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[264] Das erste Glockenzeichen ertönte. Einige junge Männer gingen vorüber, häßliche, freche Gesellen; sie hatten es eilig, achteten dabei aber doch darauf, welchen Eindruck sie wohl machten. Auch Peter, mit stumpfem, tierischem Gesichtsausdruck, kam in seiner Livree und seinen Gamaschen durch den Saal herbei und trat zu ihr, um sie zum Wagen zu geleiten. Die lärmenden jungen Männer wurden still, als sie auf dem Bahnsteig an ihnen vorüberging, und der eine flüsterte einem andern eine Bemerkung über sie zu, natürlich eine abscheuliche Bemerkung. Sie stieg am Wagen die hohe Stufe hinauf und setzte sich in einem Abteil allein auf das mit Sprungfedern versehene, beschmutzte, ehemals weiß gewesene Sofa. Die Reisetasche, die zuerst auf den Sprungfedern hin und her gezittert hatte, legte sich zur Seite. Peter mit seinem dummen Lächeln lüftete vor dem Fenster zum Zeichen des Abschieds seinen betreßten Hut; der freche Schaffner schlug die Tür zu und schloß die Klinke. Eine häßliche Dame mit einer Turnüre (Anna entkleidete dieses Weib in Gedanken und entsetzte sich über ihre schlechte Gestalt) und ein paar junge Mädchen, die geziert lachten, gingen unten schnell vorüber.

»Er ist bei Katerina Andrejewna; er ist immerzu bei ihr, ma tante!« rief das eine der jungen Mädchen.

›So ein junges Ding, und auch schon so verdorben und so kokett‹, dachte Anna. Um nur niemand zu sehen, stand sie schnell auf und setzte sich in dem leeren Abteil an das gegenüberliegende Fenster. Ein häßlicher Arbeitsmann in schmutzigem Rock, mit einer Dienstmütze, unter der das wirre Haar heraushing, ging an dem Fenster, an dem sie saß, vorüber und bückte sich zu den Rädern des Wagens hinunter. ›Dieser garstige Arbeiter hat irgend etwas Bekanntes an sich‹, dachte Anna. Da fiel ihr ihr Traum ein, und zitternd vor Angst ging sie vom Fenster weg nach der gegenüberliegenden Tür. Der Schaffner öffnete die Tür in diesem Augenblick und ließ einen Herrn mit seiner Frau herein.

»Wünschen Sie auszusteigen?«

Anna antwortete nicht. Der Schaffner und die beiden eingestiegenen Reisenden bemerkten unter dem Schleier nicht den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Sie kehrte in ihre Ecke zurück und setzte sich wieder. Das Ehepaar nahm ihr gegenüber Platz und musterte aufmerksam, aber verstohlen Annas Kleidung. Beide, der Mann wie die Frau, machten auf Anna einen widerwärtigen Eindruck. Der Mann fragte, ob sie[265] ihm erlaube zu rauchen, augenscheinlich nicht sosehr in der Absicht zu rauchen, wie um eine Unterhaltung anzuknüpfen. Als er ihre Erlaubnis er halten hatte, begann er mit seiner Frau auf französisch ein inhaltlich so ödes Gespräch, daß Anna dadurch mehr belästigt wurde als durch das Rauchen. Sie redeten in gezierter Weise lauter Dummheiten, nur damit sie es hören sollte. Anna erkannte deutlich, wie diese beiden Gatten bereits einer des andern überdrüssig geworden waren und wie sie sich wechselseitig haßten. Auch war es ja gar nicht anders möglich, als daß man so klägliche Geschöpfe haßte.

Das zweite Glockenzeichen wurde gegeben, und gleich darauf hörte man das Vorbeifahren des Gepäcks nach dem Gepäckwagen, Lärm, Rufen und Lachen. Daß kein Mensch irgendwelchen Anlaß habe sich zu freuen, darüber war sich Anna so klar, daß dieses Lachen in schmerzhafter Weise ihre Nerven reizte und sie sich am liebsten die Ohren zugestopft hätte, um es nicht zu hören. Endlich ertönte das dritte Glockenzeichen, die Lokomotive pfiff und schnaufte, die Ketten zwischen den Wagen zogen sich unter Gerassel straff, und der Ehemann in Annas Abteil bekreuzte sich. ›Es wäre interessant, ihn zu fragen, was er sich eigentlich dabei denkt‹, dachte Anna und warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann blickte sie an der Dame vorüber durch das Fenster nach den Menschen, die Abreisenden das Geleite gegeben hatten und nun, auf dem Bahnsteig stehend, rückwärts zu gleiten schienen. Taktmäßig an den Fugen der Schienen anstoßend, rollte der Wagen, in dem Anna saß, am Bahnsteig vorüber, an einer Steinwand, an der Signalscheibe und an anderen Wagen; nun rollten die Räder glatter und sanfter mit leisem Klang auf den Schienen dahin; das Fenster erglänzte im hellen Schein der Abendsonne, und ein leiser Wind spielte mit dem Vorhang. Anna vergaß ganz ihre Nachbarn im Abteil, und indem sie begierig die frische Luft einsog, überließ sie sich bei dem leisen Schaukeln, das durch die Fahrt hervorgerufen wurde, wieder ihren Gedanken.

›Ja, wobei war ich doch stehengeblieben? Dabei, daß ich mir keine Lage aussinnen kann, in der das Leben nicht eine Qual wäre, und daß wir alle dazu geschaffen sind, um Qualen zu erleiden, und daß wir das alle wissen und alle uns Mittel erdenken, um uns selbst zu betrügen. Sobald man aber die Wahrheit erkennt, was bleibt einem dann zu tun übrig?‹

»Dazu ist dem Menschen die Vernunft gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt«, sagte die Dame auf französisch; sie war mit dieser leeren Redensart offenbar sehr zufrieden und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.[266]

Diese Worte bildeten beinahe eine Antwort auf Annas Gedanken.

›Damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt‹, wiederholte Anna bei sich. Sie sah den rotbackigen Gatten und seine hagere Frau an und sagte sich, daß die kränkliche Gattin sich gewiß für eine unverstandene Frau halte und der Mann sie hintergehe und sie dadurch in ihrer Selbstbeurteilung bestärke. Anna meinte, die ganze Lebensgeschichte der beiden und alle Winkel ihrer Seelen deutlich vor sich zu sehen, indem sie gleichsam einen hellen Lichtstrahl darauf richtete. Aber bemerkenswert war dabei eigentlich nichts, und so fuhr sie denn in ihrem Gedankengange fort.

›Ja, ich fühle eine große Beunruhigung, und dazu ist uns die Vernunft gegeben, damit wir uns davon frei machen; folglich muß ich das eben tun. Warum soll man denn eine Kerze nicht auslöschen, wenn doch nichts mehr da ist, was man sehen möchte, und man sich ekelt, alles das, was man um sich hat, weiter anzusehen? Und wie ekelhaft ist alles! Weshalb ist dieser Schaffner auf dem Trittbrett entlanggelaufen? Weshalb schreien diese jungen Leute da im anderen Wagen? Weshalb reden sie, weshalb lachen sie? Alles ist Unwahrhaftigkeit, alles ist Betrug, alles ist Schlechtigkeit ...‹

Als der Zug die Station erreicht hatte, stieg Anna mit einem Schwarm anderer Fahrgäste aus, sonderte sich aber dann von ihnen ab, als ob es Aussätzige wären, und blieb in einiger Entfernung von ihnen auf dem Bahnsteig stehen. Sie suchte sich zu erinnern, warum sie hierhergefahren sei und was sie zu tun beabsichtigt habe. Es wurde ihr so schwer, alles das, was ihr vorher als möglich erschienen war, sich jetzt zurechtzulegen, namentlich da der lärmende Haufen aller dieser gräßlichen Menschen sie nicht in Ruhe ließ. Bald kamen Gepäckträger zu ihr hingelaufen, um ihr ihre Dienste anzubieten; bald belästigten junge Leute, die, in lauter Unterhaltung begriffen, mit ihren Absätzen auf den Bohlen des Bahnsteigs umherpolterten, sie mit ihren Blicken; bald wichen Begegnende ihr nicht nach der richtigen Seite aus. Als ihr einfiel, daß sie nach dem Landgute hatte weiterfahren wollen, wenn keine Antwort da wäre, hielt sie einen Gepäckträger an und fragte ihn, ob nicht ihr Kutscher da sei, der dem Grafen Wronski einen Brief habe bringen sollen.

»Graf Wronski? Vom Grafen Wronski habe ich in diesem Augenblick einen Wagen gesehen, der die Fürstin Sorokina und ihre Tochter abholen sollte. Wie sieht denn der Kutscher aus?«

Während sie noch mit dem Gepäckträger sprach, trat der rotbackige, lustige Kutscher Michail in seiner dunkelblauen, vornehmen[267] Jacke mit der Uhrkette an sie heran und übergab ihr einen Brief, offenbar stolz darauf, ihren Auftrag so gut ausgeführt zu haben. Sie öffnete den Brief, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, noch ehe sie ihn gelesen hatte.

»Es tut mir sehr leid, daß der Brief mich nicht mehr in Moskau erreicht hat. Ich werde um zehn Uhr zu Hause sein«, schrieb Wronski mit flüchtiger Schrift.

»Nun ja! Das hatte ich erwartet!« sagte sie zu sich selbst mit einem bösen Lächeln.

»Es ist gut. Fahr nur nach Hause«, sagte sie mit leiser Stimme zu Michail. Sie sprach leise, weil das schnelle Klopfen des Herzens sie am Atmen hinderte. ›Nein, ich werde mich nicht von dir quälen lassen‹, dachte sie, wandte sich aber mit diesen drohenden Worten nicht an Wronski, auch nicht an sich selbst, sondern an den, der ihr beschieden hatte, sich zu quälen, und ging auf dem Bahnsteig am Stationsgebäude entlang.

Zwei Dienstmädchen, die auf dem Bahnsteig auf und ab gingen, drehten die Köpfe nach ihr um, betrachteten sie und machten laute Bemerkungen über ihre Kleidung. »Die sind echt«, sagten sie über die Spitzen, die Anna trug. Jene jungen Männer ließen sie auch hier nicht in Ruhe; sie gingen wieder an ihr vorüber, sahen ihr ins Gesicht und schwatzten unter Lachen in gekünstelter Sprache. Der Bahnhofsvorsteher fragte sie im Vorbeigehen, ob sie mitfahren wolle. Ein Knabe, der Kwaß verkaufte, verwandte kein Auge von ihr. ›Mein Gott, wo soll ich hin?‹ dachte sie, während sie auf dem Bahnsteig immer weiter und weiter ging. An seinem Ende blieb sie stehen. Ein paar Damen und Kinder, die einen Herrn mit Brille abgeholt hatten und dort laut lachten und sprachen, sahen sie, als sie in ihre Nähe gekommen war, neugierig an und verstummten. Mit beschleunigtem Schritt ging sie von ihnen weg an den vorderen Rand des Bahnsteigs. Ein Güterzug kam heran. Die Bohlen des Bahnsteigs zitterten, und sie hatte die Empfindung, als fahre sie wieder.

Auf einmal kam ihr der Mann ins Gedächtnis, der an dem Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski überfahren worden war, und nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen, leichten Schritten stieg sie die Stufen hinab, die von der Wasserstelle zu den Schienen führten, und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Zuge stehen. Sie blickte nach dem unteren Teile der Wagen, nach den Schrauben, den Ketten und den hohen, gußeisernen Rädern des langsam dahinrollenden ersten Wagens und suchte nach dem Augenmaß die Sekunde abzupassen, wo der Zwischenraum zwischen den Vorder- und den Hinterrädern gerade vor ihr sein werde.[268]

›Dorthin!‹ sagte sie zu sich selbst, indem sie in den Schatten blickte, den der Wagen warf, und ihre Augen auf den mit Kohlen vermischten Sand richtete, mit dem die Schwellen bedeckt waren. ›Dorthin, gerade in den Zwischenraum; so werde ich ihn bestrafen und mich von allen und von mir selbst befreien.‹

Sie wollte sich unter den ersten Wagen werfen, dessen Mitte in diesem Augenblick gerade an ihr vorüberkam; aber die rote Reisetasche, die sie vom Arm nehmen wollte, hielt sie auf, und es war schon zu spät: der Zwischenraum zwischen den Rädern war bereits an ihr vorüber. Sie mußte auf den folgenden Wagen warten. Es überkam sie ein ähnliches Gefühl, wie wenn sie sich beim Baden anschickte, ins Wasser hineinzugehen, und sie bekreuzte sich. Die gewohnte Bewegung bei der Ausführung des Kreuzzeichens rief in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus ihrer Mädchen- und Kinderzeit wach, und plötzlich zerriß die Finsternis, die ihr bisher alles verborgen hatte, und ihr vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit allen seinen hellschimmernden Freuden vor ihrem geistigen Blicke. Aber sie wandte die Augen nicht von den Rädern des herankommenden zweiten Wagens. Und genau in dem Augenblick, wo der Raum zwischen den Rädern ihr gegenüber war, warf sie die rote Reisetasche von sich, drückte den Kopf zwischen die Schultern, ließ sich unter den Wagen auf die Hände fallen und kniete mit einer leichten Bewegung, als ob sie vorhätte, sogleich wieder aufzustehen, nieder. Aber im gleichen Augenblick erschrak sie über das, was sie tat. ›Wo bin ich? Was tue ich? Weshalb?‹ Sie wollte sich erheben, sich zurückwerfen; aber etwas Gewaltiges, Unerbittliches stieß gegen ihren Kopf und schleppte sie am Rücken mit fort. »Herrgott, vergib mir alles!« murmelte sie, da sie fühlte, daß ein Widerstand unmöglich sei. Das Männchen wirtschaftete mit dem Eisenwerk herum und redete dabei etwas vor sich hin. Und die Kerze, bei der sie das von soviel Sorgen, Betrug, Kummer und Schlechtigkeit erfüllte Buch des Lebens gelesen hatte, leuchtete in hellerem Scheine auf als je, erhellte ihr alles, was bisher für sie in Finsternis verborgen gewesen war, knisterte, wurde dunkel und erlosch für immer.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 264-269.
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