III

[14] Unterdessen hatte sich der russische Kaiser schon über einen Monat lang in Wilna aufgehalten, Truppenschauen abgehalten und Manöver veranstaltet. Noch war nichts für den Krieg bereit, den doch alle erwarteten und zu dessen Vorbereitung der Kaiser aus Petersburg gekommen war. Ein allgemeiner Operationsplan war nicht vorhanden. Das Schwanken, welcher von all den vorgeschlagenen Plänen denn nun angenommen werden sollte, war nach der einmonatigen Anwesenheit des Kaisers im Hauptquartier nur noch ärger geworden. Von den drei Armeen hatte eine jede ihren besonderen Oberkommandierenden; aber einen gemeinsamen Oberfeldherrn für alle Armeen gab es nicht, und der Kaiser selbst wollte diese Stellung nicht übernehmen.

Je länger der Kaiser in Wilna verweilte, um so weniger bereitete man sich auf den Krieg vor, den zu erwarten man schon müde geworden war. Alle Bemühungen der Personen, die den Kaiser umgaben, schienen lediglich darauf gerichtet zu sein, dem Kaiser einen angenehmen Zeitvertreib zu verschaffen, damit er den bevorstehenden Krieg vergäße.

Nach vielen Bällen und anderen Festlichkeiten, die bei den polnischen Magnaten, bei den Herren vom Hoflager und beim Kaiser selbst stattgefunden hatten, kam im Juni einer der polnischen Generaladjutanten auf den Gedanken, die Gesamtheit[14] der Generaladjutanten solle dem Kaiser ein Diner und einen Ball geben. Dieser Gedanke fand bei allen freudige Aufnahme. Der Kaiser erklärte seine Einwilligung. Die Generaladjutanten brachten durch Subskription das erforderliche Geld zusammen. Eine Dame, von der sich annehmen ließ, daß sie dem Kaiser besonders angenehm sein werde, wurde aufgefordert, auf dem Ball die Obliegenheiten der Wirtin zu übernehmen. Graf Bennigsen, der im Gouvernement Wilna begütert war, bot sein vor der Stadt gelegenes Landhaus für dieses Fest an, und so wurde denn auf den 12. Juni Diner, Ball, Gondelfahrt und Feuerwerk in Sakret, dem Landsitz des Grafen Bennigsen, angesetzt.

An eben dem Tag, an welchem Napoleon Befehl zum Übergang über den Niemen gab und seine Vorhut die russische Grenze überschritt und die Kosaken zurückdrängte, brachte Alexander den Abend in dem Landhaus des Grafen Bennigsen zu, auf dem Ball, den ihm seine Generaladjutanten gaben.

Es war ein heiteres, glänzendes Fest; Sachkundige versicherten, es seien selten so viele schöne Frauen auf einem Platz versammelt gewesen. Unter den russischen Damen, die dem Kaiser von Petersburg nach Wilna gefolgt waren und an diesem Ball teilnahmen, befand sich auch die Gräfin Besuchowa, die durch ihre üppige (man nannte dies: russische) Schönheit die schlanken polnischen Damen in den Schatten stellte. Sie erregte Aufmerksamkeit, und der Kaiser würdigte sie eines Tanzes.

Boris Drubezkoi war gleichfalls auf diesem Ball, als Garçon, wie er sich ausdrückte, da er seine Frau in Moskau gelassen hatte; obgleich er nicht die Stelle eines Generaladjutanten bekleidete, hatte er sich doch mit einer beträchtlichen Geldsumme an der Subskription für den Ball beteiligt. Boris war jetzt ein reicher Mann, der in der allgemeinen Wertschätzung einen hohen Platz[15] einnahm und nicht mehr Protektion suchte, sondern mit den vornehmsten seiner Kameraden auf gleichem Fuß verkehrte. Er hatte Helene, nachdem er sie lange Zeit nicht gesehen hatte, hier in Wilna wiedergetroffen und das Vergangene nicht erwähnt; aber da Helene sich der Gunst einer sehr hohen Persönlichkeit erfreute und Boris sich unlängst verheiratet hatte, so verkehrten sie miteinander wie ein Paar alte, gute Freunde.

