XV

[191] Als Rostow diesmal vom Urlaub zurückkehrte, kam es ihm zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, wie fest und stark die Bande waren, die ihn mit Denisow und dem ganzen Regiment verknüpften.

Als er sich dem Lagerplatz seines Regiments näherte, machte er ein ähnliches Gefühl durch, wie früher bei der Annäherung an das Haus in der Powarskaja-Straße. Als er den ersten Husaren in der aufgeknöpften Uniform seines Regiments erblickte, als er den rothaarigen Dementjew erkannte, als er die Pfosten mit den daran angebundenen Pferden, lauter Füchsen, sah, als Lawrenti erfreut seinem Herrn zurief: »Der Graf ist gekommen!« und der zottige Denisow, der auf seinem Bett gelegen und geschlafen[191] hatte, aus der Erdhütte herausgelaufen kam und ihn umarmte und die Offiziere den Ankömmling umringten: da hatte Rostow dieselbe Empfindung wie damals, als ihn seine Mutter, sein Vater und seine Schwestern umarmten, und die Freudentränen, die ihm in die Kehle kamen, hinderten ihn zu sprechen. Auch das Regiment war ein Haus, ein unwandelbar liebes, teures Haus, ebenso wie das Haus seiner Eltern.

Nachdem er sich beim Regimentskommandeur gemeldet, die Zuweisung zu seiner früheren Eskadron erhalten, wieder einmal den Dejourdienst und das Furagieren durchgemacht, sich in alle die kleinen Regimentsinteressen hineingefunden und sich von neuem an das Gefühl gewöhnt hatte, der Freiheit beraubt und in einen engen, starren Rahmen eingeschmiedet zu sein, da hatte Rostow dieselbe Empfindung wie unter dem Dach des Elternhauses: ein Gefühl der Beruhigung, ein Gefühl, daß er hier einen festen Stand habe, und das freudige Bewußtsein, hier zu Hause, an dem ihm zukommenden Platz zu sein. Hier war nicht jener ganze Wirrwarr der freien Welt, in dem er nicht seinen richtigen Platz fand und sich bei der Wahl irrte; hier war keine Sonja, der gegenüber man sich aussprechen oder auch nicht aussprechen mußte. Hier kam man nicht in die Lage, zu überlegen, ob man da-und dahin fahren oder nicht fahren solle; hier hatte man nicht die Möglichkeit, den ganzen Tag nach Belieben auf die mannigfaltigste Weise auszufüllen; hier gab es nicht jene zahllosen Menschen, von denen ihm einer gerade so nah und so fern stand wie der andere, nicht jene unklaren, unbestimmten pekuniären Beziehungen zum Vater, nicht die schreckliche Erinnerung an die große Summe, die er im Spiel an Dolochow verloren hatte! Hier beim Regiment war alles klar und einfach. Die ganze Welt zerfiel in zwei ungleiche Teile: der eine Teil war unser Pawlograder Regiment, der andere alles übrige. Und dieses[192] Übrige ging einen nichts an. Im Regiment war einem all und jedes bekannt: wer Leutnant und wer Rittmeister war, wer ein guter und wer ein schlechter Mensch, und vor allen Dingen, wer ein guter und wer ein schlechter Kamerad war. Der Marketender gab Kredit; das Gehalt bekam man alle vier Monate; zu überlegen und zu wählen war nichts; man brauchte nur zu vermeiden, was im Pawlograder Regiment als schlechtes Benehmen angesehen wurde, und, wenn man einen Auftrag bekam, das auszuführen, was klar und deutlich angeordnet und befohlen war; dann war alles gut.

Nachdem Rostow in diese festen Verhältnisse des Regimentslebens von neuem eingetreten war, empfand er eine ähnliche Freude und Beruhigung wie ein Müder, der sich hinlegt, um sich zu erholen. Das Regimentsleben hatte für ihn während dieses Feldzuges insofern noch einen besonderen Reiz, als er nach dem Spielverlust an Dolochow (er konnte sich diesen Fehltritt trotz aller Tröstungen seitens seiner Angehörigen nicht verzeihen) den Vorsatz gefaßt hatte, sich im Dienst nicht so zu verhalten wie früher, sondern, um seine Schuld wiedergutzumachen, musterhaft zu dienen und ein ganz ausgezeichneter Kamerad und Offizier zu sein, das heißt, ein vortrefflicher Mensch, was ihm nur »da draußen« schwer erschien, beim Regiment aber sehr wohl möglich.


