VIII

[141] Der Krieg war entbrannt, und der Schauplatz desselben näherte sich den russischen Grenzen. Überall hörte man Verwünschungen gegen Bonaparte, den Feind des Menschengeschlechts,[141] ausstoßen; in den Dörfern wurden die Landwehrleute und Rekruten zusammenberufen, und vom Kriegsschauplatz kamen einander widersprechende Nachrichten, die unwahr waren, wie immer, und daher auf die mannigfachste Weise gedeutet wurden.

Das Leben des alten Fürsten Bolkonski, des Fürsten Andrei und der Prinzessin Marja hatte sich seit dem Jahr 1805 in vieler Hinsicht geändert.

Im Jahr 1806 war dem alten Fürsten die Stelle eines Oberkommandierenden der Landwehr übertragen worden, wie solcher Stellen in ganz Rußland acht eingerichtet worden waren. Trotz seiner Altersschwäche, die sich namentlich damals fühlbar gemacht hatte, als er seinen Sohn tot glaubte, hielt sich der alte Fürst nicht für berechtigt, ein Amt abzulehnen, zu dem er durch den Kaiser selbst ernannt worden war, und diese neue Tätigkeit, die sich ihm darbot, diente zu seiner Belebung und Kräftigung. Er war beständig auf Reisen in den drei ihm übertragenen Gouvernements, bewies eine fast pedantische Genauigkeit in der Erfüllung seiner Pflichten, war streng bis zur Grausamkeit gegen seine Untergebenen und kümmerte sich persönlich um die kleinsten Einzelheiten in seinem Amtsbereich. Prinzessin Marja hatte jetzt keine Mathematikstunden mehr bei ihrem Vater; sie kam zwar auch jetzt morgens in sein Zimmer, wenn er zu Hause war, aber in Begleitung der Amme, mit dem kleinen Fürsten Nikolai, wie ihn der Großvater nannte. Der Säugling Fürst Nikolai wohnte mit der Amme und der Kinderfrau Sawischna in den Zimmern der verstorbenen Fürstin, und die Prinzessin Marja verbrachte den größten Teil des Tages in der Kinderstube und suchte, so gut sie es verstand, ihrem kleinen Neffen die Mutter zu ersetzen. Mademoiselle Bourienne liebte, wie es schien, den Knaben ebenfalls leidenschaftlich, und Prinzessin Marja überließ[142] oft, obwohl sie dabei sich selbst beraubte, ihrer Freundin den Genuß, den kleinen Engel, wie sie ihren Neffen nannte, zu warten und mit ihm zu spielen.

In der Kirche von Lysyje-Gory war neben dem Allerheiligsten über der Gruft der kleinen Fürstin eine Kapelle errichtet und in der Kapelle ein in Italien gearbeitetes Marmordenkmal aufgestellt, welches einen Engel darstellte, der seine Flügel auseinanderbreitet und sich anschickt, sich zum Himmel zu erheben. Bei dem Engel war die Oberlippe ein wenig hinaufgezogen, wie wenn er lächeln wollte, und als eines Tages Fürst Andrei und Prinzessin Marja aus der Kapelle herauskamen, gestanden sie einer dem andern, daß das Gesicht dieses Engels sie seltsam an das Gesicht der Verstorbenen erinnerte. Aber was noch seltsamer scheinen konnte, und was Fürst Andrei seiner Schwester nicht sagte, das war, daß in dem Ausdruck, den der Künstler dem Gesicht des Engels zufällig gegeben hatte, Fürst Andrei dieselben sanft vorwurfsvollen Worte zu lesen glaubte, die er damals auf dem Gesicht seiner toten Frau gelesen hatte: »Ach, warum habt ihr das mit mir gemacht ...?«

Bald nach der Rückkehr des Fürsten Andrei hatte der alte Fürst seinem Sohn einen Teil des Familienbesitzes als Eigentum zugewiesen: er hatte ihm das große Gut Bogutscharowo gegeben, das etwa vierzig Werst von Lysyje-Gory entfernt lag. Teils wegen der schmerzlichen Erinnerungen, die sich für ihn an Lysyje-Gory knüpften, teils weil Fürst Andrei sich nicht immer imstande fühlte, das eigenartige Wesen seines Vaters zu ertragen, teils auch, weil es ihm ein Bedürfnis war, allein zu sein, benutzte Fürst Andrei Bogutscharowo es als eigentlichen Wohnort, fing dort an zu bauen und verbrachte dort seine meiste Zeit.