Um Mitternacht wurde noch getanzt. Helene, die keinen ihrer würdigen Kavalier gefunden hatte, forderte selbst Boris zur Mazurka auf. Sie saßen als drittes Paar da. Boris betrachtete kaltblütig Helenes glänzende, nackte Schultern, die sich aus dem dunklen, von Goldfäden durchzogenen Gazekleid heraushoben, erzählte Geschichtchen von alten Bekannten und hörte dabei, ohne daß er sich dessen selbst bewußt geworden wäre und ohne daß andere es merkten, keine Sekunde lang auf, den in demselben Saal anwesenden Kaiser zu beobachten. Der Kaiser tanzte nicht; er stand an der Tür und hielt bald diesen, bald jenen mit ein paar freundlichen Worten an, wie nur er sie zu sprechen verstand.

Als die Mazurka begann, sah Boris, daß der Generaladjutant Balaschow, einer der Vertrauten des Kaisers, zu ihm herantrat und wider die Hofetikette in der Nähe des Kaisers stehenblieb, der mit einer polnischen Dame im Gespräch begriffen war. Nachdem er noch eine kleine Weile mit der Dame gesprochen hatte, richtete der Kaiser einen fragenden Blick auf Balaschow, und da er offenbar merkte, daß dieser nur aus wichtigem Grund so handelte, so nickte er der Dame leicht zu und wandte sich zu ihm. Kaum hatte Balaschow angefangen zu reden, als sich Erstaunen auf dem Gesicht des Kaisers malte. Er faßte Balaschow unter den Arm und ging mit ihm quer durch den Saal, wobei er, ohne es zu beachten, einen etwa neun Schritte breiten[16] freien Weg herstellte, indem die Anwesenden vor ihm nach beiden Seiten zurücktraten. Dem achtsamen Boris fiel es auf, was Araktschejew für ein aufgeregtes Gesicht machte, als der Kaiser mit Balaschow durch den Saal ging. Nach dem Kaiser hinschielend und laut durch seine rote Nase schnaufend, drängte sich Araktschejew durch die Menge, als ob er erwartete, daß der Kaiser sich zu ihm wenden werde. Boris durchschaute es, daß Araktschejew auf Balaschow neidisch war und sich darüber ärgerte, daß irgendeine, augenscheinlich wichtige Nachricht durch einen andern als durch ihn selbst dem Kaiser überbracht wurde.

Aber der Kaiser ging mit Balaschow vorüber, ohne Araktschejew zu bemerken, und begab sich durch die Ausgangstür in den illuminierten Garten. Araktschejew, den Degen mit der Hand haltend und zornig um sich blickend, ging in einer Entfernung von zwanzig Schritten hinter ihnen her.

Während Boris fortfuhr, die einzelnen Touren der Mazurka auszuführen, quälte ihn unablässig der Gedanke, was für eine Neuigkeit Balaschow wohl gebracht haben möge, und auf welche Weise er selbst sie früher als andere erfahren könne.

In einer Tour, wo er eine Dame zu wählen hatte, flüsterte er seiner Tänzerin Helene zu, er wolle die Gräfin Potocka holen, die ja wohl nach der Veranda hinausgegangen sei, und über das Parkett hingleitend, lief er bis in die nach dem Garten führende Tür; als er dort den Kaiser gewahrte, der mit Balaschow, auf dem Rückweg in den Saal begriffen, auf die Terrasse kam, blieb er stehen. Der Kaiser näherte sich mit Balaschow der Tür. Boris drückte sich eilig, als wenn er nicht mehr Zeit habe sich zu entfernen, an den Türpfosten und neigte ehrerbietig den Kopf.

