XXVI

[335] Am 25. August, dem Tag vor der Schlacht bei Borodino, trafen der Palastpräfekt des Kaisers der Franzosen, Herr de Bausset, und der Oberst Fabvier, der erstere aus Paris, der zweite aus Madrid, bei dem Kaiser Napoleon in seinem Quartier in der Nähe von Walujewo ein.

Nachdem Herr de Bausset sich in die Hofuniform umgekleidet hatte, befahl er, die Kiste, die er für den Kaiser mitgebracht hatte, vor ihm herzutragen, und betrat die vordere Abteilung von Napoleons Zelt, wo er sich mit dem Öffnen und Auspacken der Kiste beschäftigte und sich dabei mit den ihn umringenden Adjutanten Napoleons unterhielt.

Fabvier war nicht in das Zelt hineingegangen, sondern im Gespräch mit einigen ihm bekannten Generalen am Eingang stehengeblieben.

Der Kaiser Napoleon war noch nicht aus seinem Schlafzimmer zum Vorschein gekommen und noch nicht mit seiner Toilette fertig. Schnaubend und stöhnend drehte er sich bald mit dem dicken Rücken, bald mit der haarigen, fetten Brust unter der Bürste hin und her, mit welcher ein Kammerdiener ihm den Leib frottierte. Ein anderer Kammerdiener, der ein Fläschchen mit dem Finger beinahe zuhielt, besprengte den wohl gepflegten Körper des Kaisers mit Eau de Cologne und machte dabei ein Gesicht, das zu besagen schien, er sei der einzige Mensch, welcher wisse, wieviel Eau de Cologne gespritzt werden müsse und wohin. Napoleons kurzes Haar war feucht und lag ungeordnet auf der[335] Stirn. Aber sein Gesicht drückte, trotz seiner Gedunsenheit und gelblichen Farbe, physisches Wohlbehagen aus: »Immer weiter, immer kräftig!« sagte er wiederholt, indem er sich zusammenbog und stöhnte, zu dem Kammerdiener, der ihn frottierte. Ein Adjutant trat in das Schlafzimmer, um dem Kaiser zu melden, wieviel Gefangene bei dem gestrigen Kampf gemacht worden seien, blieb, nachdem er seinen Bericht erstattet hatte, an der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Napoleon hatte die Augenbrauen zusammengezogen und blickte den Adjutanten von unten her an.

»Keine Gefangenen!« wiederholte er die Worte des Adjutanten. »Sie lassen sich niedermachen. Um so schlimmer für die russische Armee«, sagte er. »Immer weiter, immer kräftig!« befahl er wieder dem Kammerdiener, indem er seine fetten Schultern krümmte und hinhielt.

»Gut, gut! Lassen Sie Herrn de Bausset und Fabvier eintreten«, sagte er mit einem Kopfnicken zu dem Adjutanten.

»Zu Befehl, Sire!« antwortete der Adjutant und verschwand durch die Tür des Schlafzimmers.

Die beiden Kammerdiener kleideten Seine Majestät hurtig an, und in der blauen Gardeuniform betrat er mit festen, schnellen Schritten den vorderen Raum.

Bausset war in diesem Augenblick eilig damit beschäftigt, das Geschenk der Kaiserin, das er mitgebracht hatte, noch gerade vor dem Eintritt des Kaisers auf zwei Stühlen aufzustellen. Aber der Kaiser war so unerwartet schnell mit seinem Anzug fertig geworden und aus seinem Schlafzimmer herausgekommen, daß der Palastpräfekt nicht Zeit genug gehabt hatte, um die geplante Überraschung vollständig zu inszenieren.

Napoleon bemerkte sofort, was Bausset tat, und erriet, daß dieser noch nicht fertig war. Er wollte ihn nicht des Vergnügens[336] berauben, ihm die Überraschung zu bereiten; daher tat er, als sähe er ihn gar nicht und rief Fabvier zu sich heran. Napoleon hörte, streng die Stirn runzelnd, an, was Fabvier über die Tapferkeit und Ergebenheit der französischen Truppen berichtete, die am andern Ende Europas bei Salamanca gekämpft hatten; sie hätten nur einen Gedanken gehabt, sich ihres Kaisers würdig zu zeigen, und nur eine Furcht: ihn nicht zu befriedigen. Das Resultat der Schlacht war traurig gewesen. Napoleon machte, während Fabvier sprach, ironische Bemerkungen, als habe er auch gar nicht erwartet, daß die Sache in seiner Abwesenheit hätte anders gehen können.

