XXIV

[318] Der Abend dieses Tages, des 25. August, war hell und klar. Fürst Andrei lag, auf den Arm gestützt, in einem halbzerstörten Schuppen des Dorfes Knjaskowo, am äußersten Rand dieses Dorfes, in welchem sein Regiment lagerte. Durch ein Loch der arg beschädigten Wand blickte er nach einer am Zaun entlangstehenden Reihe dreißigjähriger Birken, deren untere Äste abgehauen waren, nach einem Ackerfeld mit auseinandergerissenen Hafermandeln und nach einem Gebüsch, wo die Feuer rauchten, an denen die Soldaten kochten.

Obwohl Fürst Andrei jetzt die Empfindung hatte, sein Leben beenge und drücke ihn und sei für niemand von Wert, so war er dennoch, gerade wie sieben Jahre vorher bei Austerlitz, am Vorabend der Schlacht unruhig und aufgeregt.

Die Befehle für die morgige Schlacht hatte er erhalten und die seinigen erteilt. Zu tun hatte er nichts mehr. Aber seine Gedanken, ganz einfache, klare und daher besonders schreckliche Gedanken, ließen ihm keine Ruhe. Er wußte, daß die morgige Schlacht furchtbarer werden mußte als alle, an denen er bisher teilgenommen hatte, und zum erstenmal in seinem Leben trat ihm die Möglichkeit seines Todes, ohne jede Beziehung auf irdische Dinge, ohne einen Gedanken daran, wie sein Tod auf andere Menschen wirken werde, sondern lediglich in Beziehung auf ihn selbst, auf seine Seele, mit Lebhaftigkeit, fast mit Gewißheit, einfach und furchtbar vor Augen. Und von der Höhe dieser Vorstellung herab sah er plötzlich alles, was ihn früher gequält und beschäftigt hatte, wie von einem kalten, weißen Licht beleuchtet, ohne Schatten, ohne Perspektive, ohne scharfe Umrisse. Sein ganzes Leben erschien ihm wie ein Guckkasten, in den er lange durch ein Glas und bei künstlicher Beleuchtung hineingeblickt[319] hatte. Jetzt sah er diese schlecht hingemalten Bilder auf einmal ohne Glas, bei hellem Tageslicht. »Ja, ja, da sind sie, die Truggestalten, die mich aufgeregt und entzückt und gequält haben«, sagte er zu sich selbst, während er in seiner Erinnerung die Hauptbilder seines Lebens-Guckkastens musterte und sie jetzt bei diesem kalten, weißen Licht betrachtete, das der Gedanke an den Tod über alles breitete. »Da sind sie, diese grob hingestrichenen Figuren, die sich als etwas Schönes, Geheimnisvolles darstellten. Ruhm, Gemeinwohl, Liebe zum Weib, Vaterland, wie groß und erhaben erschienen mir diese Bilder und von wie tiefem Sinn erfüllt! Und das alles steht nun so nüchtern, blaß und grob vor mir, bei dem kalten, weißen Licht jenes Morgens, der nun, das fühle ich, für mich heraufsteigt.« Die drei schmerzlichsten Ereignisse seines Lebens beschäftigten ihn ganz besonders: seine Liebe zu jenem Mädchen, der Tod seines Vaters und die französische Invasion, welche halb Rußland überflutete. »Die Liebe ...! dieses Mädchen, in dem ich so viele geheimnisvolle Kräfte zu erkennen glaubte! Jawohl; ich habe dieses Mädchen geliebt, habe romantische Pläne geschmiedet über ein Leben voll Liebe und Glück an ihrer Seite! O ich artiger Knabe!« sagte er ingrimmig laut vor sich hin. »Jawohl, ich habe an eine ideale Liebe geglaubt, kraft deren sie mir während des ganzen Jahres meiner Abwesenheit die Treue bewahren werde. Ich meinte, sie werde, nach Art des zärtlichen Täubchens in der Fabel, von mir getrennt sich vor Sehnsucht verzehren. Aber es stellte sich heraus, daß das alles weit nüchterner war ... Furchtbar nüchtern war das alles und ekelhaft!