Der Kaiser, der mit der Erregung eines persönlich Beleidigten sprach, beendete das Gespräch mit folgenden Worten:

»Ohne Kriegserklärung in Rußland einzurücken! Ich werde erst[17] dann Frieden schließen, wenn kein bewaffneter Feind mehr auf meinem Boden steht.«

Boris hatte den Eindruck, daß es dem Kaiser Vergnügen machte, diese Worte auszusprechen: er war zufrieden mit der Form, die er gefunden hatte, um seinen Gedanken auszudrücken; aber er war unzufrieden darüber, daß Boris diese Worte gehört hatte.

»Es darf niemand davon wissen!« fügte der Kaiser mit zusammengezogenen Brauen hinzu.

Boris verstand, daß sich diese Bemerkung auf ihn bezog; er schloß die Augen und neigte leicht den Kopf. Der Kaiser ging wieder in den Saal und verweilte noch ungefähr eine halbe Stunde auf dem Ball.

Boris war der erste, der die Nachricht von dem Übergang der französischen Truppen über den Niemen gehört hatte, und er verdankte diesem Umstand die Möglichkeit, einigen hochgestellten Personen zu zeigen, daß ihm vieles bekannt werde, was anderen verborgen bleibe; so gelang es ihm, in der Meinung dieser Personen noch höher zu steigen.


Die Nachricht von dem Übergang der Franzosen über den Niemen wirkte nach einem Monat vergeblichen Wartens ganz besonders überraschend, und diese Wirkung wurde noch dadurch gesteigert, daß die Nachricht gerade auf einem Ball eintraf. Der Kaiser hatte im ersten Augenblick nach Empfang dieser Nachricht, in dem frischen Gefühl der Empörung über die ihm zugefügte Beleidigung, jenen nachher berühmt gewordenen Ausdruck gefunden, der ihm selbst sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Als er vom Ball nach Hause zurückgekehrt war, ließ der Kaiser um zwei Uhr nachts den Staatssekretär Schischkow[18] holen und befahl ihm, einen Befehl an die Truppen und einen Erlaß an den Feldmarschall Fürsten Saltykow aufzusetzen; in diesem Erlaß sollten (das forderte der Kaiser unbedingt) die Worte angebracht werden, er werde nicht Frieden schließen, solange auch nur noch ein bewaffneter Franzose auf russischem Boden stehe.

Am andern Tag wurde folgender Brief an Napoleon geschrieben:


»Mein Herr Bruder! Ich habe gestern erfahren, daß trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der ich meine Verpflichtungen Euer Majestät gegenüber erfüllt habe, Ihre Truppen die Grenzen Rußlands überschritten haben, und empfange soeben aus Petersburg eine Note, in welcher Graf Lauriston mir als Grund dieses Angriffs angibt, Euer Majestät hätten sich seit dem Augenblick, wo Fürst Kurakin seine Pässe verlangt habe, als im Kriegszustand mit mir befindlich betrachtet. Die Gründe, auf welche der Herzog von Bassano seine Weigerung, sie ihm auszuliefern, gestützt hat, hätten mich niemals zu der Annahme kommen lassen, daß dieser Schritt meines Gesandten jemals zum Vorwand eines Angriffs dienen könnte. In der Tat ist dieser Gesandte, wie er das auch selbst erklärt hat, niemals dazu ermächtigt worden, und sobald ich davon Kenntnis erlangt hatte, habe ich ihn unverzüglich wissen lassen, wie sehr ich sein Verhalten mißbilligte, und ihm befohlen, auf seinem Posten zu bleiben. Wenn Euer Majestät nicht die Absicht haben, das Blut unserer Völker wegen eines derartigen Mißverständnisses zu vergießen, und einwilligen, Ihre Truppen aus dem russischen Gebiet zurückzuziehen, so werde ich das Vorgefallene als ungeschehen betrachten, und es wird noch eine Verständigung zwischen uns möglich sein. Im entgegengesetzten Fall, Euer Majestät, werde ich mich gezwungen[19] sehen, einen Angriff zurückzuweisen, der meinerseits durch nichts provoziert worden ist. Noch hängt es von Euer Majestät ab, der Menschheit die Leiden eines neuen Krieges zu ersparen.

Ich bin usw.

(gez.) Alexander.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 14-20.
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