VI

[205] Nachdem Denisow noch ein Weilchen mit dem Jesaul über den morgigen Überfall gesprochen hatte, zu dem er jetzt, wo er die Franzosen so nahe vor sich sah, endgültig entschlossen zu sein schien, wendete er sein Pferd und ritt zurück.

»Nun, Bruder, jetzt wollen wir hinreiten und uns trocknen«, sagte er zu Petja.

Als sie in die Nähe des Waldwächterhäuschens kamen, hielt Denisow an und spähte in den Wald hinein. Im Wald zwischen den Bäumen ging mit großen, leichten Schritten, auf langen Beinen, mit langen, schlenkernden Armen ein Mann dahin, der eine Jacke, Bastschuhe und einen Kasanschen Hut trug, ein Gewehr auf der Schulter hielt und im Gürtel ein Beil stecken hatte. Als dieser Mann Denisow erblickte, warf er eilig etwas ins Gebüsch; dann nahm er seinen nassen Hut ab, dessen Krempen schlaff herunterhingen, und trat auf den Anführer zu. Das war Tichon. Sein von Pockennarben und Runzeln überdecktes Gesicht mit den kleinen, schmalen Augen strahlte vor heiterer Selbstzufriedenheit. Er hob den Kopf hoch in die Höhe und schaute Denisow unverwandt an, wie wenn er das Lachen unterdrücken müßte.

»Na, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte Denisow.

»Wo ich gesteckt habe? Ich war gegangen, Franzosen zu holen«, antwortete Tichon dreist und schnell mit seiner heiseren, aber volltönenden Baßstimme.

»Warum hast du dich denn bei Tag hingeschlichen? Du Rindvieh! Na also, hast du keinen gegriffen ...?«

»Gegriffen habe ich schon einen«, erwiderte Tichon.

»Wo ist er denn?«

»Ich hatte ihn ganz früh gegriffen, noch in der Morgendämmerung«,[206] fuhr Tichon fort und stellte seine flachen, auswärts gedrehten Füße in den Bastschuhen recht breitbeinig hin, »und brachte ihn auch in den Wald. Aber da sah ich, daß er nichts taugte. Ich dachte: Na, ich will noch einmal runtergehen und einen anderen, besseren greifen.«

»Ein nichtswürdiger Kerl, wahrhaftig«, sagte Denisow zu dem Jesaul. »Warum hast du denn den ersten nicht hergebracht?«

»Wozu sollte ich den erst noch herbringen?« fiel Tichon ärgerlich und hastig ein. »Er war ja nicht zu gebrauchen. Ich weiß ja doch, was ihr für welche haben müßt.«

»So ein Racker ...! Na, und weiter?«

»Ich ging also, um einen andern zu holen«, fuhr Tichon fort. »Ich schlich mich in den Wald und legte mich so hin.« Tichon legte sich plötzlich mit großer Gewandtheit auf den Bauch, um mimisch darzustellen, wie er das gemacht habe. »Da kam auch gerade einer herangegangen«, fuhr er fort. »Ich bekam ihn so zu packen.« Tichon sprang schnell und geschickt auf. »›Komm mal mit‹, sagte ich zu ihm, ›zum Oberst.‹ Da erhob er ein furchtbares Geschrei, und es kamen ihrer viere herzugelaufen. Sie stürzten sich mit ihren Säbelchen auf mich. Ich aber trat ihnen so mit dem Beil entgegen. ›Was wollt ihr?‹ rief ich. ›Christus sei euch gnädig!‹« so schrie Tichon, indem er mit den Armen umherfuhr, drohend die Augenbrauen zusammenzog und die Brust herausdrückte.

»Ja, ja, wir haben es vom Abhang aus mit angesehen, wie du durch die Pfützen davonranntest«, sagte der Jesaul und kniff seine blitzenden Augen zusammen.

Petja hatte die größte Lust zu lachen; aber er sah, daß sich alle andern das Lachen verbissen. Er ließ seine Augen schnell von Tichons Gesicht zu den Gesichtern des Jesauls und Denisows wandern, ohne zu verstehen, was das alles bedeutete.[207]

»Spiel nur nicht den Narren«, sagte Denisow, sich ärgerlich räuspernd. »Warum hast du den ersten nicht hergebracht?«

Tichon kratzte sich mit der einen Hand den Rücken, mit der andern den Kopf; auf einmal verzog sich sein ganzes Gesicht zu einem strahlenden, dummen Lächeln, wobei eine Zahnlücke sichtbar wurde (daher hatte er auch den Beinamen Schtscherbaty bekommen: der mit der Zahnlücke). Denisow lächelte, und Petja brach in ein lustiges Lachen aus, in welches auch Tichon selbst mit einstimmte.

»Ach, er war ja ganz unbrauchbar«, sagte Tichon. »Die Kleider, die er anhatte, waren ganz schlecht; wozu sollte ich ihn da erst herbringen? Und dabei war er noch grob, Euer Wohlgeboren. ›Was?‹ sagte er, ›ich bin selbst der Sohn eines Generals; ich gehe nicht mit‹, sagte er.«

»Du Rindvieh!« sagte Denisow. »Ich mußte ihn doch ausfragen ...«

»Ich habe ihn ja selbst ausgefragt«, sagte Tichon. »Er sagte: ›Ich weiß nicht Bescheid. Unsere Leute‹, sagte er, ›sind zwar eine große Menge, aber taugen tun sie allesamt nichts‹, sagte er. ›Sie haben‹, sagte er, ›nur hohe Titel. Ruft ordentlich Hurra‹, sagte er, ›dann nehmt ihr sie alle gefangen‹«, schloß Tichon und blickte Denisow vergnügt und fest in die Augen.

»Ich werde dir hundert gesalzene Hiebe aufzählen lassen, dann wird es dir schon vergehen, den Narren zu spielen«, sagte Denisow in strengem Ton.

»Warum denn so böse?« erwiderte Tichon. »Ich habe mir ja doch eure Franzosen ordentlich angesehen. Laß es nur erst dunkel werden, dann hole ich dir welche von der Sorte, wie du sie gern hast, meinetwegen drei Stück.«

»Na, wollen weiterreiten«, sagte Denisow und ritt, zornig[208] die Stirn runzelnd und schweigend, nach dem Wächterhäuschen hin.

Tichon ging hinter ihnen her, und Petja hörte, wie die Kosaken mit ihm und über ihn wegen irgendwelcher Stiefel lachten, die er ins Gebüsch geworfen haben sollte.

Als die Heiterkeit, welche Tichons Worte und sein Lächeln bei ihm hervorgerufen hatten, vorbei war und Petja sich für einen Augenblick darüber klar wurde, daß dieser Tichon einen Menschen getötet hatte, überkam ihn eine gedrückte Stimmung. Er sah sich nach dem gefangenen Tambour um, und es war ihm, als bekäme er einen Stich ins Herz. Aber dieses unangenehme Gefühl dauerte nur einen Augenblick. Er hielt für notwendig, den Kopf höher zu heben, sich Mut zu machen und den Jesaul mit ernster Miene über das morgige Unternehmen zu befragen, um der Gesellschaft, in der er sich befand, nicht unwürdig zu sein.

Der abgesandte Offizier kam Denisow noch unterwegs mit der Nachricht entgegen, Dolochow werde baldigst persönlich kommen, und auf seiner Seite sei alles in Ordnung.

Jetzt wurde Denisow auf einmal vergnügt und rief Petja zu sich.

»Nun erzähle mir von deinen bisherigen Erlebnissen«, sagte er.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 205-209.
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