»Ich muß das in Moskau wiedergutmachen«, sagte Napoleon. »Auf Wiedersehen!« fügte er hinzu und rief Herrn de Bausset heran, der unterdessen bereits mit dem Arrangement der Überraschung fertig geworden war, indem er einen Gegenstand auf die Stühle gestellt und mit einer Decke verhüllt hatte.

Er verbeugte sich tief, mit jener höfischen französischen Körperbewegung, wie sie nur die alten Diener der Bourbonen auszuführen verstanden, trat heran und überreichte dem Kaiser einen Brief.

Napoleon wandte sich heiter zu ihm und zupfte ihn am Ohr.

»Sie haben sich beeilt; das freut mich sehr. Nun, was sagt Paris?« fragte er; seine vorher strenge Miene hatte plötzlich einer sehr vergnügten Platz gemacht.

»Sire, ganz Paris bedauert Ihre Abwesenheit«, antwortete Bausset pflichtgemäß.

Obgleich Napoleon wußte, daß Bausset dies oder etwas Ähnliches sagen mußte, und obgleich er in Augenblicken ruhiger Überlegung sich sagte, daß dies eine Unwahrheit sei, so machte ihm diese Antwort doch Vergnügen. Er würdigte ihn nochmals eines Zupfens am Ohr.[337]

»Ich bedaure sehr, es herbeigeführt zu haben, daß Ihre Reise eine so weite geworden ist«, sagte er.

»Sire, ich habe auch nichts Geringeres erwartet, als Sie an den Toren Moskaus zu finden«, erwiderte Bausset.

Napoleon lächelte und blickte, zerstreut den Kopf hebend, nach rechts hin. Der Adjutant trat schleifenden Schrittes mit der goldenen Tabaksdose heran und präsentierte sie dem Kaiser. Napoleon nahm sie hin.

»Ja, das hat sich gut für Sie getroffen«, bemerkte er, indem er die geöffnete Dose an die Nase hielt. »Sie reisen ja gern; nun, in drei Tagen werden Sie Moskau zu sehen bekommen. Sie haben wohl nicht erwartet, daß Sie nach dieser asiatischen Residenz kommen würden. Sie machen eine vergnügliche Reise.«

Bausset verneigte sich zum Dank dafür, daß der Kaiser diese seine (ihm selbst bisher unbekannte) Neigung zum Reisen zu beachten geruhte.

»Nun, was ist das da?« fragte Napoleon, da er bemerkte, daß alle seine Hofleute nach dem mit der Decke verhüllten Gegenstand hinblickten.

Bausset machte mit höfischer Gewandtheit, ohne den Rücken zu zeigen, mit einer halben Wendung zwei Schritte zurück, zog gleichzeitig die Decke fort und sagte:

»Ein Geschenk der Kaiserin für Euer Majestät.«

Es war ein von Gérard in hellen Farben gemaltes Porträt eines Knaben, des Sohnes, der dem Kaiser Napoleon von der österreichischen Kaisertochter geboren war und der aus einem nicht recht verständlichen Grund allgemein der König von Rom genannt wurde.

Ein sehr hübscher, lockiger Knabe, mit einem Blick, der mit dem des Jesuskindes auf dem Bild der Sixtinischen Madonna Ähnlichkeit hatte, war abgebildet, wie er Bilboquet spielte. Die Kugel[338] in seiner einen Hand wurde durch den Erdball dargestellt, das Fangstäbchen in der andern durch ein Zepter.

Es war nicht ganz verständlich, was der Maler eigentlich damit hatte ausdrücken wollen, daß er den sogenannten König von Rom darstellte, wie er den Erdball mit einem Stäbchen durchbohrte; aber diese Allegorie schien, wie allen, die das Bild in Paris gesehen hatten, so auch dem Kaiser Napoleon offenbar vollkommen klar, und sie gefiel ihm außerordentlich.

