging nun die andere Unhöflichkeit. Vorher war er von einer Dame weggegangen, ohne das, was sie zu ihm sagte, bis zu Ende anzuhören, und jetzt hielt er eine Dame, die von ihm fortgehen wollte, durch sein Gespräch zurück. Den Kopf herabbiegend, die dicken Beine breit auseinanderstellend, begann er der Hofdame zu beweisen, warum er den Plan des Abbé für eine Schimäre halte.

»Wir wollen das nachher weiter besprechen«, sagte Anna Pawlowna lächelnd.

Damit verließ sie den jungen Mann, der so gar keine Lebensart hatte, und nahm ihre Tätigkeit als Wirtin wieder auf. Sie hörte aufmerksam zu und ließ ihre Augen überall umherschweifen, bereit, an demjenigen Punkt Hilfe zu bringen, wo etwa das Gespräch ermattete. Wie der Herr einer Spinnerei, nachdem er den Arbeitern ihre Pläne angewiesen hat, in seiner ganzen Fabrik umhergeht, und, sobald er merkt, daß eine Spindel stillsteht oder einen ungewöhnlichen, kreischenden, überlauten Ton von sich gibt, eilig hinzutritt und sie anhält oder in richtigen Gang bringt: so wanderte auch Anna Pawlowna in ihrem Salon hin und her, trat hinzu, wo eine Gruppe schwieg oder zu laut redete, und[13] stellte durch ein Wort, das sie hinzugab, oder durch eine Veränderung der Plätze wieder einen gleichmäßigen, anständigen Gang der Gespräche her. Aber mitten in dieser geschäftigen Tätigkeit konnte man ihr immer eine besondere Befürchtung in betreff Pierres anmerken. Besorgt beobachtete sie ihn, als er herantrat, um zu hören, was in der um Mortemart herumstehenden Gruppe geredet wurde, und dann zu einer anderen Gruppe hinging, wo der Abbé das Wort führte. Für Pierre, der im Ausland erzogen worden war, war diese Soiree bei Anna Pawlowna die erste, die er in Rußland mitmachte. Er wußte, daß hier die Vertreter der Intelligenz von ganz Petersburg versammelt waren, und seine Augen liefen, wie die Augen eines Kindes im Spielzeugladen, bald hierhin, bald dorthin. Immer fürchtete er, es möchte ihm irgendein kluges Gespräch entgehen, das er mitanhören könne. Wenn er die selbstbewußten, vornehmen Gesichter der hier Versammelten betrachtete, erwartete er immer etwas besonders Kluges zu hören. Endlich trat er zu Morio. Das Gespräch interessierte ihn, er blieb stehen und wartete auf eine Gelegenheit, seine eigenen Gedanken auszusprechen, wie das junge Leute so gern tun.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 9-14.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon