Kindertheater

Geschrieben für Franz Werfel


Wie war das doch? –

Schon der Nachmittag war unruhig und bewegt – Theater! Und wir gingen von zu Hause fort, durch die noch hellen Straßen, blind für alles Licht, vorwärtsstrebend, stumm. Das große Gebäude, die Kasse, die vielen Menschen, – drängte sich nicht ein Mädchen mit blauschimmernden Flügeln am Rücken durch sie alle? – die Garderobe – das wurde ungeduldig und schnell, hastig erledigt.

Wir traten in den riesigen Raum voll Lichtern, heißer Luft und summenden Gesprächen. Wir kamen stets spät; der Saal verdunkelte sich, und unten im Orchester klopfte ein Stäbchen aus Holz. Und Töne, die bis dahin gebrummt und quinkiliert hatten, verstummten, und der Strich von zwanzig Geigen setzte ein. O süßer Moment, wenn die Ouvertüre beginnt, im Halbdunkel der wenigen Lämpchen schwimmen Gesichter, helle Schöße der Frauen, oben bauscht sich der Vorhang ein wenig . . . Musik! Die Musik spielte – und die Backen wurden heiß und die Hände, Musik, immer noch Musik, und jetzt erhob sich der Vorhang.

Das Stück begann.

Und für uns war es immer dasselbe: mochte es der Wallenstein sein, oder die gute Fee Roswitha, oder Zwerg-Nase, oder Tell – immer war da eine junge Schauspielerin, – vielleicht immer eine andere, – die in die schlanken Hosenbeine eines Jungenanzugs gesteckt, ihr Geschlecht auf ebenso reizende wie unvollkommene Art verleugnete . . .

Wie tat sie das! – Gleich in der zweiten Szene lief sie durch die Mitteltür, die Bühne durchkreuzend, zum Vordergrund, verbeugte sich[79] schelmisch und sagte in einem hohen Alt zur Heldin des Stückes eine zwitschernde Ungezogenheit – und Frohsinn und Übermut – hieß sie nicht auch so? Prinz Übermut? – war auf der Bühne. Sie tollte herum, teilte Klapse aus, puffte, schnitt Gesichter, drehte sie nicht der ehrwürdigen Königin Mama hinter ihrem Rücken eine lange Nase? Und als die kleine Häußler, ein begabtes Kind von acht Jahren, mit der Stimme einer Fünfjährigen ein Gedicht aufzusagen begann, und ein Rauschen der Bewunderung durch das entzückte dunkle Haus ging, da vermochte sie es, als die einzige, dieser kleinen, uns affig erscheinenden Person keine Beachtung zu schenken, sondern sie heftete während der ganzen Zeit – selige fünf Minuten! – ihre dunkelbraunen Augen nachdenklich auf den zitternden Kopfputz der Königin. Und wir vermißten sie schmerzlich, als die Bühne sich mit den Figuren des Balletts füllte, mit jungen, nicht allzu hübschen Mädchen, die an diesem Abend die Aufgabe hatten, die Geräte einer Küche etwa, vielerlei Arten von Gemüsen oder die weißbemützten Lehrlinge eines Kochs darzustellen . . . Und wenn wir auch lachen mußten, als der berühmte kleine Franzose, Herr Petit Petit, sich über die Bühne kugelte und sich dem begeisterten Publikum als ein nettes, hübsch gewachsenes Kerlchen präsentierte, so vermißten wir doch sie, und immer nur sie, und Helle und Heiterkeit und freudige Erregung war erst wieder um uns, als ein Jemand durch die Seitenkulisse in die dunkle, blaugrüne Waldszene marschierte und mit halblauter Stimme vor sich hinsagte:

»Hat da jemand geweint? Hat da jemand gelacht?

Ist es am Tag, oder ist es Nacht?

Bin ich im Wald oder bin ich an der See?

Bin ich ein Waldvögelein oder bin ich eine Fee?«

So ging sie und war ein Prinz und doch bettelarm, trug sich in Lumpen und hatte kein Bettchen, darin sie schlafen konnte, weil ein mächtiger Zauberer es so wollte.

