XI

[69] Am dritten Weihnachtstag aß Nikolai zu Hause Mittag, was er in der letzten Zeit nur selten getan hatte. Es war dies eine Art von offiziellem Abschiedsdiner, da er mit Denisow gleich nach dem Epiphaniasfest zum Regiment abreisen sollte. An dem Diner nahmen gegen zwanzig Personen teil, darunter Dolochow und Denisow.

Niemals hatte sich im Rostowschen Haus die Liebeslust und die Atmosphäre der Verliebtheit so stark fühlbar gemacht wie in diesen Feiertagen. »Ergreife den Augenblick des Glückes; mache andere in dich verliebt, und verliebe dich selbst! Das ist das einzig Wahre in der Welt; alles übrige ist Torheit. Und das ist das einzige, womit wir uns hier beschäftigen«, sagte diese Atmosphäre gleichsam.

Nachdem Nikolai, wie gewöhnlich, zwei Paar Pferde müde gejagt und es doch nicht fertiggebracht hatte, überall vorzusprechen,[69] wo er Besuche zu machen hatte, und wo zu erscheinen er aufgefordert war, kam er erst unmittelbar vor dem Diner nach Hause. Sowie er eingetreten war, merkte und fühlte er die besondere Spannung der Liebesatmosphäre im Haus; außerdem aber nahm er wahr, daß zwischen einigen Mitgliedern der Tischgesellschaft eine seltsame Verlegenheit herrschte. Ganz besonders aufgeregt waren Sonja, Dolochow und die alte Gräfin, etwas weniger Natascha. Nikolai sagte sich, es müsse sich vor Tisch zwischen Sonja und Dolochow etwas begeben haben, und benahm sich mit dem ihm eigenen Taktgefühl des Herzens während des Diners gegen diese beiden außerordentlich zart und rücksichtsvoll. An demselben Abend, dem dritten Weihnachtsfeiertag, sollte bei dem Tanzlehrer Jogel ein Ball stattfinden, wie Herr Jogel dergleichen öfter an Feiertagen für alle seine dermaligen und früheren Schüler und Schülerinnen zu veranstalten pflegte.

»Nikolai, kommst du auch zu Jogel? Bitte, komm doch hin!« sagte Natascha zu ihm. »Er hat dich noch besonders einladen lassen. Wasili Dmitrijewitsch« (das war Denisow) »kommt auch mit.«

»Wohin würde ich nicht auf Befehl der Komtesse gehen!« sagte Denisow, der im Rostowschen Haus scherzhaft Nataschas Ritter spielte. »Ich bin sogar bereit, den pas de châle zu tanzen.«

»Wenn ich noch Zeit finde!« erwiderte Nikolai. »Ich habe bei Archarows zugesagt; die geben heute eine Abendgesellschaft ... Und du?« wandte er sich an Dolochow. Aber kaum hatte er diese Frage gestellt, so merkte er, daß er es nicht hätte tun sollen.

»Ja, vielleicht ...«, antwortete Dolochow in kaltem, zornigem Ton mit einem Blick auf Sonja. Dann zog er die Brauen zusammen und sah Nikolai mit ganz demselben Blick an, mit dem er bei dem Diner im Klub Pierre angesehen hatte.[70]

»Da steckt etwas dahinter«, dachte Nikolai und wurde in dieser Vermutung dadurch noch mehr bestärkt, daß Dolochow sogleich nach Tisch aufbrach. Nikolai rief Natascha heraus, die ihm eilig folgte, und fragte sie, was denn eigentlich vorgefallen sei.

»Ich hatte schon selbst Gelegenheit gesucht, mit dir zu reden«, sagte Natascha. »Ich habe es ja gleich gesagt; aber du wolltest mir nicht glauben!« fuhr sie triumphierend fort. »Er hat Sonja einen Antrag gemacht.«

Wie wenig sich Nikolai auch in dieser ganzen Zeit um Sonja gekümmert hatte, so hatte er doch, als er dies hörte, eine Empfindung, als ob in seinem Innern etwas zerrisse. Für ein Mädchen wie Sonja, eine Waise ohne Mitgift, war Dolochow eine anständige, ja in mancher Hinsicht glänzende Partie. Vom Standpunkt der alten Gräfin und der gesellschaftlichen Kreise aus war es unmöglich, ihm eine abschlägige Antwort zu erteilen. Und darum war Nikolais erstes Gefühl, als er von der Sache hörte, eine gewisse Erbitterung gegen Sonja. Er setzte bereits dazu an zu sagen: »Ei, das ist ja prächtig! Da darf sie natürlich an ihr kindisches Versprechen nicht mehr denken, sondern muß den Antrag annehmen«; aber er kam nicht dazu, dies auszusprechen.