So hat auch mein Vater in Lysyje-Gory alles gebaut und eingerichtet und gemeint, das sei sein Stück Land, seine Erde, seine Luft, seine Bauern; und da kam nun dieser Napoleon, und ohne von meines Vaters Existenz zu wissen, stieß er ihn wie ein[320] Holzklötzchen aus dem Weg und richtete ihm sein Lysyje-Gory und sein ganzes Leben zugrunde. Prinzessin Marja sagt freilich, das sei eine von oben gesandte Prüfung. Aber welchen Zweck soll eine Prüfung haben, wenn der zu Prüfende, mein Vater, nicht mehr existiert und nie mehr existieren wird? Niemals mehr wird er existieren! Er existiert nicht mehr. Also wen betrifft da diese Prüfung? – Das Vaterland, der Untergang Moskaus! Und mich wird morgen ein Franzose töten, oder vielleicht nicht einmal ein Franzose, sondern einer von unseren eigenen Leuten, wie ja auch gestern ein Soldat sein Gewehr dicht bei meinem Ohr abschoß; und die Franzosen werden kommen und mich bei den Beinen und beim Kopf nehmen und in eine Grube werfen, damit mein Leichnam ihnen nicht die Luft verdirbt; und es werden sich neue Lebensverhältnisse herausbilden, die anderen Leuten ebenso gewöhnlich vorkommen werden wie mir die meinigen, und ich werde nichts von ihnen wissen und werde nicht mehr existieren.«

Er blickte nach der Reihe von Birken hin, deren regungslos hängendes, gelblichgrünes Laub und weiße Rinde in der Sonne glänzten. »Sterben ...! Nun gut, mag ich morgen fallen ... Mag ich aufhören zu existieren ... Mag alles dies weiterbestehen, ich aber nicht mehr sein!« Er stellte sich sein Fehlen inmitten dieses Lebens mit voller Deutlichkeit vor. Und diese Birken mit ihrem Licht und Schatten, und diese krausen Wolken, und dieser Rauch der Lagerfeuer, alles dies rings um ihn her nahm in seinen Augen eine andere Gestalt an und erschien ihm als etwas Furchtbares, Drohendes. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken entlang.

Vor dem Schuppen wurden Stimmen vernehmbar.

»Wer ist da?« rief Fürst Andrei.

Der rotnasige Hauptmann Timochin, der ehemals Dolochows[321] Kompaniechef gewesen, jetzt aber bei dem Mangel an Offizieren Bataillonskommandeur geworden war, trat schüchtern in den Schuppen. Hinter ihm kamen der Regimentsadjutant und der Zahlmeister herein.

Fürst Andrei stand schnell auf, hörte an, was diese drei ihm Dienstliches zu berichten hatten, erteilte ihnen noch einige Weisungen und war gerade dabei, sie zu entlassen, als sich vor dem Schuppen eine ihm bekannte lispelnde Stimme hören ließ.

»Hol's der Teufel!« sagte dort jemand, der sich offenbar an etwas gestoßen hatte.

Fürst Andrei sah aus dem Schuppen hinaus und erblickte Pierre, der zu ihm kam und über eine auf der Erde liegende Stange so gestolpert war, daß er beinahe hingefallen wäre. Fürst Andrei hatte überhaupt wenig Freude darüber, wenn er mit Angehörigen seines Gesellschaftskreises zusammentraf, und besonders unangenehm war es ihm jetzt, Pierre wiederzusehen, dessen Anblick ihm alle die schweren Augenblicke ins Gedächtnis zurückrief, die er während seines letzten Aufenthaltes in Moskau durchlebt hatte.

»Ah, sieh da!« sagte er. »Wie kommst du hierher? Dich hätte ich hier nicht zu sehen erwartet.«

Während er dies sagte, lag in seinen Augen und in seinem gesamten Gesichtsausdruck mehr als bloße Gleichgültigkeit: es spiegelte sich darin eine Art von Feindseligkeit wider, die Pierre sofort bemerkte. Dieser war in sehr angeregter Gemütsstimmung zu dem Schuppen gekommen; aber als er den Gesichtsausdruck des Fürsten Andrei wahrnahm, fühlte er sich verlegen und unbehaglich.

»Wissen Sie ... ich bin ohne besonderen Grund hergekommen ... weil es mir interessant ist«, sagte Pierre, der dieses Wort[322] »interessant« an diesem Tag schon recht oft gebraucht hatte. »Ich wollte die Schlacht mit ansehen.«

»Ja, ja; aber was sagen denn die Brüder Freimaurer über den Krieg? Wie soll er verhütet werden?« fragte Fürst Andrei spöttisch. Und dann fuhr er in ernstem Ton fort: »Nun, wie steht es in Moskau? Was machen die meinigen? Sind sie endlich in Moskau angekommen?«

»Ja, sie sind angekommen. Julja Drubezkaja sagte es mir. Ich wollte sie besuchen, fand sie aber nicht mehr in ihrem Haus. Sie waren nach dem Landhaus hinausgezogen.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 318-323.
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