XVIII

[211] Den Korridor weiter entlang führte der Heilgehilfe Rostow zu der Offiziersabteilung, die aus drei Zimmern bestand, deren Verbindungstüren geöffnet waren. In diesen Zimmern waren Betten vorhanden; die verwundeten und kranken Offiziere saßen und lagen darauf. Einige gingen, mit Lazarettschlafröcken bekleidet, in den Zimmern umher. Die erste Person, auf welche Rostow in den Offizierszimmern traf, war ein kleines, mageres Männchen mit nur einem Arm, das in Schlafmütze und Lazarettschlafrock, eine kleine Tabakspfeife zwischen den Zähnen, im ersten Zimmer auf und ab ging. Rostow blickte ihn an und suchte in seinem Gedächtnis nach, wo er ihn wohl schon gesehen habe.

»Nun sehen Sie einmal, an was für einem Ort uns Gott[211] wieder zusammenführt«, sagte der kleine Mann. »Tuschin, Tuschin; erinnern Sie sich? Ich transportierte Sie bei Schöngrabern auf einem Geschütz. Aber mir haben sie ein Stückchen vom Leib abgeschnitten; da!« fügte er lächelnd hinzu und deutete auf den leeren Rockärmel. »Sie suchen Wasili Dmitrijewitsch Denisow; der ist unser Wohnungskamerad!« sagte er, als er hörte, zu wem Rostow wollte. »Hier, hier!« und Tuschin führte ihn in eines der anderen Zimmer, aus welchem das Gelächter mehrerer Personen heraustönte.

»Wie ist es nur möglich, hier zu lachen, ja überhaupt nur zu leben?« dachte Rostow, der immer noch den Leichengeruch zu spüren glaubte, den er in der Soldatenabteilung eingeatmet hatte, und immer noch um sich herum die neidischen Blicke sah, die ihn von beiden Seiten begleiteten, und das Gesicht des jungen Soldaten mit den gebrochenen Augen.

Denisow lag im Bett, mit dem Kopf unter der Decke, und schlief, obgleich es bald zwölf Uhr war.

»Ah, Rostow! Guten Tag, guten Tag!« schrie er mit derselben lauten Stimme wie ehemals beim Regiment; aber Rostow merkte an Denisows Gesichtsausdruck, Tonfärbung und Worten mit Betrübnis, daß sich hinter dieser gewöhnlichen Form der Ungezwungenheit und Lebhaftigkeit neue Gedanken, Gedanken trauriger Art, verbargen.

Seine Wunde war trotz ihrer Geringfügigkeit immer noch nicht verheilt, obgleich schon sechs Wochen vergangen waren, seit er sie empfangen hatte. Sein Gesicht hatte dasselbe blasse, gedunsene Aussehen, wie die Gesichter aller Lazarettinsassen. Aber das überraschte Rostow nicht sonderlich; was ihn betroffen machte, war, daß Denisow sich über seinen Besuch nicht zu freuen schien, und daß das Lächeln, mit dem er ihn ansah, etwas Gezwungenes hatte. Denisow erkundigte sich weder nach dem Regiment noch[212] nach dem allgemeinen Gang der Dinge. Sooft Rostow davon zu sprechen anfing, hörte Denisow nicht zu.

Rostow hatte sogar die Empfindung, daß es Denisow unangenehm war, an das Regiment und überhaupt an jenes andere, freie Leben, das sich außerhalb des Lazaretts abspielte, erinnert zu werden. Es schien, daß er sich bemühte, jenes frühere Leben zu vergessen, und sich nur noch für seine Affäre mit den Proviantbeamten interessierte. Auf Rostows Frage, in welchem Stadium sich die Angelegenheit befinde, zog er sogleich unter seinem Kopfkissen ein Schreiben, das er von der Gerichtskommission erhalten hatte, und das Konzept seiner Antwort darauf hervor. Sowie er seine Antwort vorzulesen begann, wurde er lebhaft und machte Rostow besonders auf die Anzüglichkeiten aufmerksam, die er seinen Feinden darin gesagt hatte. Denisows Lazarettgenossen, die bereits angefangen hatten, sich um Rostow als einen neuen Ankömmling aus der freien Welt zu sammeln, gingen allmählich wieder auseinander, als Denisow sein Schriftstück vorzulesen begann. An ihren Gesichtern merkte Rostow, daß alle diese Herren diese ganze Geschichte bereits zu wiederholten Malen gehört hatten, und daß sie ihnen schon langweilig geworden war. Nur Denisows Bettnachbar, ein dicker Ulan, blieb auf seiner Matratze sitzen und rauchte mit finster zusammengezogenen Augenbrauen seine Pfeife, und auch der kleine, einarmige Tuschin hörte weiter zu und schüttelte ab und zu mißbilligend mit dem Kopf. Mitten im Vorlesen unterbrach der Ulan Denisow.

»Meiner Ansicht nach«, sagte er, zu Rostow gewendet, »müßte er einfach ein Gnadengesuch an den Kaiser einreichen. Es heißt, daß jetzt große Belohnungen verteilt werden sollen, und da würde ihm wahrscheinlich verziehen werden ...«

»Ich soll den Kaiser um Gnade bitten!« rief Denisow mit einer[213] Stimme, der er die frühere Energie und Heftigkeit zu geben suchte, der man aber nur eine nutzlose Gereiztheit anhörte. »Was soll mir denn verziehen werden? Wenn ich ein Räuber wäre, dann würde ich um Gnade bitten; so aber komme ich vor Gericht, weil ich Räuber entlarvt habe. Mögen sie über mich zu Gericht sitzen; ich fürchte mich vor niemand: ich habe dem Zaren und dem Vaterland ehrlich gedient und nicht gestohlen! Und da wollen sie mich degradieren und ... Hör mal, ich werde das ganz unverblümt schreiben; so werde ich schreiben: ›Wenn ich Staatsgut gestohlen hätte wie gewisse andere Leute‹ ...«

»Fein ausgedrückt; das ist nicht zu bestreiten«, sagte Tuschin. »Aber darauf kommt es jetzt nicht an, Wasili Dmitrijewitsch.« Er wandte sich ebenfalls an Rostow. »Man muß sich in der Welt beugen, und das will Wasili Dmitrijewitsch nicht. Der Auditeur hat Ihnen doch gesagt, daß Ihre Sache schlecht steht.«

»Na, meinetwegen kann sie schlecht stehen!« erwiderte Denisow.

»Der Auditeur hat Ihnen doch auch eine Bittschrift verfaßt«, fuhr Tuschin fort; »die brauchen Sie ja nur zu unterschreiben und durch diesen Herrn« (er wies auf Rostow) »abzusenden. Der Herr hat gewiß irgendwelche Verbindungen beim Stab. Eine bessere Gelegenheit können Sie gar nicht finden.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich mich nicht erniedrigen werde«, unterbrach ihn Denisow und fuhr wieder fort, sein Schriftstück vorzulesen.

Rostow wagte nicht, seinem Freund zuzureden, obgleich ihm sein natürliches Gefühl sagte, daß der von Tuschin und dem andern Offizier angeratene Weg der aussichtsreichste sei, und obgleich er sich glücklich geschätzt hätte, wenn er Denisow hätte hilfreich sein können; aber er kannte Denisows unbeugsamen Willen und sein hitziges Rechtsgefühl nur zu gut.

Als Denisow mit dem Vorlesen seiner bissigen Antwort, das[214] über eine Stunde gedauert hatte, fertig war, sagte Rostow darüber kein Wort und verbrachte den übrigen Teil des Tages in trübster Stimmung, in der Gesellschaft der sich wieder um ihn sammelnden Lazarettgenossen Denisows, indem er erzählte, was er wußte, und die Erzählungen der anderen anhörte. Denisow beobachtete die ganze Zeit hindurch ein finsteres Schweigen.

Spät am Abend machte sich Rostow fertig, um wieder wegzureiten, und fragte Denisow, ob er ihm nichts aufzutragen habe.

»Ja, warte«, antwortete dieser, sah sich nach den Offizieren um, holte unter dem Kopfkissen seine Papiere hervor, ging an ein Fensterbrett, auf dem er ein Schreibzeug stehen hatte, und setzte sich nieder, um zu schreiben.

»Ich sehe ein: man kann nicht mit dem Kopf durch die Mauer rennen«, sagte er, als er vom Fenster wieder aufstand, und reichte seinem Freund Rostow einen großen Brief. Es war das von dem Auditeur verfaßte, an den Kaiser gerichtete Bittgesuch, in welchem Denisow, ohne die Vergehungen der Proviantbeamten zu erwähnen, einfach um Gnade bat.

»Überreiche das. Ich sehe ein ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende und lächelte in einer schmerzlich gezwungenen Weise.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 211-215.
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