»Der König von Rom!« sagte er, indem er mit einer anmutigen Handbewegung auf das Bild wies. »Ein wundervolles Bild!«

Mit der den Italienern eigenen Fähigkeit, den Gesichtsausdruck willkürlich zu ändern, nahm er, während er an das Porträt herantrat, die Miene nachdenklicher Zärtlichkeit an. Er war sich bewußt, daß das, was er jetzt sagte und tat, ein Stück Weltgeschichte war. Und für das Beste, was er jetzt tun könne, erachtete er es, trotz seiner erhabenen Größe, infolge deren sein Sohn mit der Erdkugel Fangball spielte, und in bewußtem Gegensatz zu dieser Größe die schlichteste väterliche Zärtlichkeit zu zeigen. Seine Augen umzogen sich wie mit einem Schleier; er trat näher heran, sah sich nach einem Stuhl um (dienstfertige Hände brachten den Stuhl eiligst herbei und stellten ihn zweckmäßig hin) und setzte sich dem Porträt gegenüber. Eine Handbewegung von seiner Seite, und alle gingen auf den Zehen hinaus und überließen den großen Mann sich selbst und seinen Empfindungen.

Nachdem er ein Weilchen dagesessen und, ohne selbst recht zu wissen warum, die rauhe Oberfläche der Lichtstellen des Porträts betastet hatte, stand er auf und rief wieder Bausset und den diensttuenden Adjutanten zu sich. Er gab Befehl, das Porträt vor das Zelt zu bringen, damit die alte Garde, welche um sein Zelt herum lagerte, nicht des Glückes beraubt werde, den[339] König von Rom, den Sohn und Erben ihres vergötterten Kaisers, zu sehen.

Wie er es erwartet hatte, stießen, während er mit dem dieser Ehre gewürdigten Herrn de Bausset frühstückte, vor dem Zelt die Offiziere und Soldaten der alten Garde, die sich um das Porträt sammelten, laute Rufe der Begeisterung aus.

»Es lebe der Kaiser! Es lebe der König von Rom! Es lebe der Kaiser!« riefen sie enthusiastisch.

Nach dem Frühstück diktierte Napoleon in Baussets Gegenwart seinen Armeebefehl.

»Kurz und energisch!« sagte Napoleon und las die ohne Unterbrechung und ohne Korrekturen diktierte Proklamation selbst laut durch. Der Befehl lautete:

»Soldaten! Da habt ihr die Schlacht, nach der ihr so lange verlangt habt. Der Sieg wird von euch abhängen. Er ist uns notwendig; er wird uns alles verschaffen, was wir brauchen: bequeme Winterquartiere und eine baldige Rückkehr in das Vaterland. Haltet euch so, wie ihr euch bei Austerlitz, bei Friedland, bei Witebsk und bei Smolensk gehalten habt. Möge die späteste Nachwelt der an diesem Tag von euch verrichteten Heldentaten mit Stolz gedenken. Und möge man von einem jeden von euch rühmen: er hat in der großen Schlacht unter den Mauern von Moskau mitgekämpft!«

»Unter den Mauern von Moskau!« wiederholte Napoleon. Dann forderte er den reiselustigen Herrn de Bausset auf, ihn auf seinem Spazierritt zu begleiten, und trat aus dem Zelt, vor dem die Pferde gesattelt standen.

»Euer Majestät sind zu gütig«, erwiderte Bausset auf die Einladung des Kaisers, mitzureiten; er hätte am liebsten geschlafen, konnte auch nicht ordentlich reiten und fürchtete sich davor.

Aber Napoleon nickte dem eifrigen Reisenden mit dem Kopf[340] zu, und Bausset mußte mitreiten. Als Napoleon aus dem Zelt trat, wurde das Geschrei der Gardisten vor dem Bild seines Sohnes noch lauter. Napoleon zog die Augenbrauen zusammen.

»Nehmt ihn fort«, sagte er, indem er mit einer ebenso anmutigen wie majestätischen Handbewegung auf das Bild wies. »Es ist noch zu früh für ihn, ein Schlachtfeld zu sehen.«

Bausset schloß die Augen, senkte den Kopf und seufzte tief, indem er auf diese Weise andeutete, daß er die Worte des Kaisers verstanden habe und zu würdigen wisse.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 335-341.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon