XXI

[360] Seit jenem ersten Abend, an dem Natascha nach Pierres Weggang mit vergnügtem, etwas spöttischem Lächeln zu Prinzessin Marja gesagt hatte, er sehe ganz aus, wie wenn er aus dem Bad käme, und eine Bemerkung über seinen kurzen Oberrock und sein kurzgeschnittenes Haar gemacht hatte, seit diesem Augenblick war etwas bis dahin Verborgenes und ihr selbst Unbekanntes, aber Unüberwindliches in Nataschas Seele erwacht.

Alles: ihr Gesicht, ihr Gang, ihr Blick, ihre Stimme, alles hatte sich auf einmal an ihr verändert. Eine ihr selbst unerwartete Lebenskraft und frohe Hoffnungen auf Glück waren emporgetaucht und verlangten befriedigt zu werden. Seit dem ersten Abend schien Natascha alles vergessen zu haben, was sie bekümmert hatte. Sie hatte seitdem nicht ein einziges Mal mehr über ihren Zustand geklagt, kein Wort mehr über die Vergangenheit gesagt und scheute sich nicht mehr, heitere Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Sie redete wenig von Pierre; aber sobald Prinzessin Marja seiner Erwähnung tat, flammte ein längst erloschener Glanz in ihren Augen auf und ein eigenartiges Lächeln spielte um ihre Lippen.

Die Veränderung, die mit Natascha vorgegangen war, hatte anfangs Prinzessin Marja in Erstaunen versetzt; aber als sie die Bedeutung derselben erkannt hatte, fühlte sie sich durch diese Veränderung gekränkt. »Hat sie meinen Bruder wirklich so wenig geliebt, daß sie ihn so schnell hat vergessen können?« dachte Prinzessin Marja, wenn sie für sich allein über die eingetretene Veränderung nachdachte. Aber sobald sie mit Natascha zusammen war, zürnte sie ihr nicht und machte ihr keine Vorwürfe. Die neuerwachte Lebenskraft, die Nataschas Wesen erfüllte, war offenbar[361] so wenig einzudämmen und war ihr selbst so unerwartet gekommen, daß Prinzessin Marja in Nataschas Gegenwart die Empfindung hatte, sie sei nicht berechtigt, ihr Vorwürfe zu machen, auch nicht einmal in Gedanken.

Natascha überließ sich so völlig und mit solcher Offenherzigkeit diesem neuen Gefühl, daß sie gar kein Hehl daraus machte, daß sie jetzt nicht traurig, sondern freudig und heiter gestimmt sei.

Als Prinzessin Marja nach der nächtlichen Aussprache mit Pierre zum Schlafzimmer kam, hatte Natascha sie an der Schwelle erwartet.

»Hat er gesprochen? Ja? Hat er gesprochen?« fragte sie einmal über das andere.

Auf Nataschas Gesicht lag ein freudiger und zugleich rührender Ausdruck, der wegen ihrer Freude um Verzeihung bat.

»Ich wollte an der Tür horchen; aber ich wußte ja, daß du es mir sagen würdest.«

Wie verständlich und rührend auch für Prinzessin Marja der Blick war, mit dem Natascha sie ansah, und wie leid es ihr auch tat, sie in solcher Aufregung zu sehen, so hatten doch Nataschas Worte im ersten Augenblick für Prinzessin Marja etwas Verletzendes. Sie dachte an ihren Bruder und seine Liebe.

»Aber was ist zu tun? Sie kann nicht anders«, sagte sich Prinzessin Marja.

Und mit trauriger, etwas strenger Miene teilte sie Natascha alles mit, was Pierre ihr gesagt hatte. Als Natascha hörte, daß er vorhabe nach Petersburg zu reisen, war sie darüber erstaunt.

»Nach Petersburg!« rief sie, als könnte sie das gar nicht verstehen.

Aber als sie den traurigen Gesichtsausdruck der Prinzessin Marja sah, erriet sie den Grund ihrer Betrübnis und brach plötzlich in Tränen aus.[362]

»Marja«, sagte sie, »unterweise mich, was ich tun soll; ich möchte nicht schlecht sein. Was du mir sagen wirst, das werde ich tun; unterweise mich ...«

»Liebst du ihn?«

»Ja«, flüsterte Natascha.

»Worüber weinst du denn? Ich nehme an deinem Glück von Herzen teil«, sagte Prinzessin Marja, die um dieser Tränen willen ihrer Freundin schon ihre Freude ganz verziehen hatte.

»Es wird nicht so bald geschehen, erst später. Denke nur, welches Glück, wenn ich seine Frau sein werde und du Nikolai heiratest!«

»Natascha, ich habe dich schon früher gebeten, davon nicht zu reden. Wir wollen von dir sprechen.«

Beide schwiegen eine kleine Weile.

»Aber warum fährt er denn nur nach Petersburg?« sagte Natascha auf einmal und gab sich schnell selbst die Antwort darauf: »Gewiß, gewiß, es wird so sein müssen ... Nicht wahr, Marja? Es muß so sein ...«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 360-363.
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