Fürst Andrei hatte sich nach der Schlacht bei Austerlitz fest vorgenommen, nie wieder beim Militär zu dienen; als nun der neue[143] Krieg begann und alle eintreten mußten, übernahm er, um vom aktiven Dienst freizukommen, unter seinem Vater als Vorgesetztem eine dienstliche Tätigkeit bei der Einberufung der Landwehr. Der alte Fürst und sein Sohn hatten nach dem Feldzug von 1805 gleichsam miteinander die Rollen vertauscht. Der alte Fürst, durch seine Beschäftigung neu belebt, erwartete von dem jetzigen Feldzug alles Gute; Fürst Andrei dagegen, der an dem Krieg nicht teilnahm und das in der geheimsten Tiefe seiner Seele bedauerte, sah nur Schlimmes voraus.

Am 26. Februar 1807 hatte der alte Fürst eine Dienstreise durch seinen Distrikt angetreten; Fürst Andrei war, wie meist, wenn sein Vater abwesend war, in Lysyje-Gory geblieben. Der kleine Nikolai war schon seit drei Tagen krank. Die Kutscher, die den alten Fürsten gefahren hatten, waren aus der Stadt zurückgekehrt und hatten Briefe und dienstliche Papiere für den Fürsten Andrei mitgebracht.

Da der Kammerdiener mit den Briefen den jungen Fürsten nicht in seinem Zimmer gefunden hatte, so ging er nach den Räumen der Prinzessin Marja; aber auch dort war er nicht. Es wurde dem Kammerdiener gesagt, der Fürst sei in die Kinderstube gegangen.

»Petja ist mit Papieren gekommen; wenn Euer Durchlaucht sie vielleicht in Empfang nehmen wollen ...«, sagte eines der Mädchen, die der Kinderfrau zur Hand gingen, zu dem Fürsten Andrei, der mit finsterem Gesicht auf einem kleinen Kinderstuhl saß und mit zitternden Händen Tropfen aus einem Arzneifläschchen in ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas tat.

»Was gibt es?« fragte er ärgerlich, und unvorsichtig mit der Hand zuckend, tat er aus dem Fläschchen zu viel Tropfen in das Glas. Er schüttete das Wasser mit der Arznei aus dem Glas auf den Fußboden und verlangte anderes Wasser. Das Mädchen reichte es ihm.[144]

In dem Zimmer stand das Kinderbett, zwei Truhen, zwei Lehnstühle, ein Tisch, ein Kindertisch und ein Kinderstuhl, eben der, auf welchem Fürst Andrei saß. Die Fenster waren verhängt, und auf dem Tisch brannte eine einzige Kerze, vor die ein gebundenes Notenheft gestellt war, so daß der Schein nicht auf das Bettchen fiel.

»Lieber Andrei«, sagte Prinzessin Marja von dem Bettchen her, neben dem sie stand. »Es wäre doch besser, noch zu warten ... Nachher ...«

»Ach, tu mir den Gefallen und rede nicht immer Dummheiten. Du hast so schon immer zu lange gewartet; da siehst du nun, was beim Warten herauskommt«, antwortete Fürst Andrei ärgerlich flüsternd; er legte es offenbar darauf an, seine Schwester zu kränken.

»Lieber Andrei, es ist wirklich besser, ihn nicht aufzuwecken; er ist eingeschlafen«, sagte die Prinzessin in flehendem Ton.

Fürst Andrei stand auf und näherte sich auf den Zehen, mit dem Glas in der Hand, dem Bettchen.

»Oder sollen wir ihn doch nicht wecken?« sagte er unschlüssig.

»Wie du willst ... wirklich ... ich meine ... aber wie du willst«, antwortete Prinzessin Marja ganz verlegen; es war ihr offenbar peinlich, daß ihre Meinung den Ausschlag geben sollte. Sie machte ihren Bruder durch eine Handbewegung auf das Mädchen aufmerksam, das ihn flüsternd hinausrief.

Es war die zweite Nacht, wo sie beide, mit der Pflege des fiebernden Kindes beschäftigt, nicht geschlafen hatten. Diese ganze Zeit über hatten sie, da sie zu ihrem Hausarzt kein Vertrauen hatten und der aus der Stadt herbeigerufene Doktor noch nicht gekommen war, bald dieses, bald jenes Mittel versucht. Erschöpft von Schlaflosigkeit und von Unruhe gequält,[145] legten sie ihr Leid einer dem andern zur Last, machten sich gegenseitig Vorwürfe und veruneinigten sich.

»Petja ist da mit Briefschaften von dem Herrn Vater«, flüsterte das Mädchen.

Fürst Andrei ging hinaus.

»Was soll ich jetzt damit! Hol's der Teufel!« brummte er vor sich hin. Er hörte an, was der Vater ihm mündlich bestellen ließ, nahm die ihm überreichten Papiere und Briefe, darunter auch einen Brief seines Vaters, entgegen und kehrte in die Kinderstube zurück.

»Nun, wie ist's?« fragte Fürst Andrei.

»Immer unverändert; warte doch noch, um Gottes willen. Karl Iwanowitsch sagt immer, Schlaf wäre das beste Mittel«, flüsterte Prinzessin Marja seufzend.

Fürst Andrei trat zu dem Kind und befühlte es. Es glühte.

»Bleibt mir mit eurem Karl Iwanowitsch vom Leib!« Er nahm das Glas, in das er die Tropfen hineingetan hatte, und kam wieder heran.

»Andrei, tu's nicht!« flehte Prinzessin Marja.

Aber er machte ein finsteres Gesicht, auf welchem Ärger und schweres Leid zugleich zum Ausdruck kamen, und beugte sich mit dem Glas zu dem Kind herunter.

»Doch! Ich will es«, sagte er. »Bitte, gib du es ihm.«

Prinzessin Marja zuckte mit den Achseln, nahm aber gehorsam das Glas, rief die Kinderfrau herzu und begann dem Kind die Arznei einzugeben. Das Kind schrie und röchelte. Fürst Andrei runzelte die Stirn, griff sich an den Kopf, ging aus dem Zimmer und setzte sich im Nebenzimmer auf das Sofa.

Die Briefe hielt er immer noch in der Hand. Mechanisch öffnete er den von seinem Vater und fing an zu lesen. Der alte Fürst schrieb auf blauem Papier mit seiner großen, länglichen Handschrift,[146] unter gelegentlicher Verwendung von Abkürzungen, folgendes:

»Eine in diesem Augenblick sehr erfreuliche Nachricht habe ich durch einen Kurier erhalten, wenn es keine Lüge ist. Bennigsen hat, wie es heißt, bei Eylau über Bonaparte eine vollständige Viktoria davongetragen. In Petersburg jubelt alles, und eine Unmenge von Belohnungen sind an das Heer abgegangen. Wenn der Sieger auch ein Deutscher ist, so freue ich mich doch. Was der Bezirkskommandeur von Kortschewa, ein gewisser Chandrikow, macht, ist mir ganz unverständlich. Bis jetzt sind weder die Ergänzungsmannschaften noch der Proviant von dort eingetroffen. Fahre sofort hin und sage ihm, ich würde ihn einen Kopf kürzer machen lassen, wenn nicht binnen einer Woche alles zur Stelle ist. Über die Schlacht bei Preußisch-Eylau erhalte ich in diesem Augenblick noch einen Brief von Petjenka; er hat daran teilgenommen; es ist alles wahr. Wenn sich nicht Leute einmischen, die sich nicht einzumischen haben, dann schlägt diesen Bonaparte sogar ein Deutscher. Es heißt, daß die Franzosen in starker Auflösung fliehen. Hörst du wohl, fahre unverzüglich nach Kortschewa und richte meinen Auftrag aus!«

Fürst Andrei seufzte und erbrach ein anderes Kuvert. Es war ein Brief von Bilibin, zwei Bogen in kleiner Schrift. Er legte ihn, ohne ihn gelesen zu haben, wieder zusammen und las noch einmal das Schreiben seines Vaters durch, das mit den Worten schloß: »Fahre unverzüglich nach Kortschewa und richte meinen Auftrag aus!«

»Nein, entschuldigen Sie, jetzt fahre ich nicht eher, als bis es mit dem Kind besser geworden ist«, dachte er, trat an die Tür und blickte in die Kinderstube hinein.

Prinzessin Marja stand noch immer am Bett und schaukelte das Kind leise.[147]

»Ja, warte mal«, sagte Fürst Andrei zu sich selbst, indem er sich den Inhalt des väterlichen Briefes ins Gedächtnis zurückrief, »er hatte doch noch etwas Unangenehmes geschrieben; was war es doch? Ja, daß die Unsrigen über Bonaparte gerade jetzt gesiegt haben, wo ich nicht bei der Armee bin. Ja, ja, er neckt mich immer. Na, mag er ...« Dann begann er Bilibins französischen Brief zu lesen. Er verstand kaum die Hälfte davon und las nur, um wenigstens für ein Weilchen nicht an das denken zu müssen, was schon so lange den ausschließlichen Gegenstand seiner quälenden Gedanken gebildet hatte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 141-148.
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