V

[129] Am Tag nach der Aufnahme in die Loge saß Pierre bei sich zu Hause, las in einem Buch und bemühte sich in den Sinn eines Quadrates einzudringen, bei dem die eine Seite Gott, die zweite das geistige Element, die dritte das leibliche Element und die vierte die Vereinigung der beiden letzteren bedeutete. Ab und zu riß er sich von dem Buch und dem Quadrat los und machte sich in Gedanken einen neuen Lebensplan zurecht. Gestern war ihm in der Loge gesagt worden, ein Gerücht von dem Duell wäre dem Kaiser zu Ohren gekommen, und Pierre würde daher am besten tun, sich aus Petersburg zu entfernen. So hatte denn[129] Pierre den Entschluß gefaßt, auf seine im Süden gelegenen Güter zu gehen und sich dort mit seinen Bauern zu beschäftigen. In freudiger Stimmung dachte er über dieses neue Leben nach, als unerwartet Fürst Wasili ins Zimmer trat.

»Mein Freund, was hast du denn in Moskau angerichtet? Warum hast du dich mit Helene veruneinigt, mein Lieber? Du befindest dich in einem Irrtum«, sagte Fürst Wasili gleich beim Eintritt. »Ich habe alles in Erfahrung gebracht und kann dir ganz zuverlässig sagen, daß Helene dir gegenüber schuldlos ist, wie Christus den Juden gegenüber.«

Pierre wollte antworten; aber der Fürst ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Und warum hast du dich nicht gerade an mich gewendet, wie an einen guten Freund? Ich bin über alles orientiert und habe Verständnis für alles«, sagte er; »du hast dich benommen, wie es sich für einen Mann schickt, der seine Ehre hochhält; vielleicht bist du etwas zu hastig gewesen, aber darüber wollen wir nicht rechten. Mach dir nur das eine klar: in welche Situation bringst du sie und mich in den Augen der ganzen Gesellschaft und« (dies fügte er mit leiserer Stimme hinzu) »sogar des Hofes? Sie wohnt in Moskau und du hier! Überlege doch nur ruhig, mein Lieber« (er ergriff seine Hand und zog sie in seiner wunderlichen Manier nach unten), »hier liegt ein Mißverständnis vor; ich meine, das mußt du selbst fühlen. Schreib gleich mit mir zusammen einen Brief; dann wird sie hierherkommen, und alles wird sich aufklären. Sonst kann, das muß ich dir sagen, die Sache für dich sehr leicht nachteilige Folgen haben, mein lieber Freund.«

Fürst Wasili blickte Pierre ernst und bedeutsam an.

»Ich weiß aus guten Quellen, daß die Kaiserinwitwe an dieser ganzen Angelegenheit lebhaften Anteil nimmt. Du weißt, daß sie gegen Helene sehr gnädig gesinnt ist.«[130]

Pierre hatte schon mehrere Male dazu angesetzt, zu reden; aber einerseits ließ ihn Fürst Wasili nicht dazu kommen, und andererseits hatte Pierre selbst eine gewisse Angst davor, zu seinem Schwiegervater in dem Ton entschiedener Ablehnung und Weigerung zu reden, in welchem zu antworten er doch fest entschlossen war. Außerdem fielen ihm die Worte aus den freimaurerischen Satzungen: »Sei freundlich und liebreich«, ein. Er runzelte die Stirn, errötete, stand auf und setzte sich wieder hin: er kämpfte mit sich selbst, um sich zu dem zu zwingen, was ihm im Leben am allerschwersten wurde: jemandem etwas Unangenehmes ins Gesicht zu sagen, ihm etwas anderes zu sagen, als was der Betreffende erwartete, mochte er sein, wer er wollte. Er war so daran gewöhnt, sich diesem lässigen, selbstbewußten Ton des Fürsten Wasili zu fügen, daß er auch jetzt fürchtete, er werde nicht imstande sein, diesem Ton zu widerstehen; aber er war sich bewußt, daß von dem, was er jetzt sagen werde, sein ganzes weiteres Lebensschicksal abhänge: ob er auf dem alten, bisherigen Weg weiterwandern oder den neuen Weg einschlagen werde, der ihm in so verlockender Weise von den Freimaurern gezeigt war, und auf dem er die Wiedergeburt zu einem neuen Leben bestimmt zu finden hoffte.

»Nun, mein Lieber«, sagte Fürst Wasili scherzend, »du brauchst bloß ja zu mir zu sagen, dann schreibe ich selbst an sie, und wir schlachten ein gemästetes Kalb.«

Aber Fürst Wasili hatte seine scherzhafte Wendung kaum völlig ausgesprochen, als Pierre mit einer Wut im Gesicht, die an seinen Vater erinnerte, ohne dem Fürsten in die Augen zu sehen, flüsternd sagte:

»Fürst, ich habe Sie nicht aufgefordert, zu mir zu kommen; gehen Sie, bitte, gehen Sie!« Er sprang auf und öffnete ihm die Tür. »Gehen Sie!« wiederholte er; er traute sich selbst nicht und[131] war erfreut über den Ausdruck von Verwirrung und Angst, der auf dem Gesicht des Fürsten Wasili sichtbar wurde.

»Was hast du? Bist du krank?«

»Gehen Sie!« sagte Pierre noch einmal mit zitternder Stimme. Und Fürst Wasili sah sich genötigt wegzugehen, ohne irgendwelche Erklärung empfangen zu haben.

Acht Tage darauf fuhr Pierre, nachdem er von seinen neuen Freunden, den Freimaurern, Abschied genommen und ihnen eine größere Geldsumme als Almosen zurückgelassen hatte, auf seine Güter. Seine neuen Brüder gaben ihm Briefe nach Kiew und Odessa an die dortigen Freimaurer mit und versprachen ihm, an ihn zu schreiben und ihn in seiner neuen Tätigkeit zu leiten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 129-132.
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