Nach mannigfachen Rückmärschen und Vormärschen und den Schlachten bei Pultusk und bei Preußisch-Eylau hatte sich unsere Armee bei Bartenstein konzentriert. Man erwartete die Ankunft des Kaisers beim Heer und den Beginn eines neuen Feldzuges.

Das Pawlograder Regiment, das zu demjenigen Teil der Armee gehörte, welcher im Jahr 1805 im Felde gewesen war, hatte sich in Rußland erst wieder komplettieren müssen und war[193] dadurch für die ersten Kämpfe dieses Feldzuges zu spät gekommen. Es war weder bei Pultusk noch bei Preußisch-Eylau dabeigewesen und war nun, nachdem es sich wieder mit der aktiven Armee vereinigt hatte, für die zweite Hälfte des Feldzugs dem Platowschen Korps zugeteilt worden.

Das Platowsche Korps operierte unabhängig von der übrigen Armee. Einige Male kamen die Pawlograder dazu, an Feuergefechten mit dem Feind sich zu beteiligen; sie machten Gefangene und erbeuteten sogar einmal das Gepäck des Marschalls Oudinot. Im April standen die Pawlograder einige Wochen lang bei einem von Grund aus zerstörten, menschenleeren deutschen Dorf, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Es kamen Tauwetter und Schmutz, auch wieder Kälte. Die Flüsse waren reißend, die Wege unfahrbar geworden; mehrere Tage lang wurde weder Futter für die Pferde noch Proviant für die Mannschaften geliefert. Da die Zufuhr unmöglich war, zerstreuten sich die Leute über die von den Einwohnern verlassenen Dörfer, um Kartoffeln zu suchen; aber auch davon war wenig zu finden.

Alles war aufgezehrt und die Einwohner fast sämtlich geflüchtet; die wenigen zurückgebliebenen waren ärmer als Bettler, und es war ihnen nichts mehr zu nehmen; ja, statt von ihnen etwas zu bekommen, gaben die sonst so wenig zum Mitleid geneigten Soldaten ihnen oft noch das Letzte, was sie selbst hatten.

Das Pawlograder Regiment hatte bei den Gefechten nur einen Abgang von zwei Verwundeten gehabt; aber infolge von Hunger und Krankheiten verlor es fast die Hälfte seines Bestandes. Wer ins Lazarett kam, dem war der Tod so sicher, daß die Soldaten, welche an Fieber oder an Anschwellungen litten, die von der schlechten Nahrung herkamen, lieber den Dienst weiter ertrugen und sich mit übermenschlicher Anstrengung in Reih und Glied[194] fortschleppten, als daß sie ins Lazarett gingen. Seit Anfang des Frühlings fanden die Soldaten häufig eine aus der Erde herauskommende, spargelähnliche Pflanze, die sie aus nicht recht verständlichem Grund süße Marienwurzel nannten; sie zerstreuten sich über die Wiesen und Felder, um diese süße Marienwurzel (die sehr bitter schmeckte) zu suchen, gruben sie mit den Säbeln aus und aßen sie, obwohl der Genuß dieser schädlichen Pflanze verboten war. Im Frühjahr war bei den Soldaten eine neuartige Krankheit aufgetreten, Anschwellungen der Hände, der Füße und des Gesichtes, und die Ärzte betrachteten als die Ursache dieser Krankheit den Genuß jener Wurzel. Aber trotz des Verbots nährten sich die Pawlograder Husaren von Denisows Eskadron hauptsächlich von der süßen Marienwurzel, weil schon seit länger als einer Woche mit dem letzten Zwiebacksvorrat gespart und pro Mann nur noch ein halbes Pfund ausgegeben wurde und die Kartoffeln der letzten Zufuhr teils erfroren, teils ausgewachsen waren.

Auch die Pferde waren seit länger als einer Woche übel daran: sie bekamen nur das Stroh von den Hausdächern zu fressen, waren entsetzlich abgemagert und trugen noch ihr Winterhaar, das sich in Klümpchen zusammenballte.

Trotz dieses argen Elends lebten die Soldaten und die Offiziere genauso wie immer. Wie sonst, so traten die Husaren auch jetzt, wenn auch mit blassen, geschwollenen Gesichtern und in zerrissenen Uniformen, zum Appell an, gingen zum Haarkämmen und -schneiden, säuberten die Pferde und die Ausrüstungsgegenstände, schleppten statt des Futters das Stroh von den Dächern herbei und gingen, um ihr Mittagbrot zu essen, zu den Kesseln, von denen sie hungrig wieder aufstanden, wobei sie über ihre garstige Nahrung und über ihren Hunger noch ihre Späßchen machten. Ebenso wie sonst zündeten sich die Soldaten in ihrer[195] dienstfreien Zeit offene Feuer an, um daran nackt zu schwitzen, rauchten ihre Pfeifen, verlasen die ausgewachsenen, fauligen Kartoffeln, kochten sie und erzählten sich Geschichten von den Potjomkinschen und Suworowschen Feldzügen oder Märchen von dem schlauen Alexei oder von dem Popenknecht Nikolai.

Die Offiziere wohnten wie gewöhnlich zu zweit oder zu dritt in den abgedeckten, halbzerstörten Häusern. Die älteren sorgten für die Beschaffung von Stroh und Kartoffeln, überhaupt für die Lebensbedürfnisse der Mannschaften, die jüngeren vergnügten sich wie immer teils mit Kartenspiel (Geld war in Hülle und Fülle da, wenngleich es an Proviant fehlte), teils mit harmlosen Spielen wie »Ring und Nagel«1 und Knüttelwerfen. Von dem allgemeinen Gang der Dinge wurde nur wenig gesprochen, teils weil man nichts Positives wußte, teils weil man dunkel ahnte, daß der allgemeine Verlauf des Krieges kein günstiger war.

Rostow wohnte wie früher mit Denisow zusammen, und ihr Freundschaftsbund war seit ihrem Urlaub noch enger und inniger geworden. Denisow sprach nie von Rostows Angehörigen; aber aus der geradezu zärtlichen Freundschaft, die der Vorgesetzte ihm, seinem Untergebenen, bewies, ersah Rostow, daß des alten Husaren unglückliche Liebe zu Natascha zu diesem hohen Grad von Zuneigung mitwirkte. Denisow war offenbar bemüht, Rostow möglichst selten Gefahren auszusetzen und ihn nach Kräften zu behüten, und wenn Rostow aus einem Gefecht heil und unversehrt zurückkam, begrüßte er ihn immer mit ganz besonderer Freude. Auf einem Dienstritt fand Rostow in einem verlassenen, zerstörten Dorf, wohin er gekommen war, um[196] Lebensmittel zu suchen, einen alten Polen und dessen Tochter mit einem Säugling. Sie entbehrten der nötigsten Kleider, hungerten, konnten das Haus nicht verlassen und hatten keine Mittel, um fortzufahren. Rostow transportierte sie ins Lager, brachte sie in seinem Quartier unter und sorgte einige Wochen lang, bis der alte Mann sich einigermaßen erholt hatte, für ihren Unterhalt. Da machte sich einmal ein Kamerad Rostows, als von Frauen die Rede war, über Rostow lustig und sagte, der sei doch der schlauste von allen; es wäre aber nur in der Ordnung, wenn er nun auch die Kameraden mit der von ihm geretteten hübschen Polin bekanntmachte. Rostow faßte diesen Scherz als Beleidigung auf, bekam einen roten Kopf unangenehme Dinge, daß Denisow nur mit Mühe ein Duell zwischen den beiden verhindern konnte. Als der Offizier weggegangen war und Denisow, der selbst Rostows Beziehungen zu der Polin nicht kannte, ihm wegen seiner Heftigkeit Vorwürfe machte, da sagte Rostow zu ihm:

»Schilt mich nur aus ... Aber sie ist mir wie eine Schwester, und ich kann dir nicht beschreiben, wie mich das beleidigt hat ... weil ... nun, und deshalb ...«

Denisow schlug ihm auf die Schulter und begann, ohne Rostow anzusehen, mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen, was er in Augenblicken starker Erregung zu tun pflegte.

»Seid ihr Rostows ein närrisches Volk!« sagte er dabei, und Rostow bemerkte Tränen in seinen Augen.

Fußnoten

1 Es kommt darauf an, mit der Spitze eines großköpfigen Nagels in einen auf der Erde liegenden Ring zu treffen.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 191-197.
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