Aber das eigentümlichste und reizvollste war doch, daß hinter diesem verkleideten Prinzen oder dem drolligen Straßenjungen die bürgerliche Existenz der jungen Schauspielerin nie völlig verschwand. Was war es doch für ein Wesen, das da oben in Glanz und Licht und fröhlichem Lärm uns beglückte? – Es war im Grunde doch das Fräulein Macdonald, eine junge Dame, die einen schlanken Körper und gepuderte Hände besaß, einige matt blitzende Ringe, ein ausgelassenes Knabenlachen und unsere ganze Sehnsucht. Wenn ihre braunen Augen fröhlich glänzten, wurden wir unten, im halbdunklen Parkett, fröhlich und traurig zugleich. Würden wir sie jemals anders wiedersehen, als hier im Theater, in einem albernen, aber ach! so reizenden Kostüm? – Besaß nicht vielmehr sie, Ly Macdonald, in der Stadt irgendwo in einer blumigen, schnurgeraden Straße eine kleine, dreizimmerige Wohnung, die zu betreten unser ganzes Glück ausgemacht hätte? – Einmal[80] bei ihr zu sitzen und zu sagen: Ly! und leise diese kleine, gepuderte Knabenhand zu streicheln . . . War sie nicht die allererste? – Mochten die andern da oben sich noch so blähen, mochte die Königin des Stückes noch so verführerisch gleißen. Blicke wie Pfeile versenden, mochten sich. alle um sie scharen, nur um ihr zu dienen, – die da in einer Ecke gleichmütig mit einem Statisten plaudert – Ly! Ly! Macdonald! – Der Jungenanzug saß auf ihr, als sei sie darin aufgewachsen. Wir mochten sie uns nicht in Kleidern vorstellen, und wie tollte sie herum! – Sie antwortete der gütigen Fee so keck, daß diese machtvolle Dame alles aufbieten mußte, um ihre Autorität zu wahren, sie zupfte ältere Herren, wie beispielsweise den Weihnachtsmann, auf das übermütigste am Bart – und sie war die einzige, die unverheiratet aus dem Stück hervorging! –

Wie liebten wir sie! – Wie war sie anders als alle die Mädchen. die wir kannten und nicht verstanden, schon um ihrer Kleidung willen nicht verstanden. Was war das für eine Manier, Kleider zu tragen, die auf rätselhafte Weise geöffnet und geschlossen wurden? – Nicht zu sprechen von den geheimnisvollen Mechanismen, die diese Wesen an sich hatten, und deren Unkenntnis von unserer Seite stets ein beschämendes Gelächter bei ihnen weckte! – Diese hier liebten wir, den kleinen Kameraden, – trug sie nicht dieselben Dinge wie wir am Körper –? Aber sie tat es wohl nicht immer, jedenfalls nur hier, nur abends. Wie süß, wie unheimlich das war! – Jetzt, in der Pause, stand sie bestimmt in ihrer Garderobe und dachte an ganz andere Dinge, Ereignisse, die wir nicht einmal zu ahnen vermochten, und die mit der Fee Anastasia nicht das geringste zu tun hatten! – Bestimmt war einer da, der zu ihr du sagen durfte und den sie küßte. Aber hier machten unsere Gedanken halt . . . Von ihrem Körper wußten wir nicht zuviel und wollten wir nichts wissen – und nur zagend tauchte im Wirbel der bunten Ereignisse wohl einmal der Gedanke auf; wenn diese Kleider sich öffneten! . . . Immer wieder mußten wir an den verwirrenden Zwiespalt denken, einer ist ein Junge und ein Mädchen, gehört zu uns und nicht zu uns! –

Nie, nie würden wir dieses Zauberding voll erfassen können! –

Und wenn dann zum Schluß sich die Bühne mit allen füllte, die in dem Stück vorgekommen waren, – in der Mitte stand der brennende Weihnachtsbaum, und der Weihnachtsmann war da, und der liebe Gott, und die Fee, und der König, und die Königin und alle, alle, dann sahen wir in dem beunruhigenden Lichtermeer und den schwankenden Farben und dem Leuchten der Glaskugeln nur dieses rosige, leicht gepuderte Gesicht, das auch im Lächeln etwas Trauriges hatte . . . Bis der Vorhang fiel . . .

Und noch drei volle Tage nach der Vorstellung begaben wir uns häufig, voll von Abneigung gegen die sparende Mutter und gegen den[81] ruhigen, ordentlichen Vater und gegen diese ganze gräßliche Regelmäßigkeit des Hauses, ohne innere Veranlassung in einen abgeschlossenen Raum, um daselbst ein wenig zu weinen . . .


  • · Kurt Tucholsky
    Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, hg. V. Max Brod, Kurt Wolff Verlag 1913, S. 201.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 79-82.
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