»Kannst du dir das vorstellen? Sie hat seinen Antrag abgelehnt, rundweg abgelehnt!« rief Natascha. »Sie hat ihm gesagt, sie liebe einen andern«, fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Anders konnte auch meine Sonja nicht handeln«, dachte Nikolai.

»So sehr ihr Mama auch zugeredet hat, sie hat abgelehnt. Und ich weiß, sie ändert ihren Entschluß nicht, wenn sie einmal etwas gesagt hat ...«

»Also Mama hat ihr zugeredet!« sagte Nikolai vorwurfsvoll.

»Ja«, erwiderte Natascha. »Weißt du, lieber Nikolai, sei nicht[71] böse; aber ich weiß, du wirst die doch nicht heiraten. Ich weiß (ich kann selbst nicht sagen, woher ich diese Überzeugung habe), aber ich weiß bestimmt, daß du sie nicht heiraten wirst.«

»Nun, das kannst du durchaus nicht wissen«, antwortete Nikolai. »Aber ich muß mit ihr reden. Was ist Sonja doch für ein entzückendes Wesen!« fügte er lächelnd hinzu.

»Ja, sie ist ein entzückendes Wesen! Ich werde sie dir herschicken!« Natascha küßte ihren Bruder und lief fort.

Einen Augenblick darauf trat Sonja ein, ängstlich, verlegen und schuldbewußt. Nikolai ging auf sie zu und küßte ihr die Hand. Dies war das erstemal während dieser Anwesenheit Nikolais in Moskau, daß sie unter vier Augen von ihrer Liebe sprachen.

»Sonja«, sagte er, anfangs schüchtern, aber dann immer dreister und dreister. »Wenn Sie seinen Antrag ablehnen, so verscherzen Sie dadurch nicht nur eine glänzende, vorteilhafte Partie; er ist auch persönlich ein vortrefflicher Mensch ... er ist mein Freund.«

Sonja unterbrach ihn.

»Ich habe den Antrag bereits abgelehnt«, sagte sie hastig.

»Wenn Sie das mit Rücksicht auf mich getan haben, so befürchte ich, daß auf mir ...«

Sonja unterbrach ihn zum zweitenmal; sie sah ihn mit einem flehenden, angstvollen Blick an.

»Nikolai, reden Sie nicht so zu mir!« bat sie.

»Doch, doch, ich muß es sagen. Vielleicht sieht es wie Arroganz von meiner Seite aus; aber doch ist es das beste, alles geradezu zu sagen. Wenn Sie diesen Antrag mit Rücksicht auf mich ablehnen, so muß ich Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich glaube, daß ich Sie mehr liebe, als ich je ein Mädchen geliebt habe ...«

»Das ist mir genug!« unterbrach ihn Sonja errötend.

»Aber ich habe mich schon tausendmal verliebt und werde mich[72] noch tausendmal verlieben, obwohl ich ein solches Gefühl der Freundschaft, des Vertrauens und der Liebe gegen niemand empfinde wie gegen Sie. Ferner bin ich noch zu jung. Und Mama wünscht es nicht. Also, einfach gesagt, ich kann nichts versprechen. Und daher bitte ich Sie, über Dolochows Antrag nachzudenken«, sagte er; es kostete ihn einige Anstrengung, den Namen seines Freundes auszusprechen.

»Reden Sie nicht so zu mir. Ich will nichts. Ich liebe Sie wie einen Bruder, und werde Sie immer so lieben, und weiter habe ich keinen Wunsch.«

»Sie sind ein Engel; ich bin Ihrer nicht wert. Ich fürchte nur, einen Irrtum bei Ihnen zu erregen.«

Nikolai küßte ihr noch einmal die Hand.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 69-73.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon