XIII

[247] Am 17. August machten Rostow und Iljin, von dem soeben aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Lawrenti und einer Husarenordonnanz begleitet, von ihrem Quartier Jankowo aus, das fünfzehn Werst von Bogutscharowo entfernt lag, einen Spazierritt, um ein neues Pferd, das sich Iljin gekauft hatte, zu probieren und in Erfahrung zu bringen, ob nicht in den Dörfern Heu vorhanden sei.

Bogutscharowo befand sich seit drei Tagen zwischen den beiden feindlichen Armeen, so daß gleich die russische Nachhut und die französische Vorhut sich dort einfinden konnte; und darum wollte Rostow als sorglicher Eskadronchef den Franzosen die etwa in Bogutscharowo vorhandene Furage vorwegnehmen.[247]

Rostow und Iljin waren in heiterster Stimmung. Auf dem Weg nach Bogutscharowo, das, wie sie wußten, ein fürstliches Gut mit einem Herrenhaus war, und wo sie unter einer zahlreichen Dienerschaft auch hübsche Mädchen zu finden hofften, befragten sie bald Lawrenti über Napoleon und lachten über seine Erzählungen, bald ritten sie um die Wette, um Iljins Pferd auf die Probe zu stellen.

Rostow wußte nicht und ahnte nicht, daß dieses Dorf, wohin er ritt, ein Gut eben jenes Bolkonski sei, der mit seiner Schwester verlobt gewesen war.

An dem Abhang vor Bogutscharowo veranstalteten Rostow und Iljin zum letztenmal einen Wettritt, und Rostow, der vor Iljin einen Vorsprung erlangt hatte, sprengte als der erste in die Dorfstraße von Bogutscharowo herein.

»Du hast gewonnen!« sagte Iljin, der ganz rot geworden war.

»Ja, ich habe immer gewonnen; als wir vorhin auf der Wiese um die Wette ritten, habe ich gewonnen und nun jetzt hier«, antwortete Rostow und streichelte mit der Hand sein schaumbedecktes donisches Pferd.

»Aber ich auf meiner französischen Stute, Euer Erlaucht«, sagte Lawrenti, der hinter ihnen ritt (er bezeichnete damit das schlechte Wagenpferd, auf dem er saß), »hätte Sie überholt; ich wollte Sie nur nicht beschämen!«

Sie ritten im Schritt an einen Speicher heran, bei dem eine große Menge von Bauern stand.

Einige von den Bauern nahmen die Mützen ab; andere betrachteten, ohne die Mützen abzunehmen, die Heranreitenden. Zwei alte Bauern, beide von langer Gestalt, mit runzligen Gesichtern und dünnen Bärten, kamen aus dem Krug heraus und näherten sich lächelnd und schwankend, indem sie unharmonisch ein Lied sangen, den Offizieren.[248]

»Na, liebe Leute«, sagte Rostow lachend, »wie ist's? Habt ihr Heu?«

»Wie die beiden einander gleichen!« bemerkte Iljin.

»Unsre lus...lus...lust'ge Kumpa...pa ...«, sang einer der Bauern mit glückseliger Miene.

Aus der Menge trat ein Bauer heraus und kam zu Rostow heran.

»Von welcher Partei seid ihr?« fragte er.

»Wir sind Franzosen«, antwortete Iljin lachend. »Und dies hier ist Napoleon selbst«, sagte er, auf Lawrenti weisend.

»Ihr seid also doch wohl Russen?« fragte der Bauer.

»Sind viele Truppen von eurem Heer hier in der Gegend?« fragte ein anderer, kleiner Bauer, der zu ihm trat.

»Jawohl, viele, sehr viele!« antwortete Rostow. »Aber warum habt ihr euch denn hier versammelt?« fügte er hinzu. »Ihr habt wohl einen Festtag, wie?«

»Die Ältesten haben sich in Gemeindeangelegenheiten versammelt«, antwortete der Bauer und ging wieder von ihm weg.

In diesem Augenblick erschienen auf dem Weg, der vom Herrenhaus herführte, zwei Frauenspersonen und ein Mann, der einen weißen Hut trug, und gingen eilig auf die Offiziere zu.

»Die im rosa Kleid gehört mir; daß mir keiner ins Gehege kommt!« sagte Iljin, als er Dunjascha bemerkte, die mutig auf ihn zulief.

»Uns wird sie gehören, uns!« sagte Lawrenti, die Augen zusammenkneifend, zu Iljin.

»Nun, meine Schöne, was wünschst du?« fragte Iljin lächelnd.

»Die Prinzessin läßt fragen, von welchem Regiment die Herren sind, und wie sie heißen.«

»Das hier ist Graf Rostow, der Eskadronchef, und ich bin euer gehorsamster Diener.«[249]

»Kumpa...pa...nei ...!« sang der betrunkene Bauer; er lächelte glückselig und sah Iljin an, der mit dem Mädchen eine Unterhaltung anknüpfte. Hinter Dunjascha her trat Alpatytsch an Rostow heran, nachdem er schon in weiter Entfernung den Hut abgenommen hatte.

»Ich bin so kühn, Sie zu belästigen, Euer Erlaucht«, sagte er respektvoll, aber doch mit einiger Geringschätzung, die sich auf das jugendliche Alter dieses Offiziers bezog; auch hatte er die Hand vorn in die Brust gesteckt. »Meine Herrin, die Tochter des am 15. dieses Monats verschiedenen Generals en chef Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, befindet sich infolge der Roheit dieser Leute« (er wies auf die Bauern) »in einer schwierigen Lage und bittet Sie, sich zu ihr zu bemühen ... Wäre es Ihnen vielleicht gefällig«, fuhr Alpatytsch mit trübem Lächeln fort, »ein wenig zur Seite zu reiten; es ist peinlich, hier in Gegenwart dieser ...« Alpatytsch zeigte auf die beiden betrunkenen alten Bauern, die sich hinter ihnen herumbewegten wie Bremsen um ein Pferd.

»Aha ...! Alpatytsch ... Aha, Jakow Alpatytsch ... Schön, schön! Nimm's nur nicht übel! Schön, schön!« sagten die Bauern und lachten ihn fröhlich an.

Rostow betrachtete die beiden Betrunkenen und lächelte.

»Oder vielleicht macht dieses Schauspiel Euer Erlaucht Vergnügen?« sagte Jakow Alpatytsch mit ruhiger, ernster Miene und zeigte mit derjenigen Hand, die er nicht in die Brust gesteckt hatte, auf die beiden Alten.

»Nein, dabei ist wenig Vergnügen«, antwortete Rostow und ritt zur Seite. »Um was handelt es sich denn eigentlich?« fragte er.

»Ich bin so frei, Euer Erlaucht zu melden, daß das hiesige grobe Volk die Herrin nicht vom Gut fortlassen will und die Pferde[250] auszuspannen droht, so daß, obgleich seit dem frühen Morgen alles gepackt ist, Ihre Durchlaucht nicht abreisen kann.«

»Nicht möglich!« rief Rostow.

»Ich habe die Ehre, Ihnen die reine Wahrheit zu berichten«, erklärte Alpatytsch.

Rostow stieg vom Pferd, übergab es der Ordonnanz und ging mit Alpatytsch nach dem Haus zu. Unter wegs erkundigte er sich nach den Einzelheiten der Vorgänge. Das gestrige Anerbieten der Prinzessin, den Bauern Getreide zu geben, und ihre Gespräche mit Dron und der Bauernmenge hatte wirklich die Sache dermaßen verdorben, daß Dron endgültig die Schlüssel abgegeben und sich den Bauern angeschlossen hatte und nicht mehr erschienen war, wenn Alpatytsch ihn rufen ließ, und daß am Morgen, als die Prinzessin befohlen hatte anzuspannen, um wegzufahren, die Bauern in einem großen Schwarm zum Speicher gezogen waren und erklärt hatten, sie würden die Prinzessin nicht aus dem Dorf hinauslassen; es sei ein hoher Befehl ergangen, daß niemand seinen Wohnsitz verlassen solle, und sie würden die Pferde wieder ausspannen. Alpatytsch war mehrmals zu ihnen hinausgegangen und hatte ihnen Vorhaltungen gemacht; aber sie hatten ihm geantwortet (am meisten hatte Karp gesprochen; Dron hatte sich im Haufen gehalten und nicht blicken lassen), sie dürften die Prinzessin nicht weglassen; es sei darüber ein hoher Befehl ergangen. Die Prinzessin möge nur ruhig dableiben; dann würden sie ihr wie bisher dienen und in allem gehorchen.

In dem Augenblick, als Rostow und Iljin auf der Landstraße herangaloppiert kamen, hatte Prinzessin Marja trotz aller Gegenvorstellungen von seiten Alpatytschs, der Kinderfrau und der Dienstmädchen gerade Befehl zum Anspannen gegeben und fortfahren wollen; aber als man die herbeisprengenden Kavalleristen[251] gesehen hatte, hatte man sie für Franzosen gehalten, die Kutscher waren davongelaufen, und die Weiber hatten im Haus ein großes Geheul erhoben.

»Väterchen! Du bist unser Retter! Dich hat uns Gott gesandt!« riefen die Weiber jetzt kläglich, als Rostow durch die Vorhalle ging.

Prinzessin Marja saß verstört und kraftlos im Saal, als Rostow zu ihr hereingeführt wurde. Sie hatte kein Verständnis dafür, wer er war, und warum er da war, und was aus ihr werden würde. Aber als sie sein russisches Gesicht erblickte und an der Art seines Eintretens und den ersten Worten, die er sprach, ihn als einen Mann ihres eigenen Standes erkannte, da schaute sie ihn mit ihrem tiefen, leuchtenden Blick an und begann mit stockender, vor Aufregung zitternder Stimme zu reden. Rostow fand gleich im ersten Augenblick diese Begegnung außerordentlich romantisch. »Ein schutzloses, von schwerem Leid niedergebeugtes Mädchen, ganz allein, der Willkür roher, aufrührerischer Bauern preisgegeben! Und welch eine seltsame Fügung des Schicksals hat mich hierhergeführt!« dachte Rostow, während er ihr zuhörte und sie ansah. »Und welch eine Sanftmut, welch ein Adel in ihren Zügen und in dem Ausdruck ihres Gesichtes«, dachte er weiter beim Anhören ihrer schüchternen Erzählung.

Als sie berichtete, daß dies alles sich am Tag nach der Beerdigung ihres Vaters zugetragen habe, fing ihre Stimme an zu beben. Sie wandte sich ab; dann aber schien sie zu fürchten, Rostow könne ihre Worte als einen Versuch, ihn zu rühren, auffassen, und blickte ihn ängstlich an. Rostow hatte Tränen in den Augen. Prinzessin Marja bemerkte dies und sah ihn dankbar mit jenem ihr eigenen leuchtenden Blick an, der einen jeden die Unschönheit ihres Gesichtes vergessen ließ.[252]

»Ich kann gar nicht sagen, Prinzessin, wie glücklich es mich macht, daß ich zufällig hierhergekommen bin und imstande sein werde, Ihnen meine Dienstwilligkeit zu beweisen«, sagte Rostow, sich erhebend. »Bitte, fahren Sie ab, und ich stehe Ihnen mit meiner Ehre dafür, daß niemand wagen wird, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, wenn Sie mir nur erlauben wollen, Sie zu geleiten.« Er verbeugte sich so ehrerbietig, wie man es vor Damen aus kaiserlichem Blut zu tun pflegt, und ging zur Tür.

Durch seinen besonders ehrerbietigen Ton schien Rostow andeuten zu wollen, daß, obwohl er es für ein hohes Glück halte, die Bekanntschaft der Prinzessin gemacht zu haben, er doch ihr Unglück nicht dazu benutzen wolle, um ihr in aufdringlicher Weise näherzutreten.

Prinzessin Marja verstand diese Absicht seines Tones und wußte sie zu würdigen.

»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar«, sagte sie zu ihm auf französisch. »Aber ich hoffe, daß dies alles nur ein Mißverständnis gewesen ist und niemand dabei eine Schuld trifft.« Plötzlich brach sie in Tränen aus. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie.

Rostow verbeugte sich mit finsterem Gesicht noch einmal tief vor ihr und verließ das Zimmer.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 